1838 - Jakob Philipp Fallmerayer
Auf dem Heiligen Berg Athos
Griechenland
Ein mehr als zwölf Stunden langes, zwei bis drei Stunden breites und durch eine schmale niedere Landzunge an den Kontinent gebundenes Bergeiland erhebt sich in isolierter Majestät über die tiefe Flut des Stryonischen Golfes. Das ist der Berg Athos. Langgestreckt ist die Halbinsel, nicht flach, auch nicht wellenförmig hingegossen, noch als schiefe Ebene nur auf einer Seite ansteigend, auch nicht ein mit Hügel- und Felsgewirr unregelmäßig angefülltes Konglomerat: Haldig und sanft steigt es von beiden Strandseiten gegen die Mitte empor und läuft sattelförmig mit wachsender Höhe und Steile in langen Windungen fort wie ein Tempeldach, und am Ende strotzt leibig und wohlgenährt, von drei Seiten rund aus dem Wasserspiegel heraussteigend und auf der vierten bis zur halben Höhe mit dem Waldgebirge verwachsen, einsam und frei die riesige Athoskuppel in die Lüfte, auf der Plattform ein weithin sichtbares Kirchlein, das höchste und luftigste Gotteshaus der morgenländischen Christen, zugleich Sitz der Sommerluft, der Andacht und der Windsbraut für die Athoniten. Man denke sich eine Augustnacht in Purpurflor und mit allen Reizen des Südhimmels angetan, den glatten Spiegel über bodenloser Tiefe, mildhauchende Seelüfte über die Gärten und Söller fächelnd, Nachtigallen im Rosenbusch, das lange Walddunkel die Wachtfeuer auf der Bergspitze; oder wie das Morgenrot und der erste Sonnenstahl goldfunkelnd auf die Felsenkrone fällt und weit unten auf dem Kastanienwalde noch schweigsame Nacht oder kaum das erste zweifelhafte Dämmerlicht über den Klosterzinnen am Strande liegt!
Athos ist Hochwarte des ägäischen Meeres und Leuchtturm aller Orthodoxen in Byzanz. Vom Festlande in das Meer hinausspringende Chersonese sind vorzugsweise eine Eigentümlichkeit der griechischen Welt. Ein felsiges, schroff und mühevoll zu erklimmendes Nadelholzgebirge, quer über den Isthmus streichend, hütet wie ein Säulengang das Tor zur immergrünen Baumregion des Athos, und wenn der Fremdling nach Überschreitung dieser Querwand über tiefe Schluchten und Hügel aus wildem Rosmarin den Hochpfad erklommen hat, tut sich eine Szene auf, deren Schönheit man wohl empfinden, aber nicht beschreiben kann.
Wie ein langer Silberfaden läuft über Sattelkamm und Bergschneide durch hellgrünes Gebüsch und dicht verwachsenes, efeuumranktes Baumgewühl der Hochpfad mitten durch die Halbinsel bis zum hohen Athoskegel. Bald schroff und ohne vermittelnden Übergang, bald sanft und in verlorenen Halden senkt es sich zu beiden Seiten des Weges in romantischen Vorsprüngen und verschlungenen Talwindungen oder in weitem, amphitheatralisch ausgebogenen Prachtfächern über Waldöde, über lieblich bebaute Einsiedlergehöfte, in dunklem Waldschatten, hier zum singitischen, dort zum strymonischen Golf hinab; die Sonne blitzt auf den Wasserspiegel und lockt, durch die laubigen Bäume fallend, eine Träne wehmutsvoller Erinnerung aus dem Auge des fremden Wanderers. Tief unten am Strande, in weiter Entfernung voneinander abgesondert, durch Wald und Vorgebirge getrennt, auf grüner Matte ausgebreitet oder auf meerumbrandetes Gestein mittelalterlich hingezaubert, oder in waldüberhangenen Schluchten, an rauschenden Silberbächen, zwischen Limonengärten und langwipfligen Zypressen heimatlich verborgen, erschienen die Mönchskastelle mit hohen Mauern, mit gewölbten Torgängen, mit Glockenhaus, mit Wart- und zinnenbekränzten Festungstürmen und eisenbeschlagenen Doppelflügeln zur Hut der byzantinischen Heiligtümer wider feindliche Gewalt. Das von der Natur zu beiden Seiten des Pfades in der Senkung der Bergflügel eingehaltene Ebenmaß, der bei aller Mannigfaltigkeit der Schwellung, bei allem Wechsel der Schatten, des Lichts, der üppigen Szenerie doch überall gleiche Abstand zum Bergkamm gibt dem Auge die volle Herrschaft über die wunderbare Doppelpracht. (Zwei bis drei Stunden mag das Aufsteigen vom Stande zu beiden Seiten bis zum Längsweg auf dem Bergscheitel betragen.) Der schlankstämmigen Pinie und der Weißtanne mit hellgrünen langen Nadeln begegnet man nur am Felsenportal des Eingangs und auf der oberen Region des Steinkegels. Der langgestreckte Raum zwischen beiden ist ein zusammenhängender Laubwald von Platanen, Buchen, Grüneichen, Öl-, Feigen-, Nuss- und Kastanienbäumen, von Zypressen, Weinreben, Lorbeer- und Haselstauden, von Mastixstrauch, von immergrünen Arbutuskirschen, Maulbeer- und Obststämmen aller Art – hellgrünes, luftdurchfächeltes Berggewand, wo die Myrte, die Rosenhecke, der Weißdorn, der Smilax, die Koronilla, die schattige Globularia und das saftige Grün der Efeuranke auf dem Boden, über der Steinwand und am lebendigen Kastanienzaun alle Räume füllt; wo Duft, Farbenpracht und Schmelz der Blumen überall den Sinn berauscht, wo es überall quirlt und rieselt und in langen Fäden von der waldigen Hügelterrasse fällt und fortrauscht mit Gemurmel im Erlbusch! Reitet man von der Hafenbucht herauf, an der prächtigen Abtei Xeropotamo vorüber, durch romantisches Waldgeschlinge zum Höhenkamm, trifft man mitten im Dunkelschatten des Laubwaldes, rechts am Pfade, eine grüne Alpenwiese, mit Zaumwerk künstlich eingefriedet, Sennhütte und Hürde neben Brünnlein und Bächen; es ist Mittagsglut, die schweigenden Lüfte, das Bienengesumme, der Wanderer sitzt am Born, Kastanienlaub und Alpenflor schwanken im Wasserspiegel,
quae simul aspexit liquefacts rursus in unda
non tulit ulerius
(wie der Morgentau in der Sonne, so schmilzt ihm die Seele in der Brust).
Wie jener Emir in der Alhambra können wir alle, selbst der Größte und Glücklichste, die Tage wahrer Seligkeit und innigen Entzückens aus unserem Leben ohne Mühe zusammenzählen. Ich werde einen Septemberabend in den Engtälern des kolchischen Amarantengebirges und die Mittagsrast am Wiesenplan oder Xeropotamos nie vergessen. Wie unbegreiflich, wie preislos und verächtlich doch in solchen Momenten all unser Mühen und Streben erscheint! Der Mensch ist aber nicht zum stillen Genuß, er ist zum Kampf geboren; schweigend eilt er am offenen Tor der Seligkeit vorüber und sucht sich neuen Gram.
Der Berg Athos mit dem gegenüberliegenden Küstenstrich des mazedonischen Erzgebirges (Chalkidike), möchte man glauben, sei eigentlich die Urheimat des Kastanienbaums; nirgends, selbst in Kolchis, treibt er mit solcher Fülle und Üppigkeit aus der Erde hervor; nirgends ist sein Blatt so hell und warmgrün, seine Frucht so süß, sein Wuchs so riesenhaft, die Fortpflanzung so rasch und wucherisch wie hier. Man denke ja nicht an die Magerkeit der Baumwälder in Südeuropa, oder gar an die langweilige Symmetrie und feingebürstete Ordnung unserer Hof- und Kunstgehege. Auf Hagion Oros [dem heiligen Berg] ist freie Wildnis und kunstloses, von der Wurzel an heiter und breit belaubtes, liebliches Dickicht in verschlungenen Pfaden, durch die Meisterhand für die Lust menschlichen Sinnes gepflanzt und aufgezogen. Wie es nur überall rankt und sproßt und in geiler Üppigkeit aus dem Boden dringt, ein kühnes, unsterbliches Pflanzengeschlecht mit urweltlicher Kraft von zarten, gestern geborenen Zweiglein bis zum strotzenden Strauch und durch alle Zeit- und Lebensskalen hinauf zum Mannesalter, zum Säkularbaum, zum antediluvianischen Koloss!
Dass erhitzte Phantasie und ideale Ausschmückung am Gemälde keinen Anteil haben, vielmehr jeder Pinselstrich aus Wahrheit und unmittelbarer Anschauung genommen ist, mag der Fremdling an sich selbst erproben. Er wandle nur bei schöner Zeit, wenn auch nicht über den Längenhochpfad vom Kloster Chilantari bis zum Riesenkegel, doch wenigstens über die reizende Partie oberhalb des Burgfleckens Karyäs bis zur Wegscheide, wo man vom Waldkamm in Schlangenwindungen südwärts zur Pomeranzenschlucht von St. Dionys niedersteigt. Ich zweifle, ob ein Europäer, ausgenommen Grisebach, je in diese Gegend des Berges gekommen ist, weil man in der Regel dem kürzeren Weg und bequemeren Weg zur See von der Bucht unter Xeropotamo dem romantischen Abenteuer zu Lande den Vorzug gibt. Freilich hat man wegen Empfindsamkeit und romantischen Schwärmens für prachtvolle Naturszenen und Waldeinsamkeit die Deutschen von jeher ausgelacht. Aber was soll man sagen, wenn der Bergabhang von Karyäs mit seinen luftigen Pinien, seinen Gärten, Zypressen und Rebengirlanden bis zum Kloster Iwiron hinab sogar frostigen Seelen aus den britischen Inseln als ein zweites Eden erscheint, das Baumelysium von Kereasia aber mit seinen Sturzbächen zur Zeit der Frühlingsblüte, wenn die Wasser rauschen und die Nachtigall im Busche schlägt, selbst von abgestumpften Klausnern und Weltüberwindern des Athos wie ein irdisches Paradies gepriesen wird? Nur ist alles Reden und Malen umsonst, weil die Sprache zu arm und mit einem Schlage das Panorama in seiner Farbenpracht der Seele vorzuzaubern unvermögend ist.
Daß in dieser beglückten, von der Welt abgelegenen und von der Natur selbst zum Sitze stiller Schwärmerei eingeweihten Wildnis nur Mönche wohnen und das Grundeigentum seit Jahrhunderten als fester, wohlverbriefter, unantastbarer Besitz der einundzwanzig noch bestehenden Klöster katastermäßig registriert und keine Handbreit Land schwebend und ohne Eigentümer ist; ferner, dass die Grenzscheide der einzelnen Klostergebiete schon lange und überall im Gehölz, am Bach, am Felsabhang, unter Hader, Prozess und Plünderung türkischer Austrägalgerichte festgesetzt und das ganze Gebiet für sich ein zusammenhängendes Gemeinwesen, eine feste Körperschaft mit aller im Säkularverbande herkömmlichen Ungleichheit in Vermögen, Macht, Ansehen, Erwerbsfähigkeit, Lebenspraxis, Leidenschaft und Trieb, aber mit Munizipalfreiheit und Selbstverwaltung bildet, ist zum Teil auch in Europa nicht mehr unbekannt. Nur möchte man auch von den früheren Schicksalen des grünen Chersones, von den Anfängen der Mönchskolonien, ihrer Einrichtung, ihrer Denkweise und Sitte, ihrem Wirken und Schaffen, von Büchern, Architektur, Kunst, Gelehrsamkeit und Tugendspiegel der frommen Athosväter einiges erfahren. Die Neugierde ist nicht unzeitig. Der heilige Berg mit seinem Urwald, mit seiner festverwachsenen und versteinerten Kirchenkonstitution ist Zentral- und Lebenspunkt des oströmischen Glaubens, gleichsam der Vatikan des Orients, Zielpunkt aller Sehnsüchte, Sammelplatz des Reichtums wie der kirchlichen Überlieferung, Freihafen und letzter Zufluchtsort aller Weltsatten von Byzanz, das einzige von Barbarentritt nie entweihte Fragment der orthodoxen Monarchie.
Fragt man die Mönche um eine dokumentarisch beglaubigte Geschichte des heiligen Berges und seiner Institute, erhält man überall dieselbe Antwort: es gebe keine. Aber warum macht ihr euch nicht ans Werk? Habt ihr nicht Goldbullen, Papiere, Zeit und Ruhe genug? "Wozu wäre das gut?" fragen die Väter dagegen, "wir sind hier nur vorübergehend, sind nur Gäste, die auf ihrer Wanderschaft zur Ewigkeit heut einkehren und morgen den Platz anderen überlassen; unser Geschäft ist Gebet und Kirchendienst, alles andere überflüssig."
Ich besah Karyäs und seine wahrhaft reizende Umgebung ungestört. Kern des Ortes ist die am Bergabhang sich krumm hinziehende Kaufstraße (der Basar) und ihre drei oder vier kurzen Seitengäßchen, alles mit großen Kieseln roh gepflastert und ohne Zutun der Bewohner durch die vom Berge herabsprudelnden Bäche reingehalten. In diesem Teil allein sind die Häuser städtisch aneinander gerückt und mit einer Doppelreihe niedriger Schuppen versehen, in denen Krämer und Handwerker der gewöhnlichsten Ordnung, unbeweibte Weltleute oder Kalogeri [Mönche] ihr Geschäft betreiben. Da sieht man neben den Stoff- und Esswarenhändlern bärtige Mönche, die Schuhe machen, Kleidung nähen, Eisen schmieden, Magazine mit heiligem Schnitzwerk aus Horn und Buchs, Kirchenzierraten, gemalten Bildern, Korallen, Farben und hölzerne Löffeln halten, und zur Erleichterung des Verkehrs auch kleinen Wechsel treiben. Einsiedler voll Kasteiung und Schmutz schleppen in weiten Haarsäcken ihr rohes Fabrikat zu Markt; Regierungsmitglieder sitzen an den Auslagen ihrer arbeitenden Brüder und heimgarten über den Gang der Beratungen, über schwebende Prozesse; aber alles ohne Geräusch, ohne Zank, ohne Leidenschaft; in Karyäs is niemand zornig, redet niemand laut, es ist wie im Mohnpalast des Schlafes, man sieht, dass sie Hände und Lippen bewegen, hört aber ihre Stimme nicht, gebannte Geister, Schattenbilder ohne Nerv und Blut.
In Karyäs fehlt das Weib und mit ihm die Familie, die häusliche Sorge, die Eleganz der Sitte und das Putzes, die Elektrizität der Lebensgeister, die Begierde und aller nachhaltiger Trieb menschlicher Bestrebung. Außerhalb dieses festen Mittelpunktes sieht man in Gärten, unter Weinlaubgirlanden, Haselnuss- und Maulbeerpflanzungen, an Bächen und plätschernden Brunnen überall hin zerstreute Steingebäude mit Söller, Kapelle und Glocken bald in Gruppen, bald einzeln stehend, und jenseits dieser zweiten Region auf der ansteigenden Halde dicht hinter dem Basar und der Klosterkirche eine dritte: aus Zypressen und Pinien hervorblickende Einsiedeleien, Wohntürme mit helldunklen Zimmern und gotischen Fensterbögen, Heiligtümer auf beranktem Felsen, Waldhütten und luftige Sommersitze; unterhalb des Städtchens aber, in einer Niederung, kaum eine Viertelstunde entfernt, zwischen Gartenflor, Rasen, Wassergesprudel und Laubschatten das kleine neugebaute Kloster Kutlumusi mit Bogengängen und weittönenden Glocken; das Ganze ein ineinander rinnendes entzückendes Naturgemälde mit Kastaniengrün, Buschwerk, Schluchten und Hochwald in weitem Rahmen eingefaßt. – Bild der Glückseligkeit und der süßen Schwärmerei! Warum bin ich wieder nach Europa zurück gegangen! Warum habe ich noch einmal die Seelenqual und die Winternebel Germaniens um Deinen Frieden und Deinen ewigen Frühling eingetauscht!
Bis Sonnenuntergang schwärmte ich allein im Lustrevier, und erst am anderen Tag spät ritten wir, Karyäs verlassend, quer durch das Dickicht des Waldabhangs zum Hochkamm hinauf und über die Schneide fort. Sanft ansteigend, wohl drei Stunden lang durch Baumdunkel bis nahe an den Ort, wo sich die furchtbare Felswand der Athospyramide senkrecht aus der düsteren Schattenregion in die Lüfte schwingt. An vielen Stellen ist die Bergscheide nicht breiter als der Reitweg, und links und rechts fallen die waldigen Seitenflügel ohne Vorberg und Übergang, wie der Athoskegel selbst, unmittelbar vom höchsten Kamm zum Strand hinab.
Vergessen Sie ja nicht, was ich früher von der Reisenfülle und Lebenskraft des Pflanzenwuchses dieser Gegend schrieb. Denken Sie noch den sonnig warmen Mittag, die herbstlichen Tinten der Luft und das schwärzlich blaue Wasserpanorama mit Olymp und Halbinsel Sithonia auf der einen, mit Thasos, Samothrake und dem thrakischen Pangäus auf der anderen Seite, und Sie werden begreifen, was man auf dreistündigem Ritt über eine solche Szene empfunden hat. Die Sonne war schon durch den Meridian gegangen und wandte den Lauf abendwärts, als wir von dem Höhenpfad rechts ausbogen und in die grüne Steilschlucht von St. Dionys niederstiegen – melancholisches Sinnbild des eigenen Lebens am Wendepunkt! Die Linie ist schon überschritten und die "anni recedentes" werfen ihre Schatten morgenwärts. Von der Tanne am Kamm steigen wir durch alle Regionen des Laubwaldes fünf Viertelstunden lang ohne Milderung bis zur Pomeranze des Strandes herab.
Das Archotalik (Herrenwohnung) von St. Dionys hat etwas ungewöhnlich Heimatliches; das größere oder das Winterzimmer, mit Matten und farbigen Teppichen, mit laufendem Diwan, einer Wandschlafstätte und mit italienischem Kamin geschmückt, erhält das Licht hauptsächlich von der Decke und nur zum Teil durch zwei innere Fenster vom anstoßenden kleineren Sommerzimmer: Letzteres, auf drei Seiten frei und durch doppelte Fensterreihen erhellt, springt nach byzantinischer Architektur über die Hauptmauer des unteren Stockes vor und schwebt gleichsam frei über dem Abgrund von wenigstens dreißig Menschenlängen senkrechterTiefe. Das Auge überblickt den Golf, das Tafelland Chalkidike, den thessalischen Olymp und das gebirgige Langeiland Sithonia auf der einen, die grüne Waldschlucht bis zum Kamm auf der anderen und den kleinen Athoskegel auf der dritten Seite.
Höflich und gastlich sind, wie man sagt, die Athosmönche überall, gefühlvoll und herzlich schienen sie mir aber vorzugsweise im wohl regierten St. Dionys. Ist die abgeschlossene, dem Fremdenzug ungleich weniger ausgesetzte Lage des Klosters etwa schon genügend, um die harmlosere Natur seiner Bewohner zu erklären, oder fällt der Ruhm zum Teil auf die altererbte Strenge dionysischer Disziplin und auf die vortreffliche Leitung des gegenwärtigen Abtes zurück? Vater Gerasimus, vor zwei Jahren noch, er sagte es mir selber, Weltmensch und Sünder in Konstantinopel, jetzt aber strenger Büßer in St. Dionys, führte uns in die Wohnung ein und leistete uns Gesellschaft, während ein bulgarischer Laienbruder Küchen- und Zimmerdienst besorgte. Etwa eine Stunde redeten wir über die korrupte Natur des Menschen, über die Sittenverderbnis der Welt im allgemeinen und von Konstantinopel im besonderen, und kamen am Schluss zur gemeinschaftlichen Überzeugung, dass in weltlichem Verband die Leidenschaft auch beim redlichsten Willen nicht zu bändigen, und siegreicher Kampf nur mit Hilfe strenger Klausur wie in St. Dionys zu bestehen sei. Vater Gerasimus und ich verstanden uns vollkommen, unterhielten uns sehr gut, und schieden voll gegenseitiger Erbauung schon nach dem ersten Dialog als die besten Freunde voneinander. Für Leute in permanenter Klausnerexaltation hat der Drang, ihr Lebensinstitut zu rechtfertigen, etwas Unwiderstehliches. Übrigens waren mir die byzantinischen Studien und das gute Gedächtnis an diesem Abend besonders nützlich; denn sicherlich hat ein melancholisch frommes Zitat aus Johannes Damascenus in St. Dionys mein Glück gemacht und hauptsächlich den Sinn des Vorstandes zur Willfährigkeit gegen mein Petitum gelenkt: "Wie eine Blume verwelkt und wie ein Traum vergeht und zerfließt der Mensch."
Vater Gerasimus fand den Spruch ebenso schön wie treffend, und die freundliche Mine des Abtes, vor dem ich am anderen Morgen erschien, sagte deutlich genug, dass er in mir weniger den irrgläubigen Abendländer als den Freund und Lobredner seines weltüberwindenden Institutes sah. Die Würdenträger saßen dem Igumenos zur Seite und hörten nicht ohne sichtbares Vergnügen eine kurze Schilderung des Reiches Trapezunt, der Comnenischen Geschicke, meiner Arbeiten und meiner Wünsche. Mit Überreichung des Bücherverzeichnisses gab man mir volle Freiheit, mich in der Bibliothek umzusehen, zu kopieren und zu tun, was mit beliebe. Nur wie ich auch die Goldbulle ihres kaiserlichen Stifters, diesen verborgenen, unbekannten und mit Eifersucht bewahrten Klosterschatz zu sehen und abzuschreiben begehrte, erschraken die frommen Väter ein wenig und sahen einander verlegend und fragend an. Woher ich denn wisse, dass sie dergleichen besitzen, da dieses Kleinod, so viel ihnen bekannt, ein Ausländer noch nie verlangt und gesehen habe? Freundliche Worte besiegten am Ende ihre behutsame Scheu und eine Kommission brachte feierlich den heiligen Schrein mit der kostbaren Reliquie des Imperators von Trapezunt. Es ist eine anderthalb Fuß breite und fünfzehn Fuß lange Papierrolle, mit farbigen Randarabseken und wundervoll verschlungenen Zügen ausgeschmückt. Die Doxologie (das Bismillah der Mohammedaner) am Eingang ist in zwei Zolle hohen, halb goldenen, halb lasurblauen Buchstaben mit besonderer Pracht geschrieben und nach byzantinischem Kanzleibrauch das Wort "Majestät" samt Unterschrift des Herrschers überall in Purpurtinte ausgedrückt. Die größte Zierde des Dokuments aber sind die die beiden Standbilder des Autokraten Alexius und seiner Gemahlin Theodora durch die Hand trapezuntischer Meister oberhalb des Textes, sechzehn Zoll hoch, mit Farben und im vollen Kaiserornat kunstreich und wunderschön aufgetragen, damit in solcher Weise nicht nur das Andenken kaiserlicher Frömmigkeit, sondern auch die Gesichtslinien, das Kleid, die Gold-und Perlenstickerei und der reiche Schmuck an Edelsteinen des kolchischen Selbstherrschers auf die Nachwelt übergehen.
Die Lage des Klosters mit seinen Terrassengärten und seinem hohen, gotisch ausgezacktem Zinnenturm auf der meerbespülten Seitenböschung der einsamen, fast senkrecht aufsteigenden Schlucht macht einen tief melancholischen Eindruck, dem sich das Gemüt nur zu gerne überläßt. Das Orangendelta an der Mündung des Sturzbaches ist nicht breiter als ein Flintenschuß, die Tiefe nicht über zehn Minuten, und auf beiden Talseiten unersteiglicher, grünbewachsener Schieferrand. Denken Sie noch fünf Stockwerke mit Holzsöllern übereinander gegen die See hinaus, in der Mitte den altersbraunen, großen Steinturm über das kräftige Mauerwerk und den Klosterdom hoch in die Lüfte ragend, und Sie haben das Bild von St. Dionys. Die erste Gründung sämtlicher Klostergebäude mit der Wasserleitung verschlang die bedeutende Summe von 10 Millionen Silberpfennigen oder Handelsaspern, die als fromme Gabe innerhalb von drei Jahren aus dem Schatz des Kaisers Alexius floss. Man mußte aber auch, um den nötigen Raum zu gewinnen, zuerst den Felsen abplatten und einen zyklopischen Unterbau aus der Tiefe heraufführen. Der Festungsturm ist so mächtig, dass er in Zeiten der Gefahr die ganze Klostereinwohnerschaft aufnehmen und beschirmen konnte. Den Eingang aber hat man wie bei den Pyramiden wenigstens 60 Fuß über der Grundfläche auf einer Blumenestrade angebracht, wo ich, verführt durch die milden Lüfte, nachts allein lange saß. Der Vollmond hing über dem Verlies, Licht und Schatten wechselten in geisterhaftem Spiel, kein Blatt rauschte, das Meer glitzerte, die Mönche schliefen. Welche Gedanken! Welche Ruhe über der Burg! Welches Schweigen in der grünen Schlucht!
Fallmerayer, Jakob Philipp
Schriften und Tagebücher
Band 2: Fragmente aus dem Orient
München und Leipzig 1913