1897 - Henry S. Landor
Tibetisches Nomadenleben
Standort nicht genau fixierbar
Wir steuerten kühn auf das Lager los. Zuerst verursachte unser Näherkommen eine große Bewegung, hastig wurden Yaks und Schafe vor uns weggetrieben, während Männer und Frauen in scheinbar großer Aufregung in die Zelte hinein- und wieder herausstürzten. Acht oder zehn Männer kamen zögernd vorwärts und baten uns in das Innere eines großen Zeltes einzutreten. Sie wünschten, wie sie sagten, mit uns zu sprechen, und wollten uns gern Tee anbieten. Da ich Verrat argwöhnte, nahm ich ihre Einladung nicht an, sondern ging quer durch das Lager und machte erst ungefähr 300 Meter jenseits desselben Halt. Nachher begaben [der indische Diener] Tschanden Sing und ich uns auf eine Runde durch alle Zelte, bemüht, Nahrungsmittel einzukaufen, aber auch um zu zeigen, dass, wenn wir uns vorher geweigert hatten, in ein Zelt einzutreten, dies keineswegs aus Furcht geschehen sei, sondern nur, weil wir uns nicht gern in einer Falle fangen lassen wollten.
Unsere Besuche in den verschiedenen Golingtschas oder Gurr waren interessant genug.
Die Zelte waren sehr geschickt konstruiert und den Verhältnissen des Landes, in dem sie zur Anwendung kamen, ausgezeichnet angepasst. Auch die verschiedenen Einrichtungsgegenstände im Innern zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Von schwarzer Farbe, waren die Zelte aus Yakhaaren gewebt, deren natürliche Fettigkeit sie vollständig wasserdicht machte. Sie bestanden aus zwei Stücken dieses dicken Stoffes, die an jedem Ende des oberen Zeltteils von zwei Pfählen getragen wurden; oben hatten sie eine längliche Öffnung, durch die der Rauch des in der Hütte brennenden Feuers entweichen konnte. Die Grundfläche der größeren Zelte ist ein Oval; das Dach befindet sich gewöhnlich ungefähr zwei Meter hoch über dem Boden und wird vermittels langer Stricke, die über hohe Pfähle gehen und mit Pflöcken in der Erde befestigt sind, sehr straff gespannt gehalten. Man verwendet hierzu hölzerne und eiserne Pflöcke, von denen sehr viele nötig sind, um das Zelt ringsherum so fest und dicht am Boden zu halten, dass es seine Bewohner gegen die scharfen Winde der Hochebene schützt. Hohe Stangen, gewöhnlich vier, mit weißen fliegenden Gebeten sind vor jedem Zelt zu sehen, oder auch in jeder Himmelgegend eine, wobei der Osten als Ausgangspunkt genommen wird.
Rings um das Innere der größeren Zelte wird eine zwei bis drei Fuß hohe Erdmauer aufgeführt, die den Zweck hat, noch mehr gegen Wind, Regen und Schnee schützen. Manchmal werden diese Mauern aus getrockneten Mist hergestellt, der mit der Zeit als Brennmaterial verwendet wird. Zum Betreten des Zeltes sind zwei Öffnungen vorhanden, an jedem Ende eine; doch wird die gegen den Wind gerichtete immer vermittelst Ösen und hölzerner Riegel verschlossen gehalten.
Der Tibetaner ist ein geborener Nomade und wechselt seinen Wohnsitz mit den Jahreszeiten oder je nachdem er Weideplätze für seine Yaks und Schafe finden kann; aber wenn er auch keine feste Wohnung hat, versteht er doch, es sich behaglich zu machen, und führt alles mit sich, dessen er bedarf. So fängt er z. B. damit an, sich in der Mitte seines Zeltes einen Goling, einen Herd aus Erde und Steinen, zu bauen, der einen Meter hoch, anderthalb lang und einen halben Meter breit ist und zwei, drei oder mehr Zuglöcher hat. Mit dieser sinnreichen Einrichtung bringt er es fertig, die Verbrennung des getrockneten Mistes zu beschleunigen, der das schwierigste Brennmaterial ist. Auf der oberen Seite dieses Ofens wird ein passender Platz für die verschiedenen Raksangs, die großen messingenen Töpfe und Schalen, gemacht, in denen der Ziegeltee, nachdem er in einem steinernen oder hölzernen Mörser regelrecht zerstampft worden ist, gekocht und mit einem langen Messinglöffel umgerührt wird. Ein tragbares eisernes Gestell, auf welches sie die heißen Gefäße, in denen der Tee gebraut worden ist, setzen, wenn sie dieselben vom Feuer nehmen, liegt gewöhnlich irgendwo im Zelt umher. Dicht daneben steht der Toxzum oder Tongbo, ein zylindrisches hölzernes Butterfass mit einem Deckel, durch den ein Stempel geht. Man gebraucht es, um darin den Tee mit Butter und Salz in derselben Weise zu vermischen, die ich als bei den Schokas üblich schon weiter oben beschrieben habe.
Die hölzernen Becher oder Schalen, deren sich die Tibetaner bedienen, werden Puku, Fruh oder Cariel genannt; aus ihnen wird auch Tsamba gegessen, nachdem man Tee darauf gegossen und das Gemisch mit mehr oder weniger schmutzigen Fingern zu einem Teig verarbeitet hat. Oft werden noch Extraklumpen Butter und sogar Stückchen Tschura (Käse) mit diesem Teig vermischt. Die reichen Leute (Beamten) schwelgen in Mehl und Reis, die aus Indien eingeführt werden, und in Kassur, getrockneten Früchten (Datteln und Aprikosen) von geringer Qualität. Der Reis wird zu einer Art Suppe gekocht, die Tukpa genannt wird; es ist dies ein großer Luxus, den man sich nur bei sehr hervorragenden Gelegenheiten erlaubt, wobei auch andere, ebenso geschätzte Leckerbissen, wie Gimakara (Zucker) und Schelkara (weißer Lumpenzucker) gegessen werden. Fleisch lieben sie sehr, wenn auch nur einige sich solchen Luxus gestatten können. Wildbret, Yak- und Schaffleisch gelten als ausgezeichnete Nahrung, und die in Stücke geschnittenen Fleischteile und Knochen werden mit einer reichlichen Menge von Salz und Pfeffer in einem Kessel gekocht. Die verschiedenen Insassen eines Zeltes tauchen die Hände in den Topf, und wenn sie ein passendes Stück herausgezogen haben, zerren sie mit den Zähnen und Fingern daran herum; selbst der Knochen wird zermalmt und ebenso wie das Fleisch gegessen. Auf meine Frage, warum sie dies täten, antworteten die Tibetaner, dass Fleisch, ohne Knochen gegessen, schwer zu verdauen sei.
Gewöhnlich sind die tibetanischen Zelte mit einigen Tildih, groben Matten, ausgestattet, die um den Herd liegen und den Leuten als Sitzplätze dienen; neben dem Zelteingang steht ein Dahlo oder Korb, in welchem der gesammelte Mist aufbewahrt wird. Paarweise gebraucht sind diese Dahlos sehr bequem an die Packsättel zu binden, zu welchem Zweck sie auch besonders gemacht werden. Ferner stehen nahe an den Wänden des Zeltes die Tsamgo oder Säcke mit Tsamba und die Dongmo oder Buttertöpfe. Zwischen Schaffellen und Decken sieht man auch die kleinen hölzernen Kästen, in denen der Vorrat an Butter unter Schloss und Riegel gehalten wird.
Das Erste jedoch, was einem beim Betreten eines tibetanischen Zeltes ins Auge fällt, ist das Tschoksah oder der Tisch, auf dem Lichter und Messingschalen mit den Opfergaben für den Tschogan stehen, den vergoldeten Gott, an den die Bewohner des Zeltes ihr Morgen- und Abendgebete richten. Gebetsräder und Rosenkranzschnüre sind reichlich vorhanden, und die den Männern gehörenden langen Luntenflinten sieht man aufrecht an die Pfähle gebunden und mit ihren hohen Stützen aus der Öffnung in dem Zeltdache weit hervorragen. Die Speere werden auf dieselbe Art befestigt; die Schwerter und die kleineren Messer führt der Besitzer den ganzen Tag bei sich und legt sie nachts neben sich auf den Boden.
Die Eingeborenen waren sehr höflich und gesprächig. Trotzdem sie unter dem Vorwand, dass sie sogar für sich selbst nichts zu essen hätten, sich weigerten, uns Nahrungsmittel zu verkaufen, ging ihre Freundlichkeit doch so sehr über meine Erwartung, dass ich zuerst Verrat fürchtete. Aber Verrat oder nicht, hielt ich es doch für das Beste, so viel zu sehen und zu hören, als ich konnte, solange ich dort war.
Landor, Henry S.
Auf verbotenen Wegen in Tibet
Leipzig 1898