2009 - Karsten Piepjohn
Als Geologe in der Arktis
Spitzbergen
Man kann es sich eigentlich kaum noch vorstellen, aber auch in unserer heutigen hochtechnisierten Zeit gibt es immer noch Bereiche auf unserem Planeten, die nach wie vor sehr wenig erforscht sind. Neben der Tiefsee der Weltmeere und den großen Wüsten sind das vor allem die Polargebiete. Bei der heutigen Möglichkeit, für relativ wenig Geld mit dem Flugzeug riesige Entfernungen zurücklegen zu können, geht das Gefühl für Entfernungen schnell verloren. Erst wenn man sich auf den Weg in die Antarktis oder Arktis macht, muss man feststellen, wie weit die Küsten des Polarmeeres oft von der nächsten Zivilisation entfernt sind und wie viel Zeit und logistischen Aufwand man benötigt, um beispielsweise ein für zwei Monate funktionierendes Geologencamp an der Nordspitze Nordamerikas einzurichten: Das Camp „Taconite Inlet“ im Sommer 2008 beispielsweise lag 950 km vom nächsten Flugplatz entfernt – 150 km weiter als der Nordpol! Und für die Expedition mussten neben 180 Fässern Treibstoff für den Hubschrauber Tonnen an Lebensmitteln, Ausrüstung und Zelten mit Kleinflugzeugen herangeflogen werden. Ein Aufwand, der vergleichsweise noch relativ gering ist, wenn man bedenkt, was für die Ausrüstung eines Forschungsschiffs wie der Polarstern für eine Forschungsfahrt zum Nordpol nötig ist.
Die Unzugänglichkeit, die Entfernungen von den nördlichsten Vorposten jeglicher Infrastruktur und natürlich die klimatischen arktischen Verhältnisse mit Schnee, Eis und Polarnacht führen dazu, dass vergleichsweise wenig Wissenschaftler an der Erforschung der Arktis beteiligt sind (auch wenn ihre Zahl zunimmt), verglichen mit Generationen von Biologen oder Geologen, die in den letzten zwei Jahrhunderten etwa im Schwarzwald geforscht haben. Egal, ob es um die Gestalt des arktischen Meeresbodens, um die dort lebenden Tiere, um die klimatischen Bedingungen oder die Geologie geht: Immer noch handelt es sich bei der Arktis um ein »unter-«erforschtes Gebiet. So gibt es bis auf ein paar Stationen am Rande des Polarmeeres und vielleicht einer Driftstation auf dem Packeis in der Polarnacht in einem Gebiet fast doppelt so groß wie Australien niemanden, der zwischen Grönland und der Beringstraße im Winter Temperaturen, Niederschläge, Luftdruck oder Eisdicken messen könnte – also Messungen, die für das Verständnis zum Beispiel des Klimawandels von großer Bedeutung sind. Das gilt auch für die Geologie. Es gibt zwar schon sehr viele geologische Karten, aber die sind in den meisten unzugänglichen Küstenländern der Arktis noch sehr ungenau. Es gibt Kollegen, die der Meinung sind, dass die Rückseite des Mondes besser erforscht ist als die Arktis.
Wissenschaftlich stehen für die Geowissenschaftler Fragen zur Entstehung der Arktis im Vordergrund. Der arktische Ozean ist, geologisch gesehen, ein sehr junges Meeresbecken. Vor 60 Millionen Jahren hingen Europa und Nordamerika noch zusammen, der Nordatlantik und große Teile des Polarmeeres existierten noch nicht, und man hätte damals noch zu Fuß durch dichte Mischwälder von Europa nach New York laufen können. Wie in einem überdimensionalen Puzzle suchen die Geologen in Spitzbergen, Nordgrönland oder Nordkanada nach Gemeinsamkeiten oder Unterschieden in deren geologischer Entwicklungsgeschichte, um herauszufinden, wie sich die einzelnen Kontinentalschollen im Laufe der Erdgeschichte zueinander bewegt haben, wann sie kollidiert oder aneinander vorbei geglitten oder wann sie auseinandergebrochen sind. Dabei haben diese Interpretationen durchaus Bezug zur Gegenwart: Nur wenn man die Vergangenheit rekonstruieren kann, ist es eventuell möglich, Prognosen für die Zukunft zu erstellen, ob es sich nun um klimatische Fragen handelt oder um die Frage nach möglichen Rohstoffvorkommen. Die Bildung des Polarmeeres und des Nordatlantiks zum Beispiel war die Voraussetzung dafür, dass sich Wassermassen in Nord-Süd-Richtung austauschen konnten und dass der Golfstrom entstand, dem wir unser gemäßigtes und angenehmes Klima in Europa verdanken: Ohne die heutige Verteilung von Meer und Land am Nordpol gäbe es den Golfstrom nicht, und in Mitteleuropa wäre es vielleicht so ungemütlich wie heute im Süden von Grönland.
Am Beispiel Spitzbergens sollen die Ergebnisse der geologischen Forschung kurz erläutert werden: Die aktuelle geographische Lage von Spitzbergen am Rande des arktischen Ozeans und seine heutige Landschaft, Vegetation und Tierwelt sind das Ergebnis umfangreicher und tiefgreifender Veränderungen der Lage der Kontinente im Laufe der Erdgeschichte. Und auch wenn die Bewegungen der Kontinental- und Ozeanplatten der Erdkruste mit »Geschwindigkeiten« von wenigen Zentimetern pro Jahr unendlich langsam zu sein scheinen: Im Laufe der Jahrmillionen addieren sich diese Zentimeterbeträge zu Tausenden von Kilometern. Die Zeiträume, in denen sich diese Ultra-Zeitlupen-Bewegungen der Kontinente abspielen, sind so unvorstellbar lang, dass es Spitzbergen doch gelungen ist, innerhalb der letzten 600 Millionen Jahre 15.000 km aus dem Südpolargebiet über den Äquator in seine heutige Position in der Nähe des Nordpols zu driften – mit durchschnittlich 2,5 Zentimetern pro Jahr!
Vor etwa 600 Millionen Jahren lag Spitzbergen noch in der Polarregion der Südhalbkugel. Während dieser Zeit herrschte eine großflächige und lange Eiszeit, die Spuren auf vielen Kontinenten hinterlassen hat. In Spitzbergen wurden mächtige Moränen abgelagert, die aus dem Geschiebeschutt der urzeitlichen Gletscher bestehen, und die Landschaft sah dem heutigen Spitzbergen sehr ähnlich. Nach dieser großen Eiszeit zogen sich die kontinentalen Gletscher zurück, die Eiskappen der Pole verschwanden, und das Klima wurde weltweit viel wärmer. Spitzbergen driftete nach Norden, überschritt vor 430 Millionen Jahren den Äquator und lag damit in den Tropen. Massenhaft auftretende Fossilien belegen, dass Teile der Arktis damals von einem warmen Flachmeer mit einer vielfältigen Flora und Fauna bedeckt waren. Am Nordrand von Grönland reihten sich auf einer Länge von 800 km gewaltige Riffe aneinander, die dem heutigen Barriere-Riff an der Ostküste Australiens ähnelten.
Vor etwa 400 Millionen Jahren tauchte Spitzbergen aus dem Meer auf und wurde von ausgedehnten Wüsten bedeckt, wie man sie heute noch in der Sahara im findet. Wie heute hat es auch in den Wüsten Spitzbergens ab und zu geregnet: An einigen Stellen haben wir Abdrücke von Regentropfen in roten Tonsteinen gefunden – die Spuren eines Regenschauers, der vor 400 Millionen Jahren in der Wüste Spitzbergens niedergegangen ist!
Vor 340 Millionen Jahren erreichte Spitzbergen die nördlichen Tropen. Die Wüsten waren verschwunden, und statt dessen bedeckten riesige Urwälder Spitzbergen und die kanadische Arktis, die große Sümpfe bildeten, aus denen später reiche Steinkohlenlagerstätten entstanden. Die Fauna war noch sehr urtümlich und den heutigen modernen Pflanzen wenig ähnlich. Trotzdem glichen diese Urwälder den heutigen tropischen Regenwäldern.
Vor 330 Millionen Jahren änderten sich die Verhältnisse in Spitzbergen grundlegend: Die kontinentale Entwicklung wurde durch die Überflutung weiter Bereiche der heutigen Arktis durch ein subtropisches Flachmeer beendet. Zeugnisse dieses Meeres sind Kalksteine mit zahllosen Korallen und anderen Fossilien, die in nahezu identischer Ausbildung in weiten Bereichen der heutigen Arktis zu finden sind. Es ist schon ein besonderes Erlebnis, wenn man als Geologe direkt neben einem Gletscher versteinerte Korallen findet, die ganz unmittelbar beweisen, dass diese polare Landschaft Millionen Jahre vor der Existenz dieses benachbarten Gletschers von einem tropischen Flachmeer überflutet gewesen war, in dem das Leben pulsierte. Und Äonen war die Koralle im Gestein eingeschlossen, um ausgerechnet während einer Eiszeit wieder ans Tageslicht zu kommen - das nenne ich eine echte Zeitmaschine!
Vor 300 bis 145 Millionen Jahren durchquerte Spitzbergen bei seiner Nordwanderung den tropischen und den mediterranen Klimagürtel der Erde und gelangte allmählich in höhere und kühlere Breiten. Wärmeliebende Tiere wie Korallen waren schon längst vom Meeresboden verschwunden und von einer reichhaltigen Muschelfauna abgelöst worden. Das Meer wurde von frei schwimmenden Lebewesen wie Belemniten und Ammoniten (Verwandten der heutigen Tintenfische), aber auch Reptilien wie den mehrere Metern langen Ichthyosauriern und Plesiosauriern bevölkert.
Mit Beginn der Kreide änderten sich die Verhältnisse in Spitzbergen vor 145 Millionen Jahren erneut. Durch Landhebungen zog sich das Meer zurück, und Tiere und Pflanzen konnten das neu entstandene Festland besiedeln. Spitzbergen hatte mittlerweile schon eine recht hohe nördliche Breite eingenommen. Das Klima war relativ milde, und es muss ausgedehnte Wälder gegeben haben: Fußabdrücke von Iguanodon, einem aufrecht gehenden pflanzenfressenden Dinosaurier, weisen nach, dass genügend Pflanzennahrung vorhanden gewesen sein muss. In Spitzbergen wurden auch Überreste von Allosaurus, einem fleischfressenden Dinosaurier aus der Jurazeit, gefunden, der selbst wiederum genügend pflanzenfressende Saurier als Beute zum Überleben brauchte.
Als die Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren ausstarben, hatte Spitzbergen fast schon seine heutige geographische Position erreicht. Fossile Abdrücke von Blättern zeigen, dass Spitzbergen, Nordgrönland und weite Bereiche der kanadischen Arktis von dichten Wäldern bedeckt waren, die schon weitgehend den Wäldern glichen, die wir heute in Mitteleuropa kennen. Das zeigt, dass das Klima zu dieser Zeit viel wärmer gewesen sein muss, als es heute ist: Es gab (noch) keine polaren Eiskappen. Die arktischen Wälder kannten bereits Polartag und Polarnacht: Vier Monate lagen die Wälder im Winter in dauernder Finsternis, während umgekehrt im Sommer die Sonne vier Monate lang nicht unterging.
Mit dem Beginn des quartären Eiszeitalters schließt sich der Kreis: Seit etwa 2 Millionen Jahren herrschen in der Arktis Bedingungen wie vor 600 Millionen Jahren - nur diesmal auf der Nordhalbkugel: Wieder bestimmen Gletscher das Bild, und wieder entstehen typische Eiszeitablagerungen. Diese jungen Moränen enthalten Gesteine, die aus den Ablagerungen der ersten Eiszeit vor 600 Millionen Jahren bestehen.
Ob man es hinsichtlich der aktuellen Diskussionen über „global warming“ nun glauben mag oder nicht: Wir leben in unserer heutigen Zeit nach wie vor in einem Eiszeitalter. Wenn man sich den Ablauf der Erdgeschichte näher betrachtet, wird man überrascht feststellen, dass Eiszeitalter Ausnahmezustände in der klimatischen Entwicklung unserer Erde darstellen und nicht die Normalität. Sie unterbrechen lediglich alle 150 bis 250 Millionen Jahre die normalerweise herrschenden Warmzeitalter. Wie oben beschrieben, liegt die letzte, die permische Eiszeit, 280 Millionen Jahre zurück. Insgesamt umfassen die Eiszeitalter nur einen Zeitraum von etwa 20% der Erdgeschichte. Während 80% der Zeit war das Weltklima im Jahresdurchschnitt 5-10 °C wärmer als heute – diese Warmzeiten bilden den Normalzustand unseres Planeten. Auch in Zukunft werden die Kontinentalplatten weiter driften, auseinanderbrechen und kollidieren. Die beiden Amerikas auf der einen und Afrika und Eurasien auf der anderen Seite werden sich weiter voneinander entfernen, so dass der Atlantik sich ständig vergrößern wird. Dafür wird de Pazifik immer kleiner, und in ferner Zukunft werden Eurasien, Afrika und Australien mit den beiden Amerikas kollidieren und den nächsten Superkontinent der Erde formen. Und Spitzbergen wandert eventuell weiter über den Nordpol hinweg und auf der »anderen Seite« des Globus’ wieder nach Süden über den Äquator zum Südpolargebiet, wo es vielleicht in weiteren 600 Millionen Jahren erneut im Griff eines großen Eiszeitalters liegen wird.
In letzter Zeit haben die in der Arktis vermuteten Rohstoffe an großer Bedeutung gewonnen. Das zurückweichende Packeis im Polarmeer und die damit verbundene bessere Zugänglichkeit vieler Gebiete sind natürlich eine Voraussetzung dafür, bekannte Rohstoffvorkommen auszubeuten oder nach neuen Rohstoffquellen zu suchen. In vielen arktischen Gebieten sind bereits Rohstoffe wie Diamanten, Gold, Platin oder Erze gefunden worden, Erdöl und Erdgas werden bereits in großen Mengen gefördert. Wem die bekannten oder vermuteten Lagerstätten in den noch »herrenlosen« Gebieten zur Ausbeutung überlassen werden sollen, ist Streitpunkt unter den Anrainerstaaten. Seit die Russen im Sommer 2007 am Nordpol mit Hilfe von U-Booten ihre Fahne am Grunde des Meeres abgesetzt haben, steht die Arktis im Mittelpunkt des internationalen Interesses. Diese symbolische Geste hat zunächst genauso wenig Konsequenzen wie das Hissen der Flaggen, die die Amerikaner auf ihren Apollo-Missionen dem Mond aufgestellt haben – der Mond gehört nach wie vor nicht den Amerikanern. Allerdings sieht das in der Arktis ein bisschen anders aus.
Nach dem seit 1994 geltendem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen hat jeder Anrainerstaat eines Meeres das Recht, seine Interessengebiete weit über den Kontinentalabhang hinaus in die Tiefsee bestätigen zu lassen. Und hier wird es kompliziert: Über den direkt vor der Küste liegenden, 12 Seemeilen (20 km) breiten Streifen des Nationalen Küstenmeeres hinaus gibt es die so genannte Ausschließliche Wirtschaftszone, die bis zu 200 Seemeilen (320 km) von der Küste ins Meer reicht und in der der Küstenstaat das Recht auf Fischbestände und Rohstoffe auf und unter dem Meeresboden hat. Allerdings gehört diese Zone nicht mehr direkt zum Staatsgebiet, und andere Staaten können dieses Gebiet mit Schiffen befahren oder mit Flugzeugen überfliegen („friedliche Passage“). In der Arktis gehören zu dieser Zone die den Küsten vorgelagerten Flachmeere der Anrainerstaaten, besonders die breiten Schelfgebiete nördlich von Sibirien. Bleiben im Polarmeer noch die zentralen, von untermeerischen Gebirgsrücken durchzogenen großen Tiefseegebiete, die bis jetzt internationales Gewässer darstellten. Das heißt, dass hier noch alle Bodenschätze zum gemeinsamen Erbe der Menschheit gehören.
Dieses Erbe der Menschheit wird in Zukunft kleiner werden. Sobald ein Küstenstaat das UNO-Seerechtsübereinkommen ratifiziert und seine Ansprüche durch wissenschaftliche Untersuchungen seiner Meeresgebiete belegt, kann er für seine Interessengebiete bei der Festlandssockelgrenzkommission der UNO einen Antrag stellen. Wenn durch die Kommission bestätigt wird, dass sich die „Landmasse“ des Küstenstaates jenseits der Ausschließlichen Wirtschaftszone unter Wasser als so genannter „erweiterter Festlandssockel“ fortsetzt, steht ihm die Erforschung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen zu. Bis hierhin ist ja alles einigermaßen verständlich. Die weitgehenden Regeln, Bedingungen und Ausnahmen sind allerdings nur noch für Juristen durchschaubar.
Bei der Frage, wie weit sich die „Landmasse“ eines Küstenstaates meerwärts fortsetzt, werden auf einmal Geologen und Geophysiker wichtig. Zum einen geht es darum, die Tiefe und die Gestalt des Meeresbodens zu kartieren, andererseits müssen die Geologen feststellen, aus welchen Gesteinen zum Beispiel untermeerische Gebirgszüge aufgebaut sind. Gehören diese Gebirgszüge als »mittelozeanische Rücken« nämlich zur ozeanischen Kruste, können diese nicht in den „erweiterten Festlandssockel“ einbezogen werden. Besteht ein untermeerisches Gebirge jedoch aus kontinentaler Kruste, können Staaten Ansprüche stellen. Und das ist bei dem berühmten Lomonossov-Rücken der Fall, der sich quer durch das Polarmeer von Sibirien über dem Nordpol Richtung Grönland zieht und neben dem die Russen im Sommer 2007 ihre Flagge versenkt hatten. Vier Szenarien sind möglich, wenn es um die zukünftige Aufteilung des Polarmeeres geht, und diese Szenarien hängen davon ab, ob der Lomonossov-Rücken durch schmale Tiefseegräben mit Wassertiefen unter 2.500 m von den benachbarten Festländern abgetrennt ist:
- Sollte der Lomonossov-Rücken durch einen Tiefseegraben von Grönland getrennt sein, während es keinen Tiefseegraben vor Sibirien gibt, könnte tatsächlich Russland den gesamten Lomonossov-Rücken bis dicht vor Grönland für sich beanspruchen.
- Im umgekehrten Fall (Rinne vor Sibirien, keine Rinne vor Grönland) könnten Grönland/Dänemark und Kanada den Lomonossov-Rücken für sich beanspruchen (und müssten sich einigen!);
- Wenn es auf beiden Seiten keinen Tiefseegraben gibt, wäre die Grenze zwischen den Anspruchsgebieten von Grönland/Dänemark und Kanada einerseits und Russland andererseits in der Nähe des Nordpols.
- Wenn es auf beiden Seiten Tiefseerinnen gibt, dann könnten weder Grönland/Dänemark und Kanada auf der einen Seite noch Russland auf der anderen Seite Ansprüche auf den Lomonossov-Rücken stellen.
Aus internationaler Sicht ist das sicherlich das wünschenswerteste Szenario!
Schon an diesem Beispiel kann man sehen, wie wenig die Arktis erforscht ist. Auf Meeresbodenkarten sind zwar sowohl auf der grönländischen als auch auf der sibirischen Seite Depressionen zwischen dem Lomonossov-Rücken und den „Landmassen“ erkennbar, aber selbst mit den heutigen Messinstrumenten und -methoden ist immer noch unbekannt, ob diese unter der magischen 2.500 m-Tiefenlinie liegen.
Sollten die Ansprüche der fünf arktischen Anrainer-Staaten Russland, Norwegen, Grönland/Dänemark, Kanada und USA (wobei die USA das UNO-Seerechtsübereinkommen bisher noch nicht ratifiziert haben und daher ihren „erweiterten Festlandssockel“ gar nicht beantragen können) durch die UNO anerkannt werden, wird in Zukunft nicht viel vom Polarmeer übrig bleiben. Die internationalen Gewässer würden sich nur noch auf drei relativ kleine Gebiete im zentralen Polarmeer reduzieren. Die Idee, den Arktischen Ozean durch ein internationales Vertragswerk wie zum Beispiel im Fall der Antarktis zu einem geschützten Erbe der Menschheit zu machen, kommt ein bisschen zu spät und liegt vermutlich nicht im Interesse der Anrainerstaaten der Arktis.
Nicht nur für die Zugänglichkeit der polaren Rohstoffe, auch für den Welthandel ist die Debatte um die Klimaerwärmung und die in den letzten Jahrzehnten feststellbare Verringerung der polaren Packeisdecke sehr wichtig. Es geht um die mögliche Schiffbarkeit der Nordwestpassage nördlich von Amerika und der Nordostpassage nördlich von Eurasien.
Dabei ist zu bedenken, dass auch in Zukunft beide Passagen nicht ganzjährig befahrbar sein werden, weil sie auch weiterhin während des größten Teils des Jahres durch Eis blockiert sein werden. „Schlechte“ Sommer werden auch in Zukunft dazu führen, dass Packeis die Schifffahrt behindert, sodass auch in Zukunft eisverstärkte Schiffe nötig sein werden. Dazu kommt, dass weite Bereiche der Nordostpassage einfach zu flach sind für große Containerschiffe oder Tanker. Außerdem gibt es im Falle von Havarien so gut wie keine Möglichkeiten, schnell Hilfe zu leisten oder Umweltkatastrophen entgegenwirken zu können. Ob die Nutzung beider Passagen also in Zukunft wirklich rentabel sein wird, bleibt fraglich.
Wie kommt man denn nun als Geologe heutzutage ganz praktisch in die Arktis? Die Vorbereitungen für eine Expedition in Gebiete mehr als 1.000 km nördlich des Polarkreises fangen oft schon im Vorjahr an. Am Beginn stehen die Formulierungen der wissenschaftlichen Ziele und die Antragstellung, beispielsweise bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), um die Expedition finanzieren zu können. Diesem Schritt folgt meistens im April die Sichtung, Reparatur und die Verpackung der Ausrüstung (Zelte, Schlauchboote, Überlebensanzüge, Funkgerät, Generator, Schlafsäcke und Küchenbedarf) sowie der Einkauf der Lebensmittel.
Alles, was man zum Leben in der Arktis braucht, muss vor der Expedition organisiert, eingekauft und per LKW und Schiff nach Spitzbergen gebracht werden. Ist die Mannschaft erstmal dort, gibt es keinerlei Möglichkeiten mehr, irgendetwas nachträglich zu besorgen. Sämtliche Lebensmittel müssen vorher kalkuliert werden, und es ist eine manchmal etwas knifflige Aufgabe, auszurechnen, was z. B. 10 Leute für zwei Monate zum Frühstück, für das Mittagessen im Gelände und zum Abendessen brauchen. Und dann soll der Speiseplan auch noch vielseitig und nicht langweilig werden. Neben den Lebensmitteln muss an alles gedacht werden, was mit dem körperlichen Wohlbefinden zu tun hat: Das ist einerseits die Kücheneinrichtung mit Töpfen, Pfannen, Besteck, Geschirr und oft stinkenden Petroleumkochern, das »Büro« mit topographischen Karten, Literatur, Zeichen- und Schreibzeug, und natürlich das eigene persönliche Zuhause, das eigene Schlafzelt, Isomatte, Schlafsack und persönliche Ausrüstung. Hat man die Streichhölzer vergessen, mit denen die Kocher angezündet werden, wird es schon ungemütlich.
Mich erstaunt es auf jeden Fall immer wieder, wie viele hunderte verschiedene Artikel bis hin zum Adressaufkleber für die Rückfracht der Ausrüstung am Ende der Expedition im Laufe der Vorbereitungen zusammenkommen, die dann ordentlich und sicher in Kisten und Tonnen verpackt und auf Paletten gestapelt werden, damit sie meistens im Mai per LKW auf die lange Reise nach Norden geschickt werden. Die nächste Zitterpartie ist dann bei der eigenen Ankunft in Spitzbergen die bange Frage: Wo ist unsere Ausrüstung? Ist alles heil angekommen? Und ist überhaupt alles dabei? Auf jeden Fall können nach einer kurzen, aber hektischen Zeit des Planens, Verpackens, Listenschreibens und Organisierens die Expeditionsteilnehmer nun noch einmal Luft holen, bis...
… Anfang Juli, dann wird es richtig ernst. Mit voll gepackten Rucksäcken und Reisetaschen steht man auf dem Bahnhof oder Flughafen, um nach Oslo zu kommen, von wo es mit dem Flugzeug weiter geht. Auf diesem Flug wird der Polarkreis überflogen. Anschließend hat man immer noch einen langen Weg von 950 km nach Norden vor sich, der über die fast immer von einer dichten Wolkendecke verhüllte Wasserwüste der Barentssee führt. Mit viel Glück reißen die Wolken vor Spitzbergen auf, dann tauchen unter dem Flugzeug Landschaften wie aus einer anderen Welt auf: schneebedeckte Berge, gewaltige Gletscher, die mit ihren Seiten- und Mittelmoränen dem Meer zufließen, wo sie in riesigen Gletscherfronten enden, und das tiefe Blau des Meeres, das mal mehr, mal weniger von schneeweißen Konfetti-Fetzen bedeckt ist: das Treibeis oder Packeis des Eismeeres. Auch wenn man die Bilder kennt - die Tatsache, dass man jetzt selbst in einem Flugzeug sitzt, das live über diese kalte, unberührte und menschenleere alpine Landschaft gleitet, macht einfach sprachlos, während neben einem die alten Spitzbergen-Hasen sitzen und, unbegreiflich für die Neulinge (und immer auch noch für mich), völlig unbeeindruckt ihre Zeitung lesen.
Nach 30 Minuten Flug über die Gletscherwelt merkt man plötzlich, dass das Flugzeug sinkt und die Berge und braune, nackte Täler näher kommen. Plötzlich fliegt man unterhalb der Berggipfel, und kurze Zeit später setzt der Flieger auf: Longyearbyen, der Hauptort Spitzbergens, ist erreicht. Von hier sind es nur noch 1.350 km bis zum Nordpol!
Beim Aussteigen aus dem Flugzeug weht einem ein Wind ins Gesicht, der irgendwie merkwürdig winterlich riecht. Vom Flugplatz Longyearbyen geht der Blick hinaus auf den 25 km breiten Eisfjord, an dessen gegenüberliegender Nordküste unbekannte und neugierig machende Silhouetten von Bergketten und breiten Gletschern liegen. Hier wird der Besucher das erste Mal mit der Arktis konfrontiert, und neben dem unmittelbaren Erlebnis des Wetters und der extremen Weite der Fjordlandschaft drängt sich immer wieder der Gedanke auf, ob das alles eigentlich wirklich real ist.
Am nächsten Tag geht es dann meistens mit dem norwegischen Forschungsschiff Lance weiter. Nachdem man erleichtert festgestellt hat, dass die in Deutschland verpackten Paletten sich sicher an Deck des Schiffs befinden, beginnt eine immer unvergessliche Fahrt die Küsten Spitzbergens entlang, auf der die Ergriffenheit und Ungläubigkeit speziell der Neulinge in der Arktis anhält und wächst. Die Mitternachtssonne tut das Ihrige dazu, den biologischen Rhythmus von Schlaf, Essen und Zeitgefühl während des 24-stündigen Tages vollends aus dem Ruder laufen zu lassen. Dazu kommen die Eindrücke der menschenleeren, scheinbar abweisenden und einsamen Küsten, an denen man vorbei gleitet, mit ihren dunkelgrünen Küstenebenen und den dahinter schwarz ansteigenden, schroffen, mit Schutt bedeckten Bergketten, deren Düsterheit von den weißen, teilweise sommerlich schmutzigen Schneefeldern und Gletschern noch mehr hervorgehoben wird. Hier bekommt man unwillkürlich das (falsche) Gefühl, dass diese Küsten noch nie von einem Menschen betreten worden sind. Und immer wieder die steilen, unbesteigbar scheinenden Bergmassive und -grate mit ihren Zinnen, Türmen und Scharten, die dieser Insel ihren Namen gegeben haben: Das ist wirklich ein Spitzbergen!
Aber jede Ergriffenheit wird jäh unterbrochen durch die Tatsache, dass man sich auf einer wissenschaftlichen Expedition befindet: Der schon vor Monaten am grünen Tisch ausgesuchte Platz des zukünftigen Basislagers an einer einsamen Fjordküste ist erreicht, und nahezu brutal wird man auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: Auf einmal muss alles unglaublich schnell gehen. So ruhig und beschaulich die Schiffsreise bisher war, das Schiff muss sofort weiter und andere Gruppen an anderen einsamen Küsten absetzen. Im Eiltempo wird die Ausrüstung von bis zu 3.000 kg (egal ob Tag oder Nacht - wobei die Nacht natürlich nur auf der Uhr eine Rolle spielt) von Bord in die Schlauchboote gehievt, die die Säcke, Kisten und Tonnen Richtung Küste transportieren, wo sie irgendwo am Strand in einem großen Chaos abgestellt werden. Nach 45 Minuten Schufterei und unglaublicher Hektik und Aktivität ist das Ausladen beendet, und noch bevor die letzte Schlauchbootfuhre an Land ist, hat das Forschungsschiff schon den Bug dem nächsten Ziel zugewendet und bereits Fahrt aufgenommen. So bleibt zum Abschied nur ein Winken in Richtung auf die kleiner werdenden Gestalten an Bord, und wieder wird das Gefühlsleben in das nächste Extrem gestürzt: auf einmal stehen einige verdutzte und verdatterte Gestalten in absoluter Stille und Einsamkeit zwischen dem Kistenchaos am Strand und versuchen, diesen rapiden Wechsel von der Zivilisation zur Wildnis zu verarbeiten. Erst allmählich wird dem Teilnehmer klar, dass er sein neues Zuhause für die nächsten zwei Monate erreicht hat, obwohl dieses bislang nur aus einem unwirtlichen Strand, einem flachen und breiten Streifen Küstenvorland und den dahinter aufragenden Bergen besteht. Erst nach und nach kommt etwas Bewegung in die Alleingelassenen, die sich nun vorsichtig umschauen und mit Staunen die wilde Schönheit dieser Landschaft aufnehmen.
Es dauert einige Zeit, bis nach und nach die Teilnehmer der Expedition wieder zu sich finden und allmählich anfangen, den Haufen von Kisten und Tonnen zu begutachten, um mit dem Campaufbau zu beginnen. Bald schon erfüllt zunehmende Geschäftigkeit den Platz, die umgebende Landschaft ist vergessen, und während man versucht, in den zahlreichen Boxen und Kisten Dinge zu suchen, entsteht im Laufe einiger Stunden eine kleine Zeltstadt an einer Stelle, die aussieht, als hätte sie noch nie ein Mensch betreten. Nach vielen Stunden erst kommt man allmählich wieder zu sich. Das Tempo des Aufbaus nimmt ab, und nachdem die Küche und die Schlafzelte eingerichtet sind, genießt man bei einem letzten Dosenbier die neue Heimat und das neue Zuhause. Anschließend weiht man sozusagen sein eigenes Schlafzelt ein, breitet seinen Schlafsack aus und legt sich erschöpft und zufrieden das erste Mal in der Arktis schlafen. Dabei beschleicht einen unweigerlich ein etwas mulmiges Gefühl, wenn man sich vorstellt, dass irgendwo vielleicht ein einsamer Eisbär an dieser einsamen Küste entlangtrottet …
In den folgenden Wochen wird das Leben in der Abgeschiedenheit doch allmählich zum Alltag. Man gewöhnt sich daran, dass die Toilette im Freien ist, dass man das Wasser zum Kochen vom Bach holen muss und dass das Badezimmer ebendieser Bach ist – die Badewassertemperatur liegt bei 2 °C! Nach und nach richten sich Schlafzelte und das Küchenzelt quasi von selbst immer gemütlicher ein, alles bekommt seinen Platz in dem für einen Außenstehenden scheinbaren Chaos von Kisten, Kochern, Töpfen, Lebensmitteln und Gewehren.
Auch der Tagesablauf pendelt sich langsam ein: so unterschiedlich auch jeder Tag während der Arbeit im Gelände auch abläuft, weil man immer andere Gegenden besucht und weil die geologischen Probleme wechseln, der tägliche Funkspruch, Frühstück, Abendessen, Abwasch und Feierabend werden schnell zur Routine und einer Art von Ritual, an dem meistens während der gesamten Expeditionszeit festgehalten wird. Neuerungen im Programm werden von den Mitgliedern der Expedition schnell misstrauisch beäugt und oft abgelehnt!
Auch das Arbeitsgebiet, in dem Diplomanden und Doktoranden nun für sechs bis acht Wochen beschäftigt sind, wird im Laufe der Zeit von einer wilden, unbekannten und fremden Gegend aus Felsen, Schnee und Wasser, durch die man sich zu Fuß oder mit dem Schlauchboot zunächst langsam vortastet, bald zu einer Art Heimat.Das ist eben einer der vielen faszinierenden Aspekte einer geologischen Expedition, dass man beim Kartieren eines bis zu 80 km2 großen Gebiets sozusagen jeden Stein kennen lernt. Nach der Geländesaison hat der Geologe nahezu jeden Quadratmeter eingesehen, kennen gelernt und die dort anstehende Gesteinsart mit einer kennzeichnenden Farbe in seine geologische Karte eingetragen. Indem man jeden Winkel eines Gebiets, das größer als die eigene Heimatstadt ist, besucht hat, wächst einem dieses Stück angebliche Gesteinsödnis immer mehr ans Herz.
Um auf die Eisbären zurückzukommen: Sie sitzen dem Arktisforscher Tag und Nacht, wenn auch meist unbewusst, im Gedächtnis fest. Spitzbergen ist eben Eisbärenland, und an jedem Ort kann zu jeder Zeit ein Bär auftauchen. Es ist unglaublich, was für Gedanken man sich im Laufe eines Sommers wegen dieser Tiere, deretwegen man immer mit einem Gewehr bewaffnet herumläuft, macht, auch wenn man dann letztendlich den gesamten Sommer keinen einzigen Eisbären zu Gesicht bekommen hat! Schon der Anblick einer Bärenspur im Schnee oder am Sandstrand weckt sehr mulmige Gefühle, und wenn man mitbekommen hat, dass sich ein Bär im Fjord herumtreibt, wird eine bestimmte Körperbewegung in den kommenden Tagen typisch: der Blick nach hinten!
Aber trotz aller tief sitzender Furcht vor einem der größten Raubtiere unserer Erde ist es fantastisch, einem Eisbären in freier Wildbahn zu begegnen. Mit einem Mal spürt man, vielleicht das erste Mal in seinem vorher von der sicheren Zivilisation geprägten Leben, dass man als Mensch nicht die Spielregeln bestimmt, sondern dass man sich im Gegenteil danach zu richten und sich darauf einzustellen hat, wie sich die Natur, sprich der Eisbär, verhält. Hier diktiert nicht mehr der Mensch die Bedingungen, sondern die Natur und ihre Lebewesen. Und das ist eine der eindrucksvollsten Erlebnisse und Eindrücke, die ich persönlich in der Arktis erlebt habe. Es ist atemberaubend, wie selbstverständlich, majestätisch ein Eisbär suchend und witternd durch sein eigenes, riesiges und durch keinerlei natürliche oder künstliche Schranken begrenztes Reich streift. Seitdem ich frei lebenden Eisbären begegnet bin, bezweifle ich, ob zoologische Gärten überhaupt eine Berechtigung haben, wildlebende Tiere einzusperren, auch wenn dies im Namen der Arterhaltung geschieht.
Im Sommer 2006 war ich für 2 Wochen gemeinsam mit zwei norwegischen Geologen in einem kleinen Camp am Lomfjord im äußersten Nordosten Spitzbergens. Am Tag nach der Ankunft entdeckten wir in 500 m Entfernung eine Eisbärin mit ihrem einjährigen Jungen. Die beiden ließen sich durch unsere Gegenwart überhaupt nicht beeindrucken, sondern blieben für fast eine Woche im Umkreis von 150 – 300 m um unser Camp unsere direkten Nachbarn. Ihre Ruheplätze lagen, wie wir zunächst dachten, glücklicherweise immer dort, wo wir sie sehen konnten. In Wirklichkeit aber wählten sie ihre Plätze so aus, dass sie uns genau beobachten konnten. Nachdem wir anfangs ziemlich beunruhigt waren, gewöhnten wir uns an die Bären, die uns und unser Camp auch dann in Ruhe ließen, wenn wir tagsüber im Gelände unterwegs waren.
Was wir uns die ganzen Tage über fragten, war nur, warum die beiden Bären an diesem Ort blieben, obwohl wir ja nun erstens in ihrem Gebiet unser Camp aufgeschlagen hatten und obwohl zweitens keinerlei Packeis auf dem Fjord war, auf dem die Bärin nach Robben hätte jagen können. Durch ein unglaubliches Erlebnis eines frühen Morgens wurde uns diese Frage eindrücklich beantwortet:
Von einer nahe gelegenen Gletscherfront brachen immer wieder Stücke ab, stürzten in den Fjord und trieben als Eisschollen oder kleine Eisberge in unsere kleine Bucht hinein. Was uns ziemlich schnell auffiel, war, dass zahlreiche Robben diese Eisschollen benutzten, um darauf zu schlafen oder sich zu sonnen. Bis dahin sahen wir noch keinen Zusammenhang zwischen den Robben und den Bären, weil wir uns nicht vorstellen konnten, dass Eisbären in der Lage sein würden, die schnellen und sehr aufmerksamen Robben auf einer Eisscholle erwischen zu können. Bis unsere norwegische Kollegin uns morgens gegen 6.00 Uhr weckte und meinte, die Eisbärin würde sich sehr merkwürdig verhalten. Nachdem wir aufgestanden waren, sahen wir, was sie meinte: Auf einer Eisscholle etwa 100 Meter vor der Küste lag eine Robbe, und zwischen der Robbe und dem Strand trieb etwas Weißes auf die Eisscholle zu, das gar nicht wie ein Eisbär aussah! Wenn ein Eisbär schwimmt, sieht man normalerweise neben der typischen keilförmigen „Bugwelle“ nur den großen Schädel mit den charakteristischen drei schwarzen Punkten der Augen und der Nase – übrigens ein äußerst wichtiges Warnsignal für die Robben. An diesem Morgen allerdings sahen wir nur einen weißen Buckel, der sich ohne „Bugwelle“ ganz langsam und behutsam wie eine von der Strömung oder vom Wind getriebene Eisscholle allmählich der Eisscholle näherte, auf der die Robbe lag. Völlig unbegreiflich für uns war, dass die Robbe nicht erkannte, was für eine Gefahr auf sie zu trieb, obwohl sie immer wieder in Richtung Strand und damit auch auf die treibende „Eisscholle“ blickte. Wahrscheinlich achtete sie wohl mehr auf den jungen Bären, der, für uns unsichtbar, immer noch am Strand saß und wohl ganz genau wusste, dass seine Mutter auf Jagd war und er sich deshalb ruhig verhalten musste.
Etwa 20 Meter vor der Eisscholle tauchte die Bärin plötzlich weg, ohne Wellen zu schlagen. Von nun an schien es ewig zu dauern, bis wieder etwas passierte. Gebannt starrten wir auf die Robbe und fragten uns, wo die Bärin wieder auftauchen würde. Urplötzlich war es mit der friedlichen Stimmung des frühen sonnigen Morgens vorbei, als die Bärin fast wie eine Rakete hinter der Robbe aus dem Wasser geschossen kam und sich in einer Explosion von Kraft auf die Eisscholle warf. Die Robbe schien ganz kurz davor etwas gemerkt zu haben, denn sie bewegte sich ganz plötzlich, offenbar aber ohne zu wissen, wohin sie flüchten sollte. Die Bärin erwischte die Robbe an den Flossen und packte sie, bevor beide zusammen ins Wasser stürzten. In den folgenden, scheinbar ewig lang dauernden Sekunden fand unter Wasser ein Kampf auf Leben und Tod statt, der letztendlich zugunsten der Bärin ausging: Mit der Robbe im Maul schwamm die Bärin zur Küste zurück und zog das schwere Tier auf den Strand, wo die beiden Bären sofort anfingen, zu fressen.
Dieses Erlebnis hat uns sehr beeindruckt, und keiner von uns hat in den vielen Jahren in der Arktis Ähnliches erleben dürfen – wenn bisher überhaupt jemals ein Mensch das Wegfangen einer Robbe von einer Eisscholle beobachtet hat. Auf jeden Fall wussten wir jetzt, dass sich die Bärin diesen Platz gewählt hatte, weil es an dieser Stelle viele Robben gab, die sie auf Eisschollen jagen konnte. Und wie strategisch sie diese Jagd durchgeführt hat, hatten wir ja gesehen. Ein weiteres Argument, dass diese Eisschollen-Jagd kein Einzelfall war, sahen wir ein paar Tage später, als der junge Bär, sozusagen unter Anleitung der Mutter, ebenfalls die Jagd auf eine Robbe auf einer Scholle übte – allerdings noch ohne Erfolg. Auf jeden Fall hat sich dieses Erlebnis bei uns tief eingeprägt, und nachdem ich unmittelbar gesehen habe, welche Kraft ein Eisbär hat und wie unberechenbar er auch mitten im Fjord auftauchen kann, fahre jetzt mit ganz anderen Gefühlen Schlauchboot!
Apropos Fleischvorrat: Es dauerte ganze drei Tage, da waren von der schätzungsweise 200 Kilogramm schweren Robbe nur noch der halbe Schädel und das Rückgrat übrig!
Fast unmerklich und doch überraschend schnell gehen die zwei Monate der Expedition vorbei. Während man am Anfang der Reise scheinbar noch eine Ewigkeit vor sich hat, scheint sich die Zeit zu beschleunigen, je mehr sich die Expedition ihrem Ende nähert.
Langsam haben sich im Sommer die Lichtverhältnisse verändert: Dominierten am Beginn noch die harten Schlagschatten und das grelle Licht der hoch stehenden Mitternachtssonne, beginnt das Licht ab Mitte August weicher und wärmer zu werden. Allzu deutlich wird sichtbar, dass von Tag zu Tag (oder besser Nacht zu Nacht) der Bogen der Sonne im Norden tiefer verläuft, bis sie Ende August um Mitternacht das erste Mal den nördlichen Horizont berührt – der Polartag geht zu Ende! Bei schönem Wetter steht der Horizont im Norden um diese Zeit oft stundenlang in dem tiefroten Licht eines scheinbar endlos dauernden Sonnenuntergangs (man fühlt sich wie in einem Fantasy Film), nur kann sich die Sonne (noch) nicht so richtig entscheiden unterzugehen, und aus dem Abendrot wird übergangslos ein Morgenrot.
Immer öfter werden die bevorstehende Abreise und die Ankunft des Schiffes Gesprächsthema. Kisten werden gepackt, Proben und Ausrüstung verstaut, und die Stimmung einer frohen Erwartung wird immer intensiver. Bis das Schiff plötzlich wirklich am Fjordeingang sichtbar wird. Schlagartig schlägt die Stimmung um – eben noch himmelhoch jauchzend – und nun zu Tode betrübt«! Aber nicht lange, weil es einmal wieder unglaublich hektisch wird: Die Ausrüstung muss vom Strand in die Schlauchboote gewuchtet und zum Schiff hinüber gefahren werden. Und der Kapitän drängelt natürlich wieder, weil man hinter dem Fahrplan herhinkt. Erst nachdem die Ausrüstung an Bord verstaut ist, blickt man mit sehr wechselvollen Gefühlen und einem weinenden und einem lachenden Auge auf die Stelle zurück, wo vor drei Stunden noch ein Camp gestanden hat, in dem man sich so lange zu Hause gefühlt hat. Mit einem fast schon sehnsüchtigen Blick zurück auf die Landschaft wird die Rückreise angetreten. Und noch vor der Ankunft zu Hause beschäftigt einen eine einzige Frage: Wie schaffe ich es, im kommenden Jahr wieder in die Arktis zu kommen?
Keller, Ulrike (Hrg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009