Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1743 - Charles Marie de La Condamine
Von den Anden ins Amazonasbecken

 

Den 8. [Juli], da er seinen Weg fortsetzte, ging er über die Enge bei Cumbinama, welche wegen der Steine gefährlich ist. Ihre Breite ist nur ungefähr 20 Toisen [1 Toise = 1,95 m]. Die bei Escurebragas, welche man den anderen Morgen antraf, ist von einer anderen Art. Der Fluß, welcher von einem scharfen Felsenstück aufgehalten wird, woran er senkrecht stößt, wendet sich auf einmal ab, und macht mit seiner ersten Richtung einen geraden [rechten] Winkel; und durch die Geschwindigkeit, die er von der Veränderung bekommt, hat er eine tiefe Bucht in den Felsen gehöhlt, wo die Gewässer seines Ufers, welche durch die Geschwindigkeit in der Mitte voneinander getrieben werden, wie in einem Gefängnis aufgehalten werden.
   Das Floß, auf dem Herr de la Condamine war, wurde durch den Strom in die Höhle getrieben und tat über eine Stunde nichts anderes, als daß es sich herumdrehte. Die Gewässer führten sie zwar im Zirkel wieder gegen die Mitte des Flusses, wo der große Strom ihnen begegnete, und Wellen machte, die vermögend waren, das Floß zu überschwemmen, wenn seine Größe und Festigkeit es nicht dagegen verteidigt hätte. Die Gewalt des Stromes aber trieb es stets wieder in die Bucht zurück; und de la Condamine wäre niemals ohne die Geschicklichkeit von vier Indianern wieder herausgekommen, die er mit einem kleinen Kanu bei sich zu behalten die Vorsicht gehabt hatte. Diese vier Leute, welche zu Lande am Ufer hingegangen waren und sich um die Bucht herumbegeben hatten, kletterten auf den Felsen hinauf, von wo sie ihm nicht ohne Mühe Bindweiden zuwarfen, welche die Seile des Landes sind, womit sie das Floß wieder in den Lauf des Stromes zogen.
   An eben dem Tag ging man über eine dritte Enge namens Guaralayo, wo das Bett des Flusses durch die Felsen zusammengezogen wird. Diese Fahrt ist aber nur bei großen Anwuchs des Wassers gefährlich. Am Abend desselben Tages traf Herr de la Condmine das große Kanu an, welches man ihm von St. Jago entgegengeschickt hatte, und das noch sechs Tage gebraucht hätte, um bis an den Ort zu kommen, von wo das Floß in zehn Stunden herabgekommen war.
   Den 10. gelangte Herr de la Condamine zu Sant Jago de las Montanjas an, ein Dorf, welches heutigentags an der Mündung eines Flusses gleichen Namens liegt, und von den Trümmern einer Stadt errichtet worden ist, die ihren Namen dem Fluß gegeben hat. Ihre Ufer werden von einer indianischen Völkerschaft mit Namen Xibaroer bewohnt, die ehemals Christen gewesen sind und sich seit hundert Jahren wider die Spanier empört hatten, um sich der Arbeit in den Goldbergwerken zu entziehen. Sie leben frei in Gehölzen, wohin niemand kommen kann, und von wo aus sie die Schiffahrt  auf dem Flusse verhindern können, auf dem man innerhalb von acht Tagen aus den Gegenden um Loxa und Cuenza herunterkommen könnte. Die Furcht vor ihrer Grausamkeit hat gemacht, daß die Einwohner von Sant Jago zweimal ihre Wohnstätten verändert haben, und daß sie seit 40 Jahren die Partei ergriffen, bis an die Mündung des Flusses in den Maranjon herunter zu fahren.
   Unterhalb von Sant Jago findet man Borja, eine Stadt, die den vorigen beinahe gleich, obgleich sie die Hauptstadt der Statthalterschaft Maynas ist, welche alle spanischen Missionen an den Ufern des Flusses umgreift. Sie ist von Sant Jago nur durch den berühmten Pongo von Manseriche abgesondert. Es ist ein Weg, den sich der Maranjon, welcher nach einem Lauf von mehr als 200 Seemeilen gegen Norden, indem er sich gegen Osten wendet, mitten durch die Gebirge der Cordilliera eröffnet, wo er sich ein Bett zwischen zwei gelichlaufenden Felsenmauern aushöhlt, die fast wie nach der Bleischnur gehauen sind. Es sind nicht viel  über hundert Jahre, daß einige spanische Soldaten von Sant Jago diese Durchfahrt entdeckten und sich als Erste darauf wagten. Zwei Jesuiten, Missionare aus der Provinz Quito, folgten ihnen gleich, und legten im Jahr 1639 die Mission zu Maynas an, die sich sehr weit den Fluß hinunter erstreckt.
   Bei der Ankunft zu Sant Jago schmeichelte sich de la Condmine, noch am selben Tage in Borja zu sein, und brauchte in der Tat nur eine Stunde, sich dahin zu begeben. Ungeachtet aber seiner zu wiederholten Malen dahin abgesandten Boten und der Empfehlungsschreiben, worauf man niemals viel Acht gehabt, war das Holz zu dem großen Floß, das worauf er über den Pongo gehen sollte, noch nicht einmal gehauen. Er ließ also seines nur durch einen neuen Umschlag fester machen, damit es die ersten Anstöße aushalten könnte, die bei den Krümmen und Umwegen aus Mangel eines Steuerruders unvermeidlich sind, dessen sich die Indianer auf den Flössen nicht bedienen. Sie haben auch, um ihre Kanus zu regieren, nur einerlei Pagaie, die ihnen als Ruder dient.
   Zu Sant Jago konnte Herr de la Condamine den Widerstand seiner Schiffsleute nicht überwinden, welche den Fluß noch nicht seicht genug fanden, um die Fahrt darauf zu wagen. Alles, was er von ihnen erhalten konnte, war, daß sie hinüberfuhren, und den günstigsten Augenblick in einer Bucht nahe bei der Einfahrt in den Pongo erwarten wollten, wo der Strom so reißend und heftig ist, daß sich das Wasser, ohne einen wirklichen Sprung zu haben, herab zu stürzen scheint, und sein Stoß gegen den Felsen macht ein fürchterliches Geräusch. Die vier Indianer aus dem Jaener-Hafen, die nicht so neugierig waren wie der reisende Franzose, den Pongo in der Nähe zu sehen, waren schon zu Lande über einen Fußsteig oder vielmehr durch eine in den Felsen gehauene Treppe vorausgegangen, um ihn in Boja zu erwarten. Er blieb wie in der vorhergehenden Nacht mit einem Schwarzen allein auf dem Floß. Eine sehr außerordentliche Begebenheit aber machte, daß er es als ein Glück ansah, daß er es nicht hatte verlassen wollen. Der Fluß, dessen Höhe um 25 Fuß in 36 Stunden abnahm, fiel noch immer mehr und mehr. Mitten in der Nacht hatte sich ein Splitter von einem sehr großen Zweig eines unter dem Wasser verborgenen Baumes zwischen die Hölzer des Floßes gesteckt, wo er mehr und mehr durchdrang, so wie es sich mit dem Wasser herunter ließ. Herr de la Condamine sah sich also in Gefahr, angehackt und mit seinem Floß in der Luft hängen zu bleiben; und der geringste Unfall, welcher ihm begegnen konnte, war, daß er seine Papiere, die Frucht seiner achtjährigen Arbeit, verlor. Endlich fand er ein Mittel, sich wieder los und das Floß flott zu machen.
   Er hatte sich seinen erzwungenen Aufenthalt zu Sant Jago zunutze gemacht, um die Breite der beiden Flüsse auf eine geometrische Art zu messen und die Winkle  zu nehmen, die ihm dienen sollten, eine besondere Karte des Pongo zu entwerfen.
   Den 12. des Juli zu Mittag, da er sich wieder auf den Fluß begeben, wurde er gar bald durch den Strom in einen engen und tiefen Gang geführt, welcher abschüssig und an einigen Orten senkrecht in den Felsen gehauen war. In weniger als einer Stunde fand er sich nach Boja geführt, wohin man drei Seemeilen von Sant Jago rechnet. Indessen konnte das Geschleppe an Holz, welches nicht einen Fuß tief ins Wasser ging, und welches wegen der ordentlichen Größe seiner Fracht, dem Widerstand der Luft, eine 7 bis 8mal größere Fläche als dem Strome des Wassers darbot, nicht alle Geschwindigkeit des Stromes annehmen; und diese Geschwindigkeit selbst verminderte sich ansehnlich, so wie das Bett des Flusses zu Borja zu breiter wurde. De la Condamine urteilte, daß sie in dem engsten Raum zwei Toisen in einer Sekunde lief. Der Kanal des Pongo, welcher von Natur aus ausgehöhlt ist, fängt eine kleine halbe Meile unterhalb Sant Jago an, und wird immer enger und enger, so daß er von 250 Toisen, die er unterhalb der Vereinigung der beiden Flüsse haben mag, nicht über 25 mehr hat.
   Zwei bis drei recht harte Stöße, die er in den Krümmen nicht vermeiden konnte, hätten ihn erschreckt, wenn er nicht schon zuvor davon wäre benachrichtigt worden. Dennoch hielt er dafür, ein Kanu würde daselbst tausendmal zersplittern. Man  zeigte ihm den Ort, wo ein Statthalter von Maynas umgekommen war. Da aber die Stücke eines Floßes nicht ineinander gefügt noch zusammengenagelt waren, so brachte die Biegsamkeit der Bindweiden, welche sie zusammenhielten, die Wirkung einer Feder hervor, welche den Stoß schwächte. Die größte Gefahr ist, wenn man aus dem Strom in einen Wirbel geführt wird. Es war noch kein Jahr her, da hatte ein Missionar, welcher dieses Unglück gehabt, zwei ganze Tage darin ohne Lebensmittel zugebracht, und wäre verhungert, wenn das schnelle Ansteigen des Flusses ihn nicht wieder in den Schuß des Wassers gebracht hätte. Man fährt nur bei niedrigem Wasser in Kanus hinunter, wenn das Kanu regiert werden kann, ohne daß es von dem Strom gar zu sehr hingerissen wird.
   Herr de la Condamine glaubte, zu Borja in einer neuen Welt zu sein, er fand sich daselbst, sagt er, von allem menschlichen Umgang entfernt, auf einem Meer von süßem Wasser, mitten in einem Labyrinth von Seen, Flüssen und Kanälen, welche von allen Seiten einen unermeßlichen Wald durchdringen, zu dem man nur durch sie allein kommen kann. Er traf neue Pflanzen, neue Tiere und neue Menschen an. Seine Augen, die seit sieben Jahren gewöhnt waren, Berge zu sehen, verloren sich in den Wolken, und konnten es nicht müde werden, den Horizont zu umlaufen.

 

La Condamine, Charles Marie de
Geschichte der zehenjährigen Reisen der Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu Paris …
Erfurt 1763

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