Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1734 - Johann Georg Gmelin
Tobolsk - Stadt der Kühe, der Faulenzer und des Vergnügens

 

Ehe ich zu unserer Abreise komme, will ich noch etwas von der Stadt Tobolsk und ihren Einwohnern melden. Dieselbe liegt unter der Breite von 58 Grad 12 Minuten an dem lrtyschstrome und ist die Hauptstadt von ganz Sibirien. Sie ist in die obere und untere Stadt geteilt. Die obere Stadt liegt auf dem hohen östlichen Ufer des Irtyschflusses und die untere auf dem Felde, welches zwischen dem hohen Ufer und dem Irtysch ist. Diese beiden Städte zusammen haben einen sehr großen Bezirk, die Häuser aber sind alle von Holz. In der oberen Stadt, welche die eigentliche Stadt heißt, ist die Festung, welche beinahe viereckig und von dem ehemaligen Statthalter Gagarin aus Steinen erbaut worden ist. In derselben ist ein Kaufhaus, welches sowohl als die Regierungskanzlei und der Erzbischöfliche Palast ebenfalls aus Steinen aufgeführt ist. Nahe bei der Festung ist des Statthalters Haus. Der jetzige, welcher schon in das vierte Jahr hier ist, heißt Alexei Pleschtscheew.
   Außer obengemeldetem Kaufhause ist in der Stadt noch ein Markt für Eßwaren und allerhand Kleinigkeiten. Um diese ganze obere Stadt auf der östlichen Seite, die landeinwärts ist, läßt der jetzige Statthalter einen Erdwall aufführen, welcher auch diesen Sommer zustande kommen soll, indem nicht viel mehr daran zu bauen übrig ist.
   Die untere Stadt hat ihren eigenen Markt und dabei einige Kramläden, worin man allerhand Kleinigkeiten zu kaufen haben kann. Wenn man aber sowohl hier als in dem Kaufhause der oberen Stadt etwas kaufen will, so muß man im Winter des Morgens, sobald als der Tag anbricht, bis 11 Uhr, im Sommer von des Morgens um 5 Uhr bis 11 Uhr, des Nachmittags aber zur Winterszeit von 2 bis 4 Uhr und des Sommers von 4 bis 8 Uhr kommen. Außer diesen Stunden trifft man nichts an. Während denselben aber ist das Gedränge von Leuten so groß, daß man nicht anders als mit vieler Mühe durchkommen kann, weil der Weg von der untern nach der obern Stadt, besonders des Sommers, gemeiniglich über diesen Markt genommen wird. Die meisten Eßwaren, sowohl die in der unteren als der oberen Stadt nötig sind, werden hier eingekauft, und alle Trendelkramereien muß man hier suchen.
   Die Geistlichkeit scheint hier noch nicht nach der in den russischen Städten üblichen Art eingepfarrt zu haben; denn in der Festung sind nur zwei steinerne Hauptkirchen und außerhalb derselben drei hölzerne Kirchen und ein Kloster, Roschdestwenskoi Monastir. Die untere Stadt hat nicht mehr als sieben Kirchspiele und ein steinernes Kloster mit dem Beinamen Snamenskoi.
   Was endlich die Bequemlichkeit einer jeden Stadt insbesondere betrifft, so hat die obere diesen Vorteil, daß sie keinen Überschwemmungen unterworfen ist; dagegen liegt eine große Beschwerlichkeit darin, daß alles Wasser, was man oben nötig hat, von unten den Berg herauf geholt werden muß. Der einzige Erzbischof hat mit großen Kosten einen Brunnen von 30 Klaftern graben lassen, welcher aber niemand außer seinem Palast zustatten kommt. Eine andere große Ungemächlichkeit ist, daß von der Seite des Berges gegen den Irtysch meistens alle Jahre große Stücke abfallen, wodurch die Einwohner öfters genötigt werden, die nahe an dem Ufer stehenden Häuser abzubrechen und anderswohin zu setzen. Ich vermute nicht, daß jemand ein Haus hart an dem steilen Ufer bauen wird, und doch habe ich gesehen, daß einige Balken von der Grundlage eines Hauses, das damals daselbst stand, schon über das Ufer hervorragten. Ja, man hat mich versichern wollen, als wenn ehemals das Kaufhaus nahe bei dem Ufer gewesen wäre und wegen Einfallung des Ufers hätte abgebrochen werden müssen. Der ehemalige Statthalter Fürst Gagarin hatte dieses Übel genug eingesehen und dafür gehalten, daß solches eigentlich daher rührte, daß die Mündung des Tobolflusses, wovon die Stadt den Namen führt, sich gerade gegen die Festung ergösse. Er ließ daher auch durch die damals gefangenen Schweden eine andere Mündung weiter hinauf durch einen dazu gegrabenen Kanal machen, welches auch vieles geholfen. Doch hat die Erfahrung nach der Hand gelehrt, daß dieses Mittel noch nicht zureichend sei.
   Ich glaube, daß man noch eine Ursache in dem leimichten Erdreiche, woraus das Ufer besteht, suchen müsse. Das Ufer fällt nur zur Frühlingszeit ein, und eben dieses ist die Zeit, da der Irtysch aufschwellt. Ich vermute also, daß die Gewalt des Wassers das Ufer unten aushöhlte und den Leim, daraus es besteht, wegführe, wodurch notwendig der Fall des darauf stehenden Leims zuwege gebracht werden muß. Daß diese Ursache ziemlich wahrscheinlich sei, kann man leicht erkennen, wenn man von der oberen Stadt längs der Ufer gegen Norden geht. Man wird daselbst nicht nur verschiedene Durchbrüche finden, die das Regenwasser nach und nach gemacht hat und die von dem Irtysch wohl über eine halbe Werst [1 Werst = 1,07 km] ostwärts in das Land gehen, sondern man wird auch viele kleine Seen nicht weit voneinander antreffen, die bloß von dem Regenwasser, welches das Erdreich ausgehöhlt hat, entstanden sind. Wenn nun das Regenwasser in diesem Erdreiche eine so große Wirkung tut, sollte denn nicht die Gewalt des Flusses eine gleiche oder eine größere haben? Man könnte daher vielleicht dem künftigen Übel durch Einrammlung von Pfählen unten an dem Ufer und durch Anpflanzung von Weiden und dergleichen auf der ganzen Fläche des Ufers, die gegen den Fluß ist, glücklich zuvorkommen.
   Die untere Stadt hat den Vorteil, daß sie das Wasser in der Nähe hat, dabei aber ist sie den Überschwemmungen sehr unterworfen; jedoch erfährt sie dieselben nicht alle Jahre. Denn obwohl der Irtysch alle Frühjahre anwächst, so leidet die Stadt doch nicht allezeit davon Not. Die Einwohner geben es für eine allgemeine Wahrheit aus, daß alle zehn Jahre eine solche Überschwemmung geschähe, welche die ganze Stadt unter Wasser setze. Das vorige Jahr hatte man das Exempel, daß nicht nur die Stadt, sondern auch die ganze niedrige Gegend um den Tobolfluß bis Tjumen unter Wasser war gesetzt worden. Vor elf Jahren soll es ebenso gewesen sein, und einige, welche die Erzählungen ihrer Voreltern bis auf diese Zeiten verwahret zu haben vorgeben, sagen, wie ich schon gemeldet habe, daß sich weiter zurück auch alle zehn Jahre dergleichen ereignet hätte.
   Ich weiß aber nicht, ob man diesen Nachrichten völligen Glauben zustellen könne. Denn wie es mir in dem Winter erzählt ward, so wurde dabei gesagt, daß eine solche Überschwemmung alle zehn Jahre zwei Jahre nacheinander geschähe und daß man folglich dieses Jahr noch unfehlbar eine Überschwemmung haben würde. Die Prophezeiung ist nicht eingetroffen, und daher vermute ich, daß die Beobachtung sich nicht weiter als auf zehn Jahre erstrecke, da man ohnedem Sibirien nicht als ein Land anzusehen hat, allwo, und besonders in den Städten, beständige Leute wohnen.
   Die beiden Städte haben untereinander durch drei verschiedene Wege eine Gemeinschaft. Der erste gegen den Fluß ist der steilste. Er geht gerade nach der Festung und ist von dem ehemaligen Statthalter Gagarin angelegt worden. Man bedient sich desselben meistens im Sommer und im Frühling, weil er gebrückt ist. Hierbei merke ich an, daß dieser gebrückte Weg unten in der Stadt bis an das Snamenskoikloster und oben bis an das andere Ende der Stadt, nämlich bis an den Erdwall, in einem fortläuft.
   Es ist eine große Beschwerlichkeit in Tobolsk, an einem anderen Orte als an dem gebrückten Wege zu wohnen. Denn da das Erdreich durchaus leimich ist, so entsteht daher in dem Frühling ein solcher Kot, daß man kaum durchkommen kann; ja, es soll auch im Sommer niemals recht trocken werden, außer in der oberen Stadt, da die Hitze der Sonne eine größere Wirkung hat. Der andere oder mittlere Weg wird weder des Winters noch des Sommers viel gebraucht, weil er ziemlich steil und nicht gebrückt ist. Der dritte ist derjenige, dessen man sich des Winters am meisten, des Frühlings gar nicht, des Sommers aber nur zuweilen bedient. Er ist nach und nach abhängig und folglich bei weitem nicht so steil wie die anderen. Ob er gleich nicht gebrückt ist, so geht doch von seinem unteren Ende eine gebrückte Straße bis an die obgedachte Brücke und vereinigt sich mit derselben bei dem Markt oder an dem untern Ende des ersten Weges.
   Wenn ich nach Art der deutschen Städte der Stadt Tobolsk ein Wahrzeichen geben sollte, so müßte es meines Erachtens eine Kuh sein. Ich habe noch keinen Ort gesehen, wo mehr Kühe in den Straßen herumlaufen als hier. Sogar des Winters, wo man geht und steht, sieht man Kühe, jedoch im Frühjahr und Sommer noch mehr. Von den Katzen habe ich noch dieses als was Besonderes angemerkt, daß sie hier meistens rot sind.
   Der Hauptfluß, der an Tobolsk vorbeifließt, ist der Irtysch. Sein eigentlicher Ursprung ist sehr weit in der Kalmuckey. Nachdem er schon vieles Land durchflossen, geht er noch in der Kalmuckey durch einen auf kalmuckisch Nurr-Saissan genannten See, von wannen er bis Tobolsk in einem Erdstriche von ungefähr 2000 Werst noch verschiedene große und kleine Flüsse, unter welchen der Ischim und der Tobol die vornehmsten sind, zu sich nimmt und endlich 400 Werst unterhalb Tobolsk bei Samarowo Jam sich in den Ob ergießt. Der Tobolfluß hat seine Mündung, wie schon gemeldet, etwas oberhalb der Stadt auf dem westlichen Ufer,
   Das Wasser des Irtysch ist allezeit trübe und leimich. Die Reisebeschreiber melden, daß das Wasser des Tobolflusses viel klarer und reiner sei und wohl eine Meile weit unterhalb seiner Mündung von dem Irtyschwasser könne unterschieden werden. Ich habe dieses nicht wahrnehmen können. Um davon eine größere Gewißheit zu erlangen, ließ ich mir Wasser aus dem Tobol holen. Es war, wo nicht ebenso, doch beinahe so trübe als das Wasser in dem Irtysch und hat auch eine gleiche Schwere. Ob es sich, wenn etwa lange Zeit stilles Wetter anhält, anders befinde, kann ich nicht sagen. Darin aber irren sich die Reisebeschreiber unstreitig, daß sie dem Irtysch einen sehr schnellen Lauf zuschreiben. Ohne des Eises zu gedenken, welches bei dem Aufgehen des Flusses sehr langsam treibt, haben wir durch die Leine gefunden, daß der Fluß binnen einer Stunde nicht mehr als eine Werst in seinem Lauf vollende. Außer diesen Flüssen gehen noch durch die untere Stadt einige kleine Bäche, als Kurdjamka, Monastirska, Katschaloka, Pilgrimka und Soljanka, in den Irtysch.
   Die Stadt Tobolsk hat sehr viele Einwohner, davon fast der vierte Teil Tataren sind. Die übrigen sind Russen, meistens aber solche, die entweder selbst wegen ihrer Verbrechen hierher verschickt sind, oder welche von Vorfahren, die aus gleicher Ursache hierher geschickt wurden, abstammen.
   Gleichwie alles hier spottwohlfeil ist, so daß ein gemeiner Mann des Jahres von 10 Rubel gar wohl leben kann, also herrscht hier das Laster der Faulheit in dem allerhöchsten Grade. Ohnerachtet es hier allerhand Handwerker gibt, welche fast alles zu machen im Stande sind, was man nur verlangen kann, so hält es doch damit so schwer, daß man sich sehr glücklich zu schätzen hat, wenn man etwas gearbeitet bekommt. Und dies geschieht selten, ohne daß man Gewalt gebraucht, und die Leute unter Wache arbeiten läßt. Wenn sie etwas verdienen, so muß dasselbe vorher versoffen sein, ehe man wieder etwas von ihnen bekommen kann. Der wohlfeile Preis des Brotes ist an allem Schuld. Denn gleich wie diese Leute zufrieden sind, wann sie nur nicht Hungers sterben, also bekümmern sie sich m den morgenden Tag im geringsten nicht, und suchen also nicht einen Copeken zu ersparen, dessen sie sich, falls sie auf das Krankenbette oder sonst in Not kommen sollten, bedienen könnten. Wann sie nichts mehr haben, so arbeiten sie wieder ein paar Stunden, und dafür können sie wieder eine ganze Woche faulenzen.
   Unter dem hiesigen Statthalter steht der Irkutskische Unterstatthalter mit allen sibirischen Woiwoden, doch so, daß er keinen dazu machen kann, sondern sie annehmen muß, wie sie von der Sibirischen Kanzlei (Prikas), welche ihren Sitz in Moskau hat, ihm zugeschickt werden. Er bezieht so wie der hiesige Unterstatthalter und die übrigen Kanzleibedienten eine Besoldung von Ihro Kaiserlichen Majestät, welches bisher nicht gebräuchlich gewesen, auch in Ansehung der Statthalter anderer Provinzen und der sibirischen Woiwoden bis jetzt nicht gebräuchlich ist. Es sind hier zwei Sekretäre bei der Regierungskanzlei, welche, ungeachtet die Statthalter abgewechselt werden, doch beständig bleiben. Sie sind deswegen in einer solchen Hochachtung, daß sich Große und Kleine vor ihnen bücken. Ja, es scheint, daß ein Wink von ihnen mehr vermöge als zehn mündliche Befehle des Statthalters. Sogar die vornehmsten Offiziere der Besatzung müssen sich nach ihren Befehlen richten, wie sie denn über die ganze Stadt ein fast uneingeschränktes Regiment führen.
   Der Statthalter feiert alle Hof-Festtage. Er läßt an solchen Tagen zuvörderst alle, die in Ihro Majestät Diensten stehen, und hiernächst alle Kaufleute der Stadt einladen. Alles, was von der nach Kamtschatka reisenden Gesellschaft hier war, wurde allezeit mit dazugebeten. Sie wurden mit dem Erzbischofe, dem Archimandriten und einigen niedrigen Geistlichen und mit den Offizieren der tobolskischen Besatzung an eine Tafel gezogen. Die Speisen waren nach der gewöhnlichen russischen Art gut zugerichtet, und das Getränk war allezeit köstlich. Man hatte Rhein- und Muscatellerwein, welche nicht sparsam, sondern sehr reichlich gegeben wurden. Nach dem Essen (außer in der Fastenzeit) wurde allezeit getanzt, welches gemeiniglich bis um 7 oder 8 Uhr des Abends währte. Wer Tabak rauchen oder auf dem Brett spielen wollte, konnte es auch tun. Dergleichen Gastmahle waren sehr viele während unserem Aufenthalt in Tobolsk; denn es blieb nicht bei den Hof-Festtagen, sondern alle Namens- oder Geburtstage der Familie wurden gefeiert. Und da die Familie des Statthalters groß ist, fehlte es nimmer an Gelegenheit dazu. Ebenso ließen auch der Unterstatthalter und die Sekretäre dergleichen Tage in ihren Familien nicht vorbeigehen, daß man also in Tobolsk beständig was zu tun hatte. Und wer in den Bechern sein Vergnügen suchet, der findet es hier besser als sonst in einem Orte der Welt.
   Ob es gleich scheinen möchte, daß dergleichen Gastmahle ungemeine Kosten erforderten, so sind dieselben doch nicht sonderlich groß. Denn es geht kein Kaufmann von der Mahlzeit weg, ohne seinen halben oder ganzen Rubel zurückzulassen, und einer sucht es dem andern hierin zuvorzutun. Die Kaufmannschaft ist groß, und also können sie das Gastmahl leicht bezahlen, besonders, wenn keine kamtschatkische Reisegesellschaft in Tobolsk ist, welche innerhalb 2 Monaten so viel Wein trinkt, als hundert Kaufleute in zwei Jahren nicht tun würden. Denn wenn sie schon mehr trinken wollten, so bekommen sie doch meistenteils nur Met für Wein und müssen sich an der Ehre, in ein vornehmes Haus geladen zu sein, begnügen.
   Die Tataren, welche hier wohnen, stammen teils von den vor der Eroberung Sibiriens eingesessenen, teils von bucharischen Tataren her, welche nach und nach auf Erlaubnis der damaligen Großfürsten nicht ohne besondere Freiheiten sich hier häuslich niedergelassen haben. Sie halten sich überhaupt still und leben von dem Handel. Handwerker sind unter ihnen nicht. Das Laster der Völlerei wird bei ihnen für etwas sehr schändliches gehalten. Derjenige ist schon unter seinen Mitbrüdern verschrien, welcher Branntwein trinkt. Ich hatte keine Gelegenheit, von ihren Zeremonien etwas zu sehen. Überhaupt bekennen sie sich zu der mohammedanischen Religion und können kraft derselben so viele Weiber nehmen, als sie erhalten können. Sie sollen aber doch die Zahl auf vier einschränken. Und weil sie unter lauter Christen wohnen, so nehmen sie selten mehr als eine. Herr Professor Müller hat einigen Beschneidungen unter ihnen beigewohnt, durch welchen vermeinten Gnadenbund sie dem muselmanischen Gesetze einverleibt werden. […]
   Bei dieser Zeremonie, welche gar nicht als ein heiliges Werk, sondern als eine gemeine Sache und Spiel verrichtet wird, pflegen bei wohlbemittelten Eltern oder Anverwandten auch diejenige Lustbarkeiten angestellt zu werden, die bei einer tatarischen Hochzeit mit Pferderennen im Gebrauche sind. Fressen und Saufen aber währet bei allen und jeden etliche Tage nacheinander. Daher auch die Russen und die Tataren, welche die Zeremonie auf russisch beschreiben wollen, sie mit dem Worte Swadba (russisch: eine Hochzeit) benennen. Und da einige Zeit nach dieser eine andere Zeremonie bei den Tataren vorgeht, wenn sie sich den Kopf scheren lassen, und da sie wieder die bei den Hochzeiten gewöhnlichen Lustbarkeiten anstellen, so sagen sie, daß bei ihnen und bei einem jeden, der ein rechter Muselmann werden will, zwei Hochzeiten vor der eigentlichen vorhergehen müssen. Ihr Ehrengetränk, mit welchem sie sich an dergleichen und anderen Ehrentagen bewirten, besteht aus Tee. Der köstliche Trank ist ihrer Meinung nach Kirpitschnoitscha (Ist ein russisches Wort und heißt Backsteintee, weil der Tee in Form von Backsteinen zusammengepreßt ist) oder Theeboe, welchen sie in einem großen Kessel über dem Feuer kochen und Milch und Butter daruntermengen. Dieses trinken sie mit großer Begierde. Füllenfleisch ist unter ihnen die leckerhafteste Speise.
   Bei dem Auf- und Untergang der Sonne, ebenso wenn sie essen, verrichten sie allezeit ihre Andacht zu Gott. Ich fragte einmal einen, welcher nach dem Essen betete, was eine gewisse Gebärde bedeuten solle, welche jedesmal am Ende des Gebetes von ihnen gemacht wird, daß sie mit der Hand über den Mund fahren. Er antwortete mir geschwinde mit einer anderen Frage, warum ich bei dem Essen die Hände faltete.
   Die Tataren verändern nicht leicht ihre Religion; jedoch sind einige derselben getauft worden. Diese sind unter ihrer Nation sehr verhaßt, und es wird ihnen von denen, die sich Rechtgläubige nennen, vorgeworfen, daß sie es entweder aus Lust zu saufen oder, um sich von einer Knechtschaft loszumachen, täten. Die letztere Ursache mag wohl die vorrangige sein. Die Tataren haben sie schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts eingesehen und sich deswegen beschwert. Der damals regierende Zar hat zwar darauf verordnet, daß man künftig aus solcher Ursache ferner keine Tataren, sondern nur diejenigen, welche nach wohl geschehener Prüfung innerlich von der Wahrheit der christlichen Religion überzeugt sein würden, annehmen sollte. Es wird aber, wie die Tataren sagen, hierüber nicht so steif gehalten.
   
Gmelin, Johann Georg
Reise durch Sibirien; 1. Theil 1733-35
In: Sammlung neuer und merkwürdiger Reisen; 4. Theil
Göttingen 1751

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