1905 - Albert Tafel
Auf den Pilgerberg
Wudangshan, Provinz Hubei
So konnte ich am 1. April nach Süden zum Wu dang schan aufbrechen. Auf der großen und gepflasterten Pilgerstraße, die dorthin führt, ist heute die Mehrzahl der schönen, alten Steinbrücken verfallen, und wo sie sich erhalten haben, mögen sich die Bäche und Flüßchen, wegen deren sie vor fünfhundert Jahren errichtet wurden, längst nicht mehr zwischen den engen Brückenbogen durchzwängen.
Mit Dunkelwerden erreichte ich am ersten Tage von Kün tschou her Tschu fu ngan, ein Kloster, das heute noch 145 taoistische Priester beherbergt und ein beliebtes Absteigequartier für die zahlreichen Pilger bildet. Eine große, hohe Halle zwischen plumpen Holzsäulen und dicken Mauern, mit einem hausgroßen hölzernen Himmelbett, an dem Dutzende von geschnitzten Drachen waren, wurde mir vom Vorsteher eingeräumt. Überall bekundete jahrhundertealter Staub und Schmutz vornehmste Ehrwürdigkeit. Aus allen Nischen und Türen tauchten im Zwielicht meine Gastgeber auf, die Priester in ihren langen indigoblauen Röcken mit weiten, breiten Ärmeln, die fast den Boden berührten, mit dem nach alter Sitte auf dem Scheitel hochgesteckten Haarknoten. Sie schleppten Dutzende von wattierten Decken herbei; jeder wollte sich dadurch so nah wie möglich an mich und meine merkwürdigen Sachen herandrängen und Gelegenheit bekommen, die „verrückten Krickel“ der europäischen Schrift sich anzusehen. Selbst der liebenswürdige Herr Abt scheute nicht die Mühe, zündete eigenhändig eine der so schwer anbrennenden, dicken chinesischen Wachskerzen mit dem hölzernen Docht an, ließ kunstvoll ein wenig Wachs an der Wand abtropfen und klebte so nach gut chinesischem Brauch die Beleuchtung des alten kaiserlichen Wohngemachs an der Mauertünche fest.
Von Tschu fu ngan ab findet man in der Richtung nach dem Wu dang schan alle paar hundert Meter an Kreuzwegen und Windungen des Fußpfades ein kleines Steintempelchen, in jedem eine kleine Statue eines Ling kwan, eines Schutzgottes und Führers, und davor eine Opferschale, einen alten Scherben zum Sammeln der Gaben. Es sollen an die tausend solcher Tempelchen sein. Oft steht daneben ein Priester, der, wenn fromme Wanderer nahen, auf eine eiserne Glocke schlägt. Bei jedem werfen die Pilger im Aufstieg einen Kupfercash ein und machen eine tiefe Verbeugung. Andere, und zwar große Tempel stehen auch noch weiter oben am Wege. Von diesen sind aber viele heute unbenutzt, die vielteiligen Holztüren an ihrer Front hängen nur noch lose oder halb in den alten Steinangeln, das Dach ist verfallen, und die im Innern thronenden Götzen vergehen langsam zu Staub und Erde, ohne daß sich ein Mensch darum kümmert.
An mehr denn einem halben Dutzend großer Tempelanlagen kam ich an meinem zweiten Pilgertage vorbei. Auf einem kleinen Pfad, oft auf steilen, unbequemen und ermüdenden Steintreppen ging es jetzt einem der schmalen Seitengrate des Berges entlang aufwärts. Links und rechts fallen die Hänge zu engen, in hohes Gebüsch gehüllten Schluchten ab, in denen sich kaum zugänglich wilde Bäche hinwinden. Man hatte sich beim Wegbau immer dem Gelände anpassen müssen. Die Gebäude sind hier oben enger zusammen gedrängt. Sicher ungern und nur, weil es sich nicht anders machen ließ, hat man das Schema etwas verändert, hat oft viele hohe und schmale Steinstufen vor die Tempel gesetzt. Aber immer wieder findet man die Rampen und Galerien mit dem gleichen, in sich verzapften Steingeländer, ganz wie wir es auch an den kaiserlichen Tempeln zu Peking sehen können. Immer wieder stoßen wir auf die gleichen, großen Pavillone, die hohe Stelen schützen und schmücken.
Man kann Bücher über den Wu dang schan schreiben, und die Chinesen haben dies sogar schon getan. Eine achtbändige Beschreibung des T'ai ho schan - wie der Berg in den Büchern genannt wird - kam in meinen Besitz. Auch in der Chronik und Ortsbeschreibung von Stadt und Land Kün tschou, einem Werk von gleichfalls acht Bänden, findet sich unter einem Wust grotesker Behauptungen, neben der Aufzählung der sittsam und unverheiratet gebliebenen Witwen, neben den glücklichen Examenskandidaten, den Föng schui-Konstellationen, den Mißgeburten, Erdbeben und Wassersnöten einiges, was auf die Geschichte des Berges Bezug hat.
Auf Schritt und Tritt drängte sich mir bei meinem Besuche Typisches und Charakteristisches aus dem chinesischen Leben auf. Wie alles in China, so sehen auch diese Bauten hier erst auf eine ziemliche Entfernung hübsch aus. Daß sie verwahrlost sind und langsam verfallen, daran nimmt nicht einer unter den Millionen von Pilgern Anstoß. Viele fliegende Händler betreiben am Wege ihren kleinen Handel, und je höher ich kam, desto zahlreicher stellten sich Bettler ein; jammervolle Gestalten, halb oder vollkommen nackt, Aussätzige mit den fürchterlichsten Entstellungen, Menschen, die sozusagen nur noch zur Hälfte vorhanden sind, haben da ihre Wohnungen am Wege. Oft muß der schmale Pfad noch um ihr Strohhüttchen herum, das winzig klein und so gräßlich schmutzig ist, daß bei uns kaum ein Hund darin hausen möchte. Da liegen sie im Schmutz der Straße, zehenlos oder mit gelähmten atrophischen Gliedern, womöglich noch blind, die unglücklichsten Geschöpfe der Erde. Jammerwürdig um einen einzigen Cash schreiend, schlagen sie mit ihren oft kaum mehr menschenähnlich aussehenden Gesichtern rhythmisch auf den Boden. Es ist das härteste Schicksal, hilflos und arm im armen China zu sein! Aus weitem Umkreis haben sich diese schrecklichen Wesen an den heiligen Berg zusammentragen lassen; sterben sie endlich, so werden sich nur noch die vielen herrenlos um ihre Wohnlöcher herumlungernden räudigen Hunde um den Leichnam streiten. Solange sie aber noch leben, müssen sie alle von morgens bis abends schreien und ohrenzerreißend jammern. Nur wer den Berg hinaufsteigt, gibt, und von diesen nur wenige, aber sicher kein einziger, der herabkommt; und wenn etwas für diese Armen abfällt, dann ist es „ga ts’ien“, ein fast wertloses, falsches kleines Kupferstück. Man könnte meinen, auch das Geld habe hier den Aussatz bekommen. Nie mehr sah ich in China so viel schlechtes Geld wie hier. Jahrelang haben wohl die Pilger alle Stücke, die von niemand mehr angenommen werden, zusammengespart, um sie hier als Almosen und Opferpfennige nützlich zu verwerten. Wie chinesiches Geld sieht es ja aus: es ist rund und hat in der Mitte ein Loch.
Die Mandarine der Umgebung wußten mit dieser Anhäufung von kleinen, schlechten Kupfergeldstücken in ihrem Bezirk zu rechnen, und zwar taten sie dies auf ihre Weise. Wenn nach guter Ernte Getreide und Reis billig waren, füllten sie die amtlichen Staatsspeicher stets frisch, und kurz vorher kam jedesmal ein Edikt heraus, daß jetzt die kleinen Cashstücke denselben Wert hätten wie die großen. Vorsorglich hatten aber die Stadtväter und ihre Sekretäre, ehe sie dies verordneten, auf billige Weise Vorräte an schlechtem Geld angelegt. Nun wurden große Getreidemengen mit schlechtem Geld aufgekauft; war aber das Getreide nach Jahresfrist teuer geworden, und fing man an, einen Teil des Speicher zu leeren, dann ging sicher ein Edikt voraus, das den Wert des kleines Geldes nach dem tatsächlichen Kupfergewicht auf nur ein Drittel oder Viertel des großen herabsetzte.
Auf dem Wege zum Gipfel kann man in der Form einer jener »Moritaten«, sie bei uns auf Jahrmärkten üblich sind, um 5 Cash, das ist etwa 1 1/4 Pfennig, eine Darstellung der Sage kaufen, die sich das Volk von dem Berge erzählt.
Tai tse, Prinz, wird der Held darauf genannt. Seine Eltern, seine Geburt sind darauf zu sehen, und wie er beschließt, Priester zu werden. Er verläßt seine Familie und seine Stadt und kommt nach mancherlei Irrfahrten zu einem Platz, wo er die Göttin Lao mu trifft, die eben an einem dicken Metallstück feilt. Auf seine erstaunte Frage, was sie denn da mache, antwortet die Göttin dem Prinzen: „Ich mache eine Nähnadel.“ „Aber das kann man doch nicht aus einem solch großen Stück machen“, meint der Prinz. „Gewiß,“ erwidert diel Göttin Lao mu, „mit Geduld und Fleiß läßt sich aus dem größten Block eine Nähnadel feilen.“ Damit zeigt sie dem Prinzen, daß zur Ausführung seines und eines jeden Vorhabens Fleiß und Geduld notwendig seien. Diese Nadel der Göttin Lao mu wird beute noch in einem Tempel auf dem Wege zum Gipfel gezeigt. Sie ist aus Bronze, steckt aufrecht tief im Boden und ist oben 25 cm dick.
Krähen weisen dem Tai tse den Weg zu dem Bergkloster, wo ihn die Priester feierlich empfangen. Als es bekannt geworden, wohin der Prinz gegangen, wollten ihn Soldaten einfangen und ihn von diesem, den gewöhnlichen Chinesen äußerst verhaßten Schritt abbringen. Aber Tai tse macht mit einem göttlichen Wunderschwert einen tiefen Graben, so daß jene nicht zu ihm herüberkommen können. Das Ende ist, daß Tai tse vollkommen und ein Gott oder Halbgott wird.
Zu dem heiligen Berge eilt nun heute mit fliegenden Fahnen reich und arm, Bauer und Literat, vornehm und gering, Damen in Sänften, von ihren Dienern begleitet, die ihnen die Pfeife und andere unentbehrliche Dinge nachtragen, die Frau aus dem Volk, die mühsam zu Fuß an einem hohen geschnitzten Pilgerstab daherhumpelt. Sie alle müssen hinauf auf den Gipfel, es gilt die Seligkeit. Der große Geist, der da droben thront, ist berühmt dafür, daß er den Frauen, die sich ihre zusammengedrückten Zehen und Fußknochen blutig scheuern, reichen Kindersegen beschert.
Wofür sonst lebt auch der Chinese? Spricht er über anderes mehr als über seine Familie? Es gilt die gewaltige Fortpflanzung, das einzig Große und Bewundernswerte am ganzen Chinesentum. „Wenn auch ihr Fremden es heute nicht anerkennen wollt, daß das Reich der Mitte wirklich da liegt, wo sein Name sagt, es wird sicher die Zeit kommen, wo alle Erdenbewohner ihren Stammbaum von China ableiten“, so sprach zu mir einst ein gebildeter Chinese, der ein gutes Stück seines Landes und der Welt gesehen hatte.
Vom frühesten Morgen an drängen sich deshalb Pilger in schier endloser Reihe zu dem heiligen Ort, von dessen Besuch sie Kindersegen erhoffen. Viele tragen an langen Bambusstangen bunte Bänder, rote Fahnen mit blauen Drachen darauf, dazwischen marschieren Hornbläser, Gongschläger, Männer, die sich an schweren Eisenketten oder an einem Drachenmodell aus Papier und Holz abschleppen, in dessen vergoldetem Kopf dünne Weihrauchkerzchen brennen. Und alle haben ein großes Bündel Weihrauchkerzen an einer roten Schnur über den Rücken gehängt, eingewickelt in ein Stück roten glänzenden Baumwollstoffs, auf dem groß und schwungvoll die drei Zeichen: »Wu dang schan« geschrieben stehen.
Viele Stadtleute sind auch unter der Pilgerschar. Man erkennt sie von weitem, denn sorgfältig schützen sie sich gegen die Sonnenstrahlen mit einem riesigen Papierschirm, der schon in weitem Umkreis einen durchdringenden Ölgeruch verbreitet. In blauen Baumwollkleidern kommen die meisten, in Tuchschuhen, in Strohsandalen die Unbemittelten; in Seide mit gestickten Samtschuhen, frisch rasiert und frisiert, mit feinster seidener Zopfschnur, all ihren zimperlichen Kram, Handtuch, Wasserpfeife, Uhr, Brille, Feuerstein, Eßstäbchen usw. sichtbar um den Leib gehängt, die Reichen; nach feinstem Moschus duftend der Stutzer. Es folgen sich Dutzende von Sänften. Vor den zahllosen Wirtshäusern, wo Tee-, Nudel- und Reisspezialisten ihre Waren verkaufen, stampfen mit ihren „dreizölligen Goldlotosfüßchen“ Trägerinnen zierlicher Puppengesichtchen gar ärgerlich und kreischen ungeduldig den Sänftenkuli an: »Vorwärts! Vorwärts! Ein Jahr lang rastet ihr schon hier, eßt euer Opium heute abend. Ich habe Eile, auf den Berg zu kommen.«
Auf der Mehrzahl aller Gesichter leuchtet stets ein kindlich vergnügter Ausdruck. Tausendmal durfte auch ich den freundlichst fragenden Gruß erwidern: „Hast du gegessen?“
Endlich kam ich müde und matt gegen Abend im Tempel Tse hsiao gung an. 80 Li sollen es an diesem Tage gewesen sein. Über Hunderte von unbequem hohen Steinstufen ging es zuletzt noch sehr steil hinauf. Aussätzige Bettler wollten hier helfen und mich schieben. Von diesen gehetzt kam ich ganz atemlos oben an. Durch eine tausendköpfige Menge wurde ich aber gleich zum Vorsteher und zu dem hier stationierten Leutnant hineingestoßen. In drangvoll fürchterlicher Enge saß ich zunächst dort über drei Viertelstunden lang und tauschte mit jenen Herren Liebenswürdigkeiten aus.
„Älterer Bruder“, fragte mich der sicher siebzigjährige Abt, „wie groß ist dein hohes Alter?“
„Ich habe unnütz fünfzig (!) Jahre verstreichen lassen“, log ich bescheiden drauflos.
„Was ist deine Abstammung?“
„Meine durch Armut heruntergekommene Familie trägt den Namen Ta.“
„Wie viele Söhne hast du?“
„Zwölf (!) unnütze Bengel belästigen mich.“
„Großer Mann, du bist ein tugendreicher Herr!“
„Aus dem ganzen erlauchten Reich pilgern die Menschen zu eurem kostbaren Berge“, erlaubte ich mir einzuwerfen.
„Es ist heute niemand hier“, entgegnete der Abt.
Endlich erlöste mich die Nachricht, daß ein Zimmer sich für mich gefunden habe. Jetzt erst durfte ich, so durstig ich auch auf dem langen Marsche geworden war, nach der vor mir stehenden Teetasse greifen. Es ist nämlich in China strenge Sitte, daß man bei Besuchen erst im Augenblick des Aufbrechens von dem stets gleich nach der Ankunft vorgesetzten Tee etwas schlürft.
Am Ende der hohen Treppe ist im Tse hsiao gung, mit der Front gegen Süden, der Haupttempel. Weitläufige Höfe gibt es hier nicht mehr. In dieser Höhe lassen die steilen Hänge dafür keinen Platz übrig. Uralte, bis zu 1 m dicke und noch rund gelassene Stämme tragen auch hier das mächtige Dach des Tempels. Unter diesem versammelten sich nach Einbruch der Dunkelheit die Pilgerscharen. Viele knieten am Boden mit zusammengelegten Händen. Wenige Wachskerzen nur verbreiteten einen schwachen Lichtschein in dem stark duftenden, von Weihrauch erfüllten Raume. In der Mitte vor dem Altar aber stand eine Gruppe von Bauern und Priestern, dort züngelte eine mächtige Flamme vom Boden viele Meter hoch bis an die pechschwarze Decke hinauf. Im Takte kleiner Metallglocken, mit endlosem skandierendem Gesang verbrannten sie langsam lange, lange gelbe Papier- und Tuchstreifen, bedeckt mit Schriftzeichen, mit den Namen von allen, die hier Weihrauch selbst angezündet haben, und auch von denen, die sich dabei von ihren Verwandten oder Freunden haben vertreten lassen. Gespensterhaft schauen hinter zahllosen roten seidenen Vorhängen die starren Züge riesenhafter bärtiger Götterfiguren herab. Vor den allergrößten Göttern sitzen kleinere, gleichfalls in bunte Mäntel gehüllt, Ein breiter Altar mit schönen Bronzegefäßen, mit Vasen und Leuchtern trennt dieses Pantheon von der Pilgerschar. Eine Menge Weiber drängt sich in einer Ecke an zwei Kupferbecken und reibt daran Cashstücke, die die göttliche Schutzkraft des Beckens ihren Kindern nach Hause mitbringen sollen. Endloses Krachen von Feuerwerkskörpern, mißtönende Gongschläge, dumpfe Laute alter eiserner Glocken und Trommelklang schallen aus dem Tempel zu den stillen, schroffem Felswänden hinaus.
Als endlich die Tausende von Namen verbrannt waren, als die letzten Frauen mit ihren zu Amuletten geriebenen Cashstücken die Halle verlassen hatten, als es nahe an Mitternacht war, klang immer noch gruseliger Fistelgesang aus den Halle: bei dem klappernden Ton einer Holztrommel beteten die Priester noch weiter zu ihrer Geisterwelt.
In dem Raume neben mir ging es dann noch immer hoch her. Solche Pilgerplätze, das sind die lustigen Orte in China. Da gibt es Trinkspiele und Kartenspiele und fidele Kameraden. Da ist schon manch einer als reicher Mann hinaufgestiegen, hat droben seine ganze Habe verspielt und ist schließlich auf dem Berge dann ein frommer Priester geworden. Bis zum frühen Morgen hörte ich, nur durch dünne Holzwände getrennt, Singsongmädchen an Gitarren zupfen und ihren opiumrauchenden Brotherren mit schrillen Tönen die Langeweile vertreiben. Kurz nur ist Ruhe in den überfüllten und von süßlichem Opiumgeruch geschwängerten Räumen, wenn endlich nur noch Nachtwächter mit ihrer Klapper wach sind.
An meinem dritten Pilgertage zum Wu dang schan kam ich schon eine halbe Stunde hinter meinem letzten Nachtquartier zum großen Tempel Nan yang gung. Auch hier befindet sich eine verwirrende Menge von Götterfiguren, nach deren Namen ich mich vergeblich bei den Priestern erkundigte. Wenn man dort an einem großen Steinpavillon, der ganz an denjenigen vom Kün-tschou-Palast erinnert, vorbeigekommen und durch treppenreiche Höfe schließlich hinter den großen Haupttempel gelangt ist, so findet man auf einem schmalen Felsband, das sich in eine riesige, glatte Felswand hineinzieht, noch einige kleine, von Bronzefigürchen erfüllte Tempel und, in Stein gehauen, das Bild des Tai tse, auf einem Drachen schlafend. Frommer Pilger Hände haben jetzt für ihren Liebling eine seidene Decke gefertigt und über ihn gelegt. Von diesem Felsband aus ragt 3 m weit über hohe, senkrecht und glatt abfallende Felsen eine ganz schmale Steinplatte hinaus, anderen Spitze ein aus einer Wolkenmasse sich herauswindender Drache in Stein ausgehauen ist. Auf die Krone des Drachenkopfes neue Weihrauchkerzen zu stecken, ist der Wunsch vieler Besucher geworden. Ungezählte Opfer verlangt dieser grausige Kult alljährlich. Denn wehe dem, den Schwindel packt, wenn er einmal den schmalen und unebenen Tugendsteg betreten! Aber was tut in China nicht ein frommer Pilger, was nicht erst eine Frau, um ihrer Familie den ersten Stammhalter zu schenken? „Fu jen“, fu bau jen“, „Glückstragemensch“ sagt man allgemein für die Frau im Nordchinesischen, denn ihr Zweck ist, den Sohn zu tragen, das höchste Glück der Chinesen, den Nachkömmling, der dem Vater, wenn er ins Jenseits gegangen ist, die Opfer darbringt.
Ich vermute, daß hier an dieser Felswand der älteste Teil der ganzen Anlage ist. Es war offenbar eine Einsiedelei, vielleicht die eines buddhistischen Mönchs, denn hier finden sich sonderbarerweise auch einige buddhistische Götterbilder, denen aber die taoistischen Priester wie ihren eigenen huldigen, obwohl sie - wie ich mich überzeugt habe - genau wissen, daß es nicht zu ihrer Mythologie gehörige Götter sind. Hier wird auch ein großes goldenes Schwert gezeigt, das in einem Felsen steckt: Tai tse's Wunderschwert, mit dem er die unübersteigbare Schlucht geschaffen hat, über die die Soldaten ihm nicht folgen konnten.
Ganz nahe bei diesem Tempel liegt der Wu ya ling, der Krähenpaß, wo Tausende von heiliggehaltenen Krähen auf die Fütterung durch Pilger warten. „Wu ya! Wu ya!“ (Krähe) rufen ihnen die Leute zu, und schwarze Schwärme kommen ganz zahm heran und verziehen sich erst wieder auf: „Mo you la“ (Hab' nichts mehr).
Von diesem schmalen Passe gibt es zum turmartig sich erhebenden Gipfel hinauf einen steilen Treppenweg. Bei meinem Besuch war dieser aber noch unter fußtiefem winterlichem Schnee begraben. Man mußte auf kleinen, elenden Wegchen um mehrere, bizarr aufsteigende Felstürme herumsteigen. Weiter hinauf kommt auch keine Sänfte mehr. Hier hieß es bei meinem Besuch bald durch tiefen Morast, bald durch Schnee und über steil geneigte vereiste Platten klettern. Aber auch darüber plagen sich Chinesenfrauen in ihren Zeugstiefelchen, mit ihren Puppenfüßchen haltlos im Schlamm und Schnee einsinkend. Ist der Weg vereist, so rutschen sie auf den Knien darüber. Und dabei hört man keine Klage. Man weiß es ja auch nicht anders. Dort, in jenen Gebieten, trägt jede Frau, arm und reich, ihre Füße zusammengeschnürt. „Tz!“ schnalzt es. „Ah! Was ist der Gang jenes Fräuleins so nett!“ so hört man oft einen Kenner ausrufen, wenn ein Mädchen, mit jungfräulichem, dickem Zopf auf dem Rücken, das breite Gesicht geisterhaft weiß geschminkt und mit dem gemalten roten Tupfen in der Mitte der Unterlippe, in leuchtend farbiger, kurzer Seidenjacke, in langen weiten Hosen auf winzigen Füßchen unsicher mit einem Stock über die Straße stelzt. Und nun denke man sich diese hilflosen weiblichen Wesen auf einem überaus mühseligen Bergpfad! Aber Hunderte von solchen armen Frauen sah ich da hinaufkrabbeln.
Eine ganz enge steile Wendeltreppe mit einem hohen alten Steingeländer, behängt mit zahllosen dicken Eisenketten, führte mich zum Schluß auf den höchsten Gipfelturm des Berges. Auf dem winzigen, mit Mühe etwas verbreitertem Platz, zwischen häßlichen Holzschuppen und zwischen den in Jahrhunderten hierher gestifteten Papieröfen (hsi tse lu) und Glocken aus Bronze und anderem Material, erscheint in der Mitte, von den Priestern sorgsam behütet, ein entzückendes Schmuckkästchen, ein ganzer Tempel, massiv aus im Feuer vergoldeter Bronze. Nichts Eigenartiges! Nein, in nichts auch nur etwas von der gewöhnlichen Bauart für Dächer, Gebälk und Wände abweichend. Aber alles hier aus Bronze mit einer heute wunderbaren Patina. Aus dem feinsten Material sind säuberlich alle Details gegossen und ziseliert. Der Tempel erhebt sich auf einem schönen Marmorsockel, aus einer kleinen Balustrade, mißt an der Basis 5 m auf 3,5 m und ist etwa 5 m hoch. Er ist heute und schon seit der Ming-Dynastie von einem hohen bronzenen Schutzgitter umgeben und enthält mit der Front gegen Osten ein großes, hinter zwei Tischen sitzendes Bild eines jungen Mannes, Tsch'eng wu ts'u se ye, umgeben von zwei stehenden und ihm dienenden Göttinnen und zwei Rittern mit Schwert und Lanze, alles aus Bronze.
Von dem 1600 m hohen Gipfel des Wu dang schan genießt man auch eine wunderbare Aussicht. Über zahllose Felstürme hinweg trifft der Blick in wilde, unzugängliche Schluchten. Dichtestes Gestrüpp, alte Fichten und Eichen decken noch wie in alter Urzeit viele Hänge des Berges. Schaut man Süden, so fällt das Auge auf manchen stolzen Gipfel. Dort türmt sich eine Kette dicht hinter der anderen. Wir sind mitten in einem wilden Gebirgsland, wir sind schon hier in dem gewaltigen Kuen lun-Gebirgssystem, welches von Tibet her sich weit in das östliche Asien hineinzieht.
Vom Gipfel nach der Stadt hinab war ich zwei Tage unterwegs.
Tafel, Albert
Meine Tibetreise
2. Ausgabe, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1925