1901 - Richard Kandt
Hagelschlag im Urwald
Kongo, zwischen Lake Kivu und Lake Edward
Was ich all die Tage im geheimen befürchtet habe, daß meine Leute so erschöpft sind, daß irgendein außerordentliches Ereignis eine Katastrophe herbeiführen kann, das ist gestern eingetroffen. Nun habe ich einen Mann begraben, zwei sind so schwer krank, daß sie ihm binnen kurzem nachfolgen werden; einige liegen halb irr in ihren Zelten und die anderen sind zum großen Teil so schwach, daß, wenn nicht bald bessere Zeiten kommen, wir alle zugrundgehen. Was war denn geschehen? Nichts weiter als ein Hagelschlag im Urwald. Gerade die scheinbar allergewöhnlichsten Erlebnisse sind im Inneren Afrikas die schlimmsten und auch die undankbarsten für den Erzähler. Wer von uns wurde noch nicht von Regen und Hagel überrascht? Aber das ist der Unterschied zwischen einem Unwetter in Europa und dem afrikanischen Urwald, daß hier die Folgen eintreten konnten, die ich eben erwähnte. (Als ein Jahr später Missionare den schmalen, kaum 3/4 Stunden langen Urwald der anderen Seeseite passierten, noch dazu mit frischen, nicht ausgehungerten Leuten, die sie am gleichen Tage in den Dörfern gemietet hatten, wurden sie von einem Gewitter überrascht. Als sie ins Lager kamen, vermißten sie drei Träger, die sie am anderen Morgen suchten und neben ihren Lasten tot am Wege liegen fanden. Wohlgemerkt: Nicht durch Blitzschlag, sondern nur durch die Schrecken des Unwetters im Walde.)
Ich will versuchen, auf Grund meiner Notizen vom 16. Februar dem Leser ein Bild dieses Tages zu geben, aber ich weiß von vorneherein, daß es nur ein Schatten der Wirklichkeit sein wird; und wenn ich mir vornähme, mit allen Kräften zu übertreiben, es bliebe doch nur ein matter Reflex des Erlebten.
Der Marsch begann gestern gleich anstrengend. Wir erstiegen einen hohen steilen Berg, auf dem bis in den Grund zerstörte Dörfer für den Vandalismus der Waregga zeugten. Dann kamen wie in eine Gegend, die wohl auch früher unbewohnt war, und traten allmählich in Urwald ein. Das Wetter war heiter, der Boden nicht schlüpfrig, der Weg nicht verwachsen, die Vegetation herrlich, so daß ich die Mühe der kartographischen Arbeit infolge mangelnder Orientierung gern übersah. Nach zwei Stunden ermüdender, aber nicht zu arger Steigungen machte ich eine kurze Pause. Als ich aufbrach, trafen gerade die letzten Träger ein, und alles schien verhältnismäßig guter Dinge. Ich konnte keinesfalls im Pori [Ödland] lagern, sondern mußte einen ergiebigen Marsch machen, um endlich in bewohnte Gegenden zu kommen und Gelegenheit zum Nahrungskauf zu haben, denn es war bereits der vierte Tag, den die Karawane bei ungenügender Ernährung zubrachte.
Bald nach Antritt des Weitermarsches verdunkelte sich der Himmel, und von fern her hörte man dumpfen Donner. Vergebens suchte unser eingeborener Führer durch grelles Pfeifen und schrillenden Gesang den Regen zu beschwören, vergebens schüttelte er, während ich vorwärtstrieb, seine Lanze, an deren Spitze er ein Horn gebunden hatte, gegen den Himmel; umsonst rief er den Leuten immer wieder zu, sie möchten beim Überschreiten der Rinnsale ihre Speere nicht ins Wasser tauchen. Die Götter spotteten seiner, und es brach über uns herein und dauerte nur wenige Minuten, bis der wildeste Kampf der finsteren Gewalten entfesselt war. Der Regen vermischte sich rasch mit Hagel, und ich suchte mit zwei Boys Schutz im dichtesten Dickicht.
Wo nehme ich die Worte her, um einen Begriff von dem Höllenlärm zu geben, der jetzt durch den Wald toste? Das war kein Donner, wie ich ihn kannte, das rollte nicht und polterte nicht, nein, das war, als führen tausend Riesenschwerter zischend durch die Luft, als klirrten tausend Riesenschilde wütend gegeneinander, und dann wieder krachte es, als berste die Erde an hundert Stellen und wolle alle Kreatur verschlingen. Das brüllte und heulte und raste über uns und schüttelte die Kronen der gigantischen Bäume, daß sie sich tief herabbeugten und die Äste wie fliegende Haare alle nach einer Seite gezogen wurden und das welke Holz prasselnd herabfiel; das schlug und preschte und peitschte auf das Blätterdach des Unterholzes, daß das Laub bald in Fetzen an den Zweigen hing; das trieb und jagte und wirbelte Blüten und Beeren und Blätter in wildem Tanz umher, daß es aussah, als flöhen sie wie erschreckte Vögelchen von unsichtbaren Feinden bald hierhin, bald dorthin, und nirgends Ruhe findend. Und in den Schluchten tobte das Wasser, und der Sturm fing sich in ihren engsten Rissen und Spalten, daß es unter uns pfiff und brauste und kreischte und lachte und ächzte, als öffne die Unterwelt ihre Gräber, als wollten die Toten alles Lebendige zu sich herabziehen. Nie in meinem Leben habe ich Gewitter gefürchtet, an diesem Tag lernte ich das Zittern.
Indessen saß ich im Dickicht; das Wasser ergoß sich von allen Zweigen auf uns, floß mir in den Nacken und den Rücken entlang, und bald triefte ich am ganzen Leibe; der Hagel war erbsengroß, aber der Sturm warf ihn mit solcher Gewalt durch das Gezweig, daß ich Kopf und Hände bald hier, bald dort umsonst zu verstecken suchte. Der Regen war kalt, hundekalt, eiskalt, und ich fror und schauerte in meinem dünnen Zeug, das überall am Körper klebte, bis in die Knochen, und der Regen strömte und strömte auf uns herab, immer tiefer versanken die Füße im Morast, immer stärker fror ich und bebte mit verklammten Händen, und der Regen strömte und strömte, immer wilder jagten die Bäche an uns vorbei, in die sich die tiefeingetretenen Wege verwandelt hatten, und bespritzten uns mit ihrem schmutzigen Wasser, und der Regen strömte und strömte, und über uns toste der Lärm der Lüfte.
Ich gestehe, als ich so im Dickicht kauerte und fror – nie in meinem Leben fror ich so – da kam mir einen Moment der feige Gedanke, mich hinzuwerfen und mich nicht mehr zu rühren; was liegt am Tod, nur nicht mehr sich wehren müssen. Endlich ließ wenigstens der Hagel nach, ich raffte mich auf und marschierte weiter. Von den Leuten hatte ich nichts mehr gesehen, aber ich hatte gesehen, wie meine Boys grau und aschfarben wurden und Furcht und Frost ihnen alle Glieder schlug, und ich wußte, daß, wenn ich nicht bald ein Lager fand, wir alle zugrunde gehen. Zum erstenmal auf meiner neunzehnmonatlichen Reise mußte ich die Aufnahme des Weges unterbrechen. Ich marschierte weiter, aber das war kein Marschieren, das war ein Gleiten, Stürzen, Klettern, Rutschen, Fallen. Der Weg war zum Wildbach geworden; an tiefen Stellen, wo auf ebenem Wege ein querlaufender Stamm oder Wurzelwerk eine Art Stauwerk bildete, stand das eisige Wasser und reichte uns bis zum Knie; und die Luft war, als der Regen endlich aufhörte, rein, aber schauerlich kalt.
Ich wollte, um dem ein Ende zu machen, mehrmals an ganz unmöglichen Stellen lagern, wo höchstens Raum, genug war, um mir eine Schilfhütte roh zusammenzuschlagen, aber der Führer jagte mich durch die Aussicht auf einen guten Platz immer wieder vorwärts. Endlich lichtete sich der Wald, wir überschritten einen reißenden Fluß, die Bäume stehen vereinzelter, Riesenfarne verdrängen das Unterholz und zuletzt treten wir, was ich kaum noch zu hoffen wagte, ins Freie. Ein kahles gebirgiges Grasland, ohne Strauch und Baum, selbst ohne Bananen, dehnte sich endlos, endlos vor uns aus. In trostlos weiter Ferne sieht man auch Hütten, aber sie schienen unbewohnt, kein Rauch steigt von ihnen auf. Das Land heißt Kischari. Überall an unserem Weg liegt noch der Hagel, der, als er den Abhang herabrollte, in allen Vertiefungen hängen blieb und sich zu großen Haufen aufschichtete. Um 3 Uhr – 4 Stunden waren seit Beginn des Unwetters verstrichen – hielt ich mit den Führern und einigen Askaris auf einem langgestreckten Kamm. Die Sonne bricht für Augenblicke durch das graue Dunkel, aber bald verschwindet sie wieder hinter Wolken, ein kalter Wind weht uns feuchten Nebel zu, der wie Dampf aus allen Tälern und Schluchten aufsteigt, und ich werde wie ein Fieberkranker vom Frost geschüttelt, daß mir die Zähne heftig gegeneinander schlagen.
Aber nach einer Stunde kamen die ersten Träger, zum Glück auch das Zelt und – ein Frottiertuch, und ich wurde wieder Mensch. Um 5 Uhr erscheint ein größerer Trupp, unter anderem der Träger der Bettlast; sie ist durchnäßt, weil sie der schützenden Hülle entbehrt, seitdem ein Jahr vorher am Njawarongo ein Dieb die Geschmacklosigkeit hatte, mir eines nachts den wasserdichten Segeltuchsack zu stehlen und irgendeiner mir dunklen Bestimmung zuzuführen. Im 1/2 6 meldet man mir, daß einige Leute unterwegs liegengeblieben oder unfähig oder zu schlaff sind, um weiterzugehen; so muß ich eine Viertelstunde danach mit 2 Askaris den Weg zurückkehren.
Nach Sonnenuntergang erreichen wir den Fluß am Urwaldrande. Zwei Träger liegen jenseits neben ihren Lasten; Finesse, der alte Mnjampara [Aufseher über die Träger] läuft wie ein wildes Tier im Käfig unter den Uferbäumen auf und ab, und ein kleiner Askariboy kauert neben dem Wasser, murmelt vor sich hin und wirft einen Stein nach dem anderen in den Fluß, als wollte er ihn damit ausfüllen. Ich rede den Trägern zu, aber sie erklären apathisch, lieber sterben zu wollen, als sich zu erheben; sie wiederholen es, als ich ihnen sage, daß das Lager nahe sei. Ich wende mich an Finesse, aber er schüttelt nur den Kopf und ruft wohl zehnmal hintereinander in kläglichem Ton „nakufa baba“, „ich sterbe, Vater“ und setzt seine Wanderung fort. Mit dem Jungen aber ist gar nichts zu wollen; er sieht mich nur verständnislos an, rollt mit den Augen, murmelt immer denselben unsinnigen Zischlaut und greift nach einem neuen Stein. Der Peppo [hysterischer Anfall] hat ihn gepackt, sagen die Askaris. Und nun – es mußte etwas geschehen. Der Regen hatte bereits unterwegs wieder begonnen, jetzt fäll er stärker, es dunkelt rasch und hinter dem Waldrand herrscht schon Finsternis. Ich versuche es noch einmal mit Zureden, aber als das alles nichts hilft, suche ich mir nach Xenophons Rezept einen Stock und prügle auf sie ein. Sie werden es mir noch einmal danken. Solchermaßen treibe ich sie zum Lager. Noch fehlen viele Träger, aber ich kann in dieser schwarzen Nacht nicht n och einmal umkehren; auch würde ich selbst zusammenbrechen.
Trotzdem ich todmüde bin, kann ich in dem feuchten Bett nicht einschlafen; überdies quält mich das Bild der Leute, die diese Nacht ohne Feuer und Essen im Urwald zubringen müssen. Um Mitternacht treffen sie noch ein; ein einziger sei allein im Walde zurückgeblieben.
Sobald der heutige Tag graute, brach ich mit einigen Leuten auf, den Träger Semakweli, einen kräftigen hübschen Burschen vom Rufidji, zu suchen. Mir schwant das Schlimmste. Nach einer Stunde fanden wir ihn; mitten auf dem tief eingetretenen schmalen Pfade lag er quer über einem Wurzelstück auf dem Bauch. Der Kopf und die Brust tiefer. Das Gesicht war in den Schlamm gedrückt, die Hände gekrallt, Mund und Nase voller Erde. Es war schon kalt und starr. Entweder war er hier zusammengebrochen und, zu schwach, um sich zu erheben, in der Pfütze ertrunken, oder er hatte demselben Gedanken, der mich gestern einen Moment gefaßt hatte, nachgegeben und hatte sich wie die Träger am Fluß hingeworfen, um zu sterben. Seine Last liegt zerbrochen nicht weit von ihm, die Bücher und Diarien, die sie enthielt, sind über den Weg verstreut und in schrecklichem Zustande. Ich suche alles zusammen, aber einige Tagebücher sind fortgeschwemmt und nicht mehr zu finden, zum Glück nicht geographischen Inhalts. Ich schickte ins Lager, um Schaufeln zu holen, und wir begruben ihn im Dickicht abseits des Weges nach dem Ritus seines Glaubens. Wir hatten noch nicht die letzte Scholle auf sein Grab geworfen, als wieder neuer Regen und Hagel losbrach und die Wege in Bäche verwandelte, aber heute berührt es mich wenig, weil ich ein trockenes Lager nahe wußte.
Kandt, Richard
Caput Nili. Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils
Reprint der 6. Auflage Berlin 1921; Koblenz 1991