Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1840 - Hans Christian Andersen
Die erste Fahrt mit der Eisenbahn: Ganz schnell durch Köthen

 

Die erste Empfindung ist ein ganz leises Erschüttern der Wagen, und nun sind die Ketten, die sie zusammenhalten, gestrafft; wieder läßt sich die Signalpfeife hören, und die Fahrt beginnt, erst langsam, die ersten Schritte geht es sachte, als ob eine Kinderhand den kleinen Wagen zöge. Unmerklich wächst die Schnelligkeit, du aber liest in deinem Buch, studierst deine Karte und weißt gar nicht recht, ob die Reise überhaupt begonnen hat, denn der Wagen gleitet wie ein Schlitten über schneebedecktes ebnes Feld. Du schaust zum Fenster hinaus und entdeckst, daß du einherjagst wie mit galoppierenden Pferden, noch schneller geht es, du scheinst zu fliegen, und doch ist hier kein Schütteln, kein Luftdruck, nichts von dem, was du befürchtet hast.
    Was war das Rote da, das wie ein Blitz an uns vorüberfuhr? Es war einer der Wärter mit seiner Fahne. Schau nur hinaus! Und die nächsten zehn bis zwanzig Ellen ist das Feld ein pfeilschneller Strom, Gräser und Kräuter fließen zusammen, man wähnt sich außerhalb der Erde, und diese dreht sich. Wenn man lange in dieselbe Richtung schaut, tut es dem Auge weh: blickst du aber ein paar Klafter weiter, so bewegen sich die Gegenstände nicht schneller, als wir es sonst bei guter Fahrt beobachten können, und noch weiter auf den Horizont zu scheint alles stillzustehn, die Gegend bietet sich voll in ihrer Gänze dar.
    Geradeso muß man durch flache Länder reisen! Die eine Stadt scheint dicht neben der anderen zu liegen, da kommt sine, da schon wieder! Man kann sich recht den Flug der Zugvögel dabei denken, so müssen auch sie die Städte hinter sich lassen.
Auf den Seitenwegen sieht man andre Menschen, die auf die gewohnte Weise reisen, sie scheinen stillzustehen, die Pferde vor dem Wagen heben die Hufe und scheinen sie wieder auf denselben Platz zurückzusetzen, aber da sind wir schon vorbei.
Es gibt eine ziemlich bekannte Anekdote von einem Amerikaner, der zum ersten Mal mit dem Dampfwagen fuhr: Als er einen Meilenstein nach dem anderen vorüberfliegen sah, glaubte er, er wäre auf einem Gottesacker und sähe die Grabmale. Ich würde dies sonst nicht erzählen, doch charakterisiert es so ganz die Geschwindigkeit, und sie fiel mir ein, obwohl man hier keine Meilensteine sieht - es müßten denn die roten Signalfähnchen sein, und dann hätte derselbe Amerikaner hier sagen können: Warum laufen heute alle Menschen mit roten Fahnen herum?
    Dagegen möchte ich von einem Plankenwerk berichten, das ich, als wir daran vorüberfuhren, zu einer Stange sich verkürzen sah. Ein Mann neben mir sagte: »Schau an, da sind wir im Fürstentum Köthen.« Und dann nahm er sich eine Prise, bot auch mir die Dose an, ich machte eine Verbeugung, probierte den Tabak, nieste und fragte: »Wie lange sind wir denn in Köthen?« - »Oh«, antwortete der Mann, »gerade als Sie niesten, waren wir wieder draußen.«

 

Andersen, Hans Christian
Sämtliche Werke
Band 3, 1853

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!