Um 1165 - „Rabbi“ Benjamin von Tudela
Die Stadt, der Kalif und die Juden
Bagdad, Irak
Bagdad ist eine ungeheure Stadt, welche die Hauptstadt des Reichs der abassidischen Kalifen, die aus der Familie des Propheten selber abstammen, ist. Diese Kalifen sind das Haupt aller gläubigen Mohammedaner und alle mohammedanischen Könige huldigen ihm. Sie üben die gleiche Herrschaft wie die Päpste über die Christen. Die Kalifen haben hier einen Palast von drei Meilen im Umfang, in dessen Mitte ein Park ist von allen Arten Bäumen und voll Wild. Mitten im Park ist ein Wasserbehälter, der aus dem Tigris gespeist wird. Hier hält man Jagden auf Wild und Vögel, hier übt man den Vogelfang, hier erholt und vergnügt man sich, hier speist man in Gesellschaft der Großen und Räthe. Der gegenwärtige abbassidische Fürst der Gläubigen heißt Achmed. Er sieht die Juden sehr gerne, hat viel in seinem Dienst, versteht alle Sprachen, kennt das Gesetz Moses und liest und schreibt die heilige Sprache der Juden. Er will nichts genießen, außer was er durch seiner Hände Arbeit verdient hat. Er verfertigt Decken, die er mit seinem Siegel versieht und auf dem Markt durch seine Großen verkauft, welche von den höchsten Personen gekauft werden. Von den Verkaufspreis bereitet er sich seinen Unterhalt. Er ist ein guter, wahrheitsliebender Mann, der all ihm Begegnenden grüßt, doch ist es den Mohammedanern nicht gestattet, ihn zu sehen. Die fremden Gläubigen, die nach Mekka durch die Provinz Yemen [Arabische Halbinsel] pilgern, versuchen vor ihn hinzutreten und rufen ihm nach dem Palaste zu: „Unser Herr, du Licht der Ismaeliten, du Leuchte unseres Gesetzes, zeige uns den Glanz deines Angesichtes!“ – ohne daß er ihre Bitte berücksichtigt. Dann treten seine Großen und Dieser zu ihm mit den Worten: Unser Herr! Verleihe ihnen deinen Gruß, die von weiter Ferne kommend im Schatten deiner Herrlichkeit sich bergen wollen!“ Dann nimmt der Kalif den Flügel seines Kleides, läßt ihn aus dem Fenster herabfallen, welchen die Pilger küssen. Dann spricht zu ihnen einer der Großen: „Geht nun in Frieden, denn jetzt hat euch den Frieden gegeben unser Herr, das Licht der Ismaeliten.“ Sie achten ihn wie den Propheten selber und gehen getrost fort, da sie der Große des Friedens von ihrem Kalifen vergewissert hat. Alle Brüder und Verwandten desselben küssen ihm das Kleid, wohnen in Gemächern seines Palastes, doch gefesselt mit eisernen Ketten und umgeben mit Wachen, um jede Empörung gegen den Kalifen zu hindern. Den Anlaß zu dieser strengen Maßregel gab eine Empörung der Brüder, die einen anderen Kalifen einsetzen wollten. Doch leben sie in ihren Gemächern äußerst üppig, besitzen große Renten aus Städten und Ländereien, die ihnen gehören und durch Beamte verwaltet werden. Im Palaste des großen Kalifen sind Gemächer mit silbernen und goldenen Säulen und einem unermeßlichen Reichthum an edlen Steinen. Der Kalif verläßt seinen Palast nur einmal im Jahre im Monat Ramadan, wo dann aus allen Gegenden die Gläubigen zusammenströmen, um ihn zu sehen. Er reitet dann auf einem Maulthier, angethan mit den kostbarsten Gewändern aus Gold und Silber, tragend ein persisches Diadem, geschmückt mit Perlen und Edelsteinen von unschätzbarem Werthe, und darüber ein schwarzes Schweißtuch, um dadurch die Welt Demuth zu lehren, gleichsam als wollte er sagen: „Ihr seht jetzt diese Herrlichkeit; aber im Tode wird sie Finsternisse bedecken.“ Auf diesem Ritte begleiten ihn alle mohammedanischen Großen zu Pferde und in reichstem Schmucke, aus Arabien, Medien, Persien, dem Lande Tibet, drei Monatsreisen von Arabien entfernt. So geht der Zug vom Palast bis zur Moschee, welche nächst dem Thor von Basra sich befindet. Die Gläubigen, die mit ihm gehen, tragen seidene und purpurne Gewänder, während in allen Straßen, durch welche der Zug sich bewegt, Musikchöre, die vor ihrem Kalifen tanzen, singen und spielen, aufgestellt sind. Mit lautem Zurufe begrüßen sie ihn: „Heil dir, Herr, unser König!“ worauf er selber sein Kleid küßt und den Grüßenden durch Anfassen seines Kleides den Gruß erwidert. So reitet er bis zum Vorhofe der Moschee; dann steigt er auf eine hölzerne Kanzel und erklärt ihnen ihr Gesetz; hierauf verrichten die ismaelitischen Geistlichen das Gebete für ihn, und nachdem sie seiner Herrlichkeit und Gnade Erwähnung gethan, entlassen sie ihn, wozu alle Anwesenden das „Amen“ anstimmen. Nachdem er sie gesegnet, schlachtet er ein Kamel, was sie ihr „Pascha“ heißen, theilt die Stücke unter die Großen aus, die gierig danach greifen, um von dem durch die Hand ihres heiligen Königs geschlachteten Opfer etwas zu genießen, was ihnen Freude bereitet; jetzt verläßt er die Moschee und wandelt am Ufer des Tigris alleine, während die mohammedanischen Großen in Schiffen vor ihm vorüberfahren, bis er in seinen Palast zurückkehrt, was auf einem anderen Wege geschieht; den Weg aber am Ufer des Flusses worauf der Kalif gewandelt, bewacht man das ganze Jahr hindurch, damit Niemand in die Fußstapfen desselben trete. Nun verläßt der reine und heilige Mann das ganze Jahr nicht mehr seinen Palast.
Jenseits des Tigris an einem Arm des Euphrat hat er ebenfalls einen prachtvollen Palast gebaut, mit vielen Wohnungen, Hallen, Spitälern für arme Kranke, welche der Heilung wegen hierher kommen. Hier sind ungefähr 60 Apotheken, die aus dem Palast des Kalifen mit Gewürzen und Arzneien versorgt werden, so daß die Kranken auf seine Kosten verpflegt werden. Daselbst befindet sich auch ein großes Gebäude Dar almoraphthan, d. i. Wohnung der Gnade, wo man alle Rasenden, die im Sommer gefunden werden, gefesselt einschließt und pflegt, bis sie wieder die Besinnung erlangen und entlassen werden können. Von Monat zu Monat kommen Beamte des Kalifen, um sich nach dem Zustande dieser Leute zu erkundigen und die Geheilten zu entlassen. So übt der große Kalif Barmherzigkeit an Allen, die nach Bagdad kommen und dort von körperlicher oder geistiger Krankheit überfallen werden; denn der Kalif ist nicht nur heilig, sondern thut es auch aus heiliger Absicht.
In Bagdad wohnen 1.000 Juden in vollkommener Ruhe und geehrt, darunter berühmte Gesetzgelehrte. Sie haben hier zehn Schulen oder Synedrien, mit zehn Vorständen, die man Batlanim (Müßiggänger) nennet, da sie sich nur mit den Angelegenheiten ihrer Gemeinden beschäftigen; sie sprechen an allen Wochentagen, ausgenommen den zweiten, für ihre Leute Recht bei dem ersten Vorstande R. Samuel, Hasdaj’s Sohn, das weltliche Oberhaupt der Exulanten, „unser Herr“ genannt, aus Davids Nachkommenschaft. Er übt eine unbeschränkte Herrschaft über alle hiesigen Gemeinden mit Erlaubnis des Kalifen, der auch seinen Nachfolgern ein gleiches befohlen, und dem politischen Oberhaupt der jüdischen Exulanten ein eigenes Siegel übergab und damit die Herrschaft über alle Juden unter der Botmäßigkeit des Kalifen. Auch befahl er, daß alle Unterthanen seines Reichs, sowohl Ismaeliten als Juden vor ihm aufstehen, und ihm den Gruß geben sollten, unter Androhung von hundert Streichen gegen Zuwiderhandelnde. Wenn er zur Begrüßung des großen Kalifen sich begibt, begleiten ihn Reiter und die Commandirenden rufen: „Machet Bahn unserem Herrn, dem Davidssohne, wie es ziemt!“ (was in ihrer Sprache „Omulu tariq lesajedina ben Davud“ heißt). Er trägt dabei seidene und gestickte Gewänder, einen großen Turban mit einem Schweißtuche und mit einer Kette. Übrigens erhalten von ihm allein alle jüdischen Gemeinden die Erlaubniß, in ihren Synagogen einen Rabbi oder einen Vorsänger aufzustellen; dies gilt für die jüdischen Gemeinden in Babylonien, Persien, Korasan und Scheba, d.i. Yemen, Diabekh, dem ganzen mesopotamischen Syrien, dem Gebiete von Kot, dessen Bewohner in den Gebirgen des Ararat wohnen, und Alanien (welches Land ganz von Bergen umgeben ist und keinen Ausgang gestattet außer nur durch eiserne Thore, die Alexander der Große eingesetzt hat, und dessen Einwohner Alan heißen), in Sikbiah, der ganzen Türkei bis zu den Gebirgen von Aspisian, in Georgien bis zum Flusse Gison (woselbst die Gergesäer oder Georgier, die Christen sind, wohnen), ja bis zu den Thoren der herrlichsten Städte und Provinzen, bis hinab nach Indien. Von allen Seiten geht man ihn an um die Handauflegung der erforderlichen Amtsgewalt und bringt ihm Gaben und Geschenke. Er besitzt Gasthöfe, Gärten, Parks in Menge, die er ererbt hat, die aber niemand antastet. Er hält Gasthöfe für Juden, erhebt auf den Märkten von den Kaufleuten einen bestimmten Warenzoll, bezieht auch aus fernen Gegenden Zölle. Er besitzt große Gewalt und vielen Reichthum, versteht den Talmud und ernährt täglich an seiner Tafel viele Juden. Am Tage seiner Investitur übergibt man dem Kalifen und seinen Großen und den Stadtobrigkeiten große Geldsummen; er fährt dann auf einem Staatswagen des Kalifen aus dessen Residenz in Begleitung von der Musik mit Pauken und Flöten, wo er dann sogleich die Handauflegung für die Vorstände vornimmt. Die hiesigen Juden sind sehr reich und beschäftigen sich mit Wissenschaften. In Bagdad gibt es 28 Synagogen, theils in der Stadt, theils in Alpherek oder den Vorstädten jenseits des Tigris, der sie Stadt theilt. Auch sieht man da die große Synagoge des Hauptes der Exulanten mit buntfarbigen Säulen, mit Gold und Silber überzogen und daran Verse aus den Psalmen mit goldenen Buchstaben. Zu der Stelle, wo die Gesetzesrollen aufbewahrt sind, führen zwölf Marmorstufen, auf deren obersten das Haupt der Exulanten mit den Fürsten aus Davids Familie sitzt.
Bagdad ist eine Stadt von drei Meilen Umfang. Die Gegend hat Überfluß an Palmenhainen, Gärten, so daß in ganz Babylonien ihr keine gleichkommt. Daselbst gibt es viele Handelsleute aus allen Theilen der Erde, auch viele Gelehrte, Magier und jeder Art von Zauber Kundige.
Tudela, Benjamin von
Reisetagbuch
Übersetzt von Adam Martinet
Berlin 1918