1911 - Georg Wegener
Auf dem Irrawadi
Myanmar
Wieviel Tage ich nun schon auf diesem breiten, herrlichen Strom aufwärts fahre, weiß ich kaum; sie fließen für mich einer in den andern hinüber, immer einander gleich in den unendlich einfachen Grundformen ihres Inhalts, immer tiefer und tiefer aber gebadet in Glanz und Frieden. Mandalay, die Märchenstadt, die schwermutübergossene, mit ihren seltsamen Tempeln und Palästen, Wundern einer fremdartig hohen Kunst, die unrettbar dem Untergange geweiht sind, liegt schon weit hinter mir; morgen soll ich Bhamo erreichen, jenen entlegenen Grenzort Birma, von wo die uralte Handelsstraße nach China hinübergeht. Wundervolle Weltferne atmet alles um mich herum. Und Schönheit!
Wie schön in der Tat, vollendet schön, ist diese Landschaft: ganz einfach und ganz groß. Im Vordergrund des Bildes immer der majestätische Strom, breit wie eine Folge von Seen, und glatt und spiegelnd wie solche. Oft ist seine Fläche ganz einsam, soweit das Auge trägt; öfters noch ist sie aber reich belebt. Gewaltige Flöße treiben stromab, die Schätze von Birmas unermeßlichen Wäldern dem Delta zuführen. Kleine Eingeborenen-Kanus eilen dahin, aus einem Einbaum geschnitten, so leicht, daß sie kaum ins Wasser eintauchen und ihre umgekehrtes Spiegelbild nur eben zu berühren scheinen. Oder die stattlichen großen birmanischen Ruderschiffe mit ihrem mittelalterlich hohen Hinteraufbau und ihren kühngeschwungenen und mit künstlerisch anmutigem Schnitzwerk gezierten Vordersteven. Hier und dort auch ein flüchtiger Hauch Europa, ein mit Kargo aller Art beladenes Schwesterschiff des meinigen, ein Flußdampfer der Irrawaddi-Flottilla-Company, der mächtigen Handelsgesellschaft, die das gesamte Stromsystem Birmas erschließt und beherrscht.
Zwei Uferstreifen umrahmen diesen Stromspiegel, an deren wechselreicher Gestaltenfülle das Auge sich nicht sattsehen kann. Hier scharen sich Palmen zu dichten Gruppen zusammen, dort ragen sie gesondert auf und zeichnen die Umrisse ihrer vornehmen Kronen charaktervoll gegen den Himmel ab. Hier tritt üppiges Urwalddickicht wie eine undurchdringliche Wand hart an den Fluß, dort reihen sich einzelne Riesenlaubbäume am Ufer, deren jeder von besonderem Wuchs ist, von herrlicher Entfaltung, mit seltsam gewundenem, kraftvoll gezeichnetem Stamm, schlangenartigem Wurzelwerk und königlichem Wipfel. Oder Bambusbüschel schießen empor, gigantischen Straußenfedern vergleichbar. Ein wunderbarer Schmuck von hinreißender Schönheit sind die statt mit Blättern ganz und gar mit hellroten Blumen bedeckten Bäume, die überall zwischen dem Grün verteilt sind und weithin leuchten. „Flames of the forest“ ist ihr poetischer und bezeichnender englischer Name; den botanischen kann ich nicht erfahren. Bald fällt der Strand in einem hohen Steilrand hernieder in das braune gurgelnde Wasser, bald ist er flach und breit, weiße Sandbänke lagern davor. Auf ihm – gewöhnlich auf dem hohen Ufer, um der Überschwemmungsgefahr zu entgehen – liegen am Strom aufgereiht die Dörfer und Städtchen der Birmanen: Reihen sauber anzusehender Häuschen aus Holz und Bambusgeflecht, jedes auf Pfählen mehr oder minder hoch über dem Boden, damit die feuchte Luft der Regenzeit frei darunter durchspielen kann, und wunderhübsch hineingebettet in das dichte Grün. Schmale Pfade, zuweilen auch lange Holztreppen, führen zum Flusse hinab. Oben am Rande, gewöhnlich auf dem am meisten ins Auge fallenden Punkte, einem Vorsprung des Ufers oder einem Hügel, liegt, von Palmyra-Palmen umgeben, die Pagode; der glockenförmige Unterbau weiß getüncht, die schlanke Spitze mit dem „Hti“, dem Sinnbild des Ehrenschirms, in funkelnder Vergoldung und behängt mit Glöckchen, die zart und leise im Winde selbst erklingen. Öfters sind es ihrer mehrere, ja ganze Gruppen in allen Stufen des Alters: von dem ganz jungen Neubau, der wie frischgefallener Schnee schimmert, bis zur altersgrauen, zerbröckelnden, von wildem Gerank überwucherten Ruine. Überall, in der Nähe und Ferne, zu Dutzenden, zu Hunderten nicht selten, grüßen diese Pagoden, die Wahrzeichen Birmas und seiner buddhistischen Frömmigkeit; wie fremdartige, weiße Riesenblumen erblühen sie auf allen Gehängen, auf jedem über die Umgebung aufragenden Berge. Hölzerne Miniaturklöster erheben sich neben ihnen und wunderliche Greifen- oder Löwengestalten, oft von riesiger Größe, mit Hakenschnäbeln, Flügeln und grellfarbigen großen Rundaugen, bewachen die Eingänge. Seltsamer als das phantastischste Märchen berührt es oft, wenn man mitten in einsamer Waldgegend plötzlich diese steinernen grotesken Fabeltiere, halb unheimlich, halb humoristisch glotzend, aus dichtem Grün hervortreten sieht.
Dies alles ist dann im Hintergrunde zuletzt eingefaßt von einer wundervollen Weite. Ferne, blaue Gebirge in reizvollen Schwingungen begrenzen den Blick; aber sie umschränken ihn weniger, als sie ihm Flügel zu leihen schienen ins Geheimnisvolle, Unerforschte hinein. Unsagbar schön ist das götterhafte Licht, das vom hellen Himmel mit seinen klassisch geformten weißen Wolkenballen herniederströmt, auf den weiten Wassern sich spiegelt und von ihnen wieder zurückströmt in den zartesten Farbtönungen, die denkbar sind. Es ist ein ästhetisch feiner Genuß, diese delikaten, wie Perlmutter opalisierenden Schattierungen auf Wasser, Himmel und fernen Bergen zu verfolgen; eine ganz kleine Spanne in der Skala der Töne, aber von einem unendlichen Reichtum der Abstufungen.
Wegener, Georg
Der Zaubermantel
3. Auflage, Leipzig 1920