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Geschichten rund um den Globus

79 - Gaius Plinius Caecilius Secundus (der Jüngere)
Der Ausbruch des Vesuvs

 

Mein Oheim befand sich zu Misenum, wo der die Flotte in Person befehligte. Am 25. August, ungefähr nachmittags ein Uhr, meldet ihm meine Mutter, es lasse sich eine Wolke von ungewöhnlicher Größe und Gestalt sehen. Er hatte sich gesonnt, kalt gebadet, sodann liegend gespeist und studierte. Er fordert seine Schuhe und besteigt eine Anhöhe, von welcher man die wunderbare Erscheinung sehr gut beobachten konnte.
    Die Wolke erhob sich – aus welchem Berge, konnte man von weitem nicht unterscheiden, und daß es der Vesuv gewesen, erfuhr man erst nachher – in einer Gestalt, welche mit nichts  zu vergleichen war als mit einem Baume, und zwar einer Pinie. Sie schien in einem sehr langen Stamm in die Höhe zu steigen und sich in einige Zweige auszudehnen. Ich glaube, weil sie, anfänglich durch den frischen Druck in die Höhe getrieben, als jener nachließ, oder durch ihre eigene Schwerkraft sich in die Breite ergoß. Sie war hin und wieder weiß, an manchen Stellen schmutzig und gefleckt, je nachdem sie Erde und Steine mit sich führte.
    Ihm als einem gelehrten Mann erschien diese Erscheinung wichtig und näherer Betrachtung wert. Er lässt ein leichtes Schiff ausrüsten, und stellt mir frei, ihn zu begleiten. Ich antwortete, ich wolle lieber studieren, und zufälligerweise hatte er mir selbst etwas zu schreiben aufgetragen. Eben trat er aus dem Haus, als er ein Schreiben von Retina (in der Bucht von Neapel) empfängt, in welchem die dortigen Schiffleute, durch die drohende Gefahr erschreckt – der Ort lag am Fuße des Berges, und man konnte nur zu Schiff entkommen – ihn baten, sie aus so großer Not zu erretten. Er änderte nun seinen Plan, und was er als Gelehrter begonnen, vollzieht er als Held.
    Er lässt die Kriegsschiffe unter Segel gehen und schifft sich ein, um nicht bloß Retina, sondern unzähligen Menschen – denn die Küste war ihrer Anmut wegen sehr bevölkert – Hilfe zu bringen. Er eilt dahin, von wo andere fliehen, und steuert in gerader Richtung auf die Gefahr zu, so furchtlos, daß er alle Begebenheiten und Gestaltungen der Unglücksszene, wie er sie wahrnahm, diktierte und aufzeichnen ließ.
    Schon fiel Asche auf die Schiffe, heißer und dichter, je näher man kam; nun auch Bimssteine und schwarze, ausgebrannte, vom Feuer geborstene Steine. Jetzt machten eine plötzliche Untiefe und der Auswurf des Berges die Küste unzugänglich. Er besann sich einen Augenblick, ob er zurücksegeln sollte, bald aber sagte er zu dem Steuermann, der ihm das anriet: »Mit dem Tapferen ist das Glück. Fahre zu Pomponianus!« Dieser war zu Stabiä (Castello a mare) an der entgegengesetzten Seite der Bai, welche das Meer in dem allmählich sich krümmenden und herumziehenden Ufer bildet. Ungeachtet daß die Gefahr noch nicht sehr nahe war, so war sie doch vor Augen, und wenn sie wuchs, nahe genug. Er hatte daher sein Gepäck zu Schiff bringen lassen, zur Flucht entschlossen, sobald sich der widrige Wind gelegt hätte. Als mein Oheim, dem dieser Wind sehr günstig war, gelandet war, umarmt, tröstet, ermuntert der den Zitternden und lässt sich, um dessen Furcht durch seine Zuversicht zu stillen, ins Bad bringen. Nach dem Bade legt er sich zu Tische und speist mit Heiterkeit, wenigstens, was ebenso groß ist, mit heiterer Miene.
    Inzwischen leuchteten aus dem Vesuv an mehreren Orten breite Flammen und hohe Feuersäulen hervor, deren Glanz und Helle durch die Finsternis der Nacht erhöht wurden.
    Mein Oheim, um der Furcht zu begegnen, behauptete, es seien die Landhäuser, welche von den Landleuten aus Schrecken verlassen und dem Feuer preisgegeben worden seien und jetzt in der Einsamkeit brennen. Hierauf begab er sich zur Ruhe und schlief wirklich fest ein, denn die Leute vor der Türe hörten ihn Atem holen, weil er wegen seines starken Körpers schwer und laut atmete. Nun wurde aber der Vorhof, aus dem man in das Zimmer trat, mit Asche und Bimsstein so hoch angefüllt, daß er bei längerem Verweilen nicht aus dem Zimmer hätte gehen können. Man weckt ihn, er steht auf und begibt sich zu Pomponianus und den anderen, die gewacht hatten. Sie beratschlagen gemeinschaftlich, ob sie im Hause bleiben oder ins Freie gehen sollen. Denn die Häuser wankten durch die häufigen und heftigen Erdstöße und schienen, gleichsam aus ihrem Grunde gehoben, sich bald hierher, bald dorthin zu bewegen oder gehoben zu werden. Dagegen scheute man im Freien das Fallen der obschon leichten und ausgebrannten Bimssteine. Bei Vergleichung der Gefahren wählte man jedoch das Letztere. Bei meinem Oheim siegte ein Grund über den anderen, bei den Übrigen eine Furcht über die andere. Sie legen Kissen auf den Kopf und binden sie mit Tüchern fest, dies diente zum Schutz gegen den Steinregen. Schon war es anderswo Tag, dort war es Nacht, schwärzer und finsterer als alle Nächte; doch erhellten sie sie durch Fackeln und Lichter aller Art. Man beschloß, ans Ufer zu gehen und in der Nähe zu sehen, ob man sich aufs Meer wagen könne, dieses blieb aber wild und ungestüm. Hier legte er sich auf ein hingebreitetes Tuch, forderte und trank zum wiederholten Mal kaltes Wasser. Hierauf trieben die Flammen und der ihnen vorausgehende Schwefelgeruch die andern in die Flucht, ihn veranlassten sie, aufzustehen. Gestützt auf zwei Sklaven, erhob er sich, sank aber sogleich nieder, erstickt, wie ich glaube, durch den dicken Dampf, und weil sich die Luftröhre verschloß, welche bei ihm von Natur schwach, enge war, und an häufigen Krämpfen litt. Als es Tag wurde, der dritte von dem Tag an gerechnet, den er zuletzt gesehen, fand man seinen Körper unversehrt, unverletzt und bedeckt, so wie er bekleidet war, einem Schlafenden ähnlicher als einem Toten.
    
    Nachdem mein Oheim von uns gegangen war, brachte ich die übrige Zeit des Tages mit Studieren zu, denn aus diesem Grunde war ich zurückgeblieben, hierauf badete ich, speiste und schlief kurz und unruhig.
    Das Erdbeben, welches man schon seit Tagen spürte, hatte uns als ein in Campanien gewöhnliches Ereignis nicht sehr beunruhigt. In jener Nacht aber wurde es so stark, daß alles sich nicht nur zu bewegen, sondern Einsturz zu drohen schien. Meine Mutter stürzt in mein Schlafzimmer: Ich war eben im Begriff aufzustehen, um sie zu wecken, falls sie noch schliefe. Wir setzten uns in den Hof, welcher in mäßigem Zwischenraum die Häuser von dem nahen Meer trennte. Ich weiß nicht, soll ich es Unerschrockenheit oder Gedankenlosigkeit nennen, denn ich war damals erst achtzehn Jahre alt. Aber ich lasse mir die Geschichte des Titus Livius geben, lese, als ob ich ganz in meiner Muße wäre, und setze auch die angefangenen Auszüge fort; plötzlich erschient ein Freund meines Oheims, der kürzlich aus Spanien zu ihm gekommen war, schilt, als er mich und meine Mutter sitzend und mich sogar lesend vorfindet, sie wegen ihrer Geduld, mich wegen meiner Sorglosigkeit, ich aber las nicht weniger eifrig fort.
    Es war schon die erste Stunde des Tages (sechs Uhr morgens), und noch war es nicht hell, der Himmel ganz trübe. Da die umliegenden Gebäude heftig schwankten, so war die Gefahr des Einsturzes in dem beschränkten, wenn gleich offenem Raume, groß und unvermeidlich. Jetzt erst beschlossen wir, die Stadt zu verlassen. Die erschrockene Menge, welche tut, was sie andere tun sieht, und was in der Angst für Klugheit gilt, folgte uns scharenweise, und drängt und stößt uns vorwärts. Als wir die Gebäude hinter uns hatten, machen wir Halt. Aber auch hier neue Wunder, neue Schrecken. Die Wagen, welche wir hatten hinausfahren lassen, wurden auf ganz ebenem Felde hin und her geworfen, und blieben selbst dann nicht auf der Stelle, wenn Steine untergelegt wurden. Es war, als ob das Meer sich selbst verschlinge und durch die Erderschütterung gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen werde. Wenigstens sahen wir das Ufer vorgerückt und viele auf dem trockenen Strande zurückgebliebene Seetiere.
    Auf der entgegengesetzten Seite zerplatzte eine schreckliche schwarze Wolke, schoß und schleuderte schlangenförmige Feuermassen umher, und entlud sich in länglichen Flammengestalten, die wie Blitze aussahen, aber größer waren. Jetzt wurde der Freund aus Spanien heftiger und dringender: »Wenn Dein Bruder, wenn Dein Oheim noch am Leben ist, so will er Euch gerettet wissen, und ist er gestorben, so hat er zuverlässig gewünscht, daß ihr ihn überlebt, was verzögert ihr also eure Flucht!« Wir entgegneten, daß wir es nicht über uns gewinnen könnten, für unsere Rettung zu sorgen, so lange wir über die seinige in Ungewißheit seien. Er verweilt nun nicht länger, stürzt fort und entreißt sich in schnellem Lauf der Gefahr. Bald darauf läßt sich jene Wolke auf die Erde herab und bedeckt die See. Sie hatte Capri umgeben und verhüllt, auch das Vorgebirge von Misenum entzog sie unseren Blicken. Jetzt ermahnte, bat und befahl die Mutter, zu fliehen, so gut ich könnte. Ich sei jung und werde gut entkommen, sie, durch Alter und Kränklichkeit niedergedrückt, wolle gern sterben, wenn sie nur nicht Schuld an meinem Tod sei. Ich erwiderte, daß ich mich ohne sie nicht retten würde, ergreife ihre Hand und zwinge sie, schneller zu gehen, sie folgt ungern, unter Klagen, daß sie mich aufhalte.
    Schon fällt Asche auf uns, doch nicht in großer Menge. Ich sehe zurück. Ein dichter Dampf in unserem Rücken kam hinter uns her, wie ein auf die Erde gegossener Strom. »Biegen wir ein wenig ab«, sagte ich nun, »so lange wir noch sehen, damit wir nicht auf der Straße umgeworfen und von der Menge niedergetreten werden.« Kaum hatten wir uns niedergelassen, als es finster wurde, und zwar nicht wie in einer mondlosen oder wolkigen Nacht, sondern wie wenn in verschlossenen Orten das Licht ausgelöscht wird. Man hörte die Weiber heulen, Kinder wimmern, Männer schreien, die einen riefen nach ihren Eltern, andere nach ihren Kindern oder ihren Gatten, einige erkannten sich an den Stimmen, diese bejammerten ihr eigenes Geschick, jene das der Ihrigen, manche wünschten sie den Tod aus Furcht vor dem Tode. Viele erhoben die Hände zu den Göttern, andere behaupteten, es gäbe keine Götter mehr, und es sei die letzte und ewige Nacht der Welt gekommen. Auch fehlte es nicht an solchen, welche die wirkliche Gefahr durch erdichtete und erlogene Schreckensbotschaften vergrößerten. Einige erzählten, sie seien zu Misenum gewesen, dieses stehe in Flammen, jenes sei zusammengestürzt; alles falsch und doch glaubte man alles.
    Es wurde wieder ein wenig hell, was uns aber nicht wie der Tag, sondern als ein Zeichen des herannahenden Feuers vorkam, doch blieb es in der Entfernung. Die Finsternis kam wieder, und mit ihr ein so heftiger und dichter Aschenregen, daß wir oft aufstehen und sie abschütteln mußten, um nicht zugedeckt und von ihrer Last erdrückt zu werden.
    Ich könnte mich rühmen, daß mir in dieser großen Gefahr nicht ein Seufzer, nicht ein unmännlicher Laut entfahren sei, wenn ich nicht in dem Gedanken, daß ich mit der Welt und die Welt mit mir untergehe, den unglücklichen, aber großen Trost für meinen Tod gefunden hätte.
    Endlich löste sich die dichte Finsternis in eine Art Rauch oder Nebel auf, es wurde wirklich Tag, sogar die Sonne kam zum Vorschein, aber ganz trübe, wie bei einer Sonnenfinsternis. Alle Gegenstände zeigten sich dem noch ungewissen Blick verändert, und hoch mit Asche wie mit Schnee bedeckt. Wir gingen nach Misenum zurück, pflegten uns so gut wir konnten und brachten die Nacht unruhig und zwischen Furcht und Hoffnung schwankend zu; jene behielt die Oberhand, denn das Erdbeben dauerte fort, und manche täuschten in wahrer Verrücktheit durch schreckhafte Prophezeiungen sich und andere, über ihr eigenes und fremdes Unglück. Wir aber, ungeachtet wir jetzt die Gefahr kannten und ihrer stets gewärtig waren, konnten uns auch jetzt noch nicht entschließen, uns zu entfernen, bis wir die Nachricht von dem Oheim hatten.
    
Plinius, Secundus Caecilius Gaius
Briefe (Übersetzung Schott)
Stuttgart 1828

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