1770 - James Bruce
Die Quellen des Nils
Ghish Abay, Äthiopien
„Es ist schon spät, verliert keine Zeit, sondern bringt mich geradewegs nach Geesh und den Quellen des Nils ohne weitere Umstände, und zeigt mir den Hügel, welcher uns davon trennt.“
Er [der einheimische Führer Woldo] führte mich darauf nach der Südseite der Kirche hinum, zu dem Wäldchen hinaus, welches die Kirche umgibt. „Dies ist der Hügel“, sagte er mit einer listiger Miene, „welcher, als ihr euch auf der anderen Seite befandet, zwischen euch und den Quellen des Nils war, sonst ist keiner da. Seht nach jenem kleinen Rasenhügel mitten in dem wässerigen Sumpf, darin trifft man die beiden Quellen des Nils an. Geesh liegt vor dem Felsen, wo jene grünen Bäume sind. Wenn ihr an die Quellen hingeht, so zieht die Schuhe aus, wie ihr an jenem Tag tatet; denn die hiesigen Einwohner sind alle ärgere Heiden als die bei jener Furt. Sie glauben an nichts, woran ihr glaubt, sondern bloß an diesen Fluß, an den sie sich alle Tage mit ihren Gebeten wenden, als ob es ein Gott wäre; und dies werdet ihr auch vielleicht tun.“
Ob ich gleich durch Abbindung meiner Schärpe halb entkleidet war, so zog ich doch die Schuhe aus, und lief den Hügel hinunter nach der kleinen Insel von grünem Rasen, die ohngefehr 200 Ellen entfernt lag. Der ganze Abhang des Hügels war mit Blumen dick überwachsen, deren knollige Wurzeln über der Erde hervorragten. Indem man darauf trat, löste sich die äußere Schale ab, und dies verursachte, daß ich ein paarmal heftig fiel, ehe ich den Rand des Sumpfes erreichte. Darauf kam ich an die Insel von grünem Rasen, welche die Gestalt eines Altars hatte, und augenscheinlich ein Werk der Kunst war; ich stand nunmehr voll Entzücken an der vornehmsten Quelle, die in der Mitte entspringt.
Man kann es sich leichter vorstellen, was in diesem Augenblick in meiner Seele vorging, als es beschreiben. Ich stand an der Stelle, welche beinahe seit 3000 Jahren das Genie, den Fleiß und die Untersuchung alter und neuer Köpfe vereitelt hatte. Könige hatten diese Entdeckung an der Spitze ihrer Armeen versucht; ihre Unternehmung unterschied sich bloß von den letztern durch die Anzahl der dabei umgekommenen Menschen; und sie kamen bloß in Verfehlung des Zwecks überein, die sie alle ohne Ausnahme erfahren hatten. Ruhm Reichthümer und Ehre wurden seit so vielen Jahren einem jeden von so vielen Tausenden, worüber diese Prinzen regierten, angeboten, und es erschien kein Mann, der im Stande gewesen wäre, die Neugierde seines Monarchen zu befriedigen, oder diesen Flecken von dem unternehmenden Geiste und den Fähigkeiten der Menschen abzuwischen, oder diese Lücke zur Aufnahme der Erdkunde auszufüllen. Ich triumphierte hier als ein blosser englischer Privatmann in meinen Gedanken über Könige und ihre Heere, und jede Vergleichung machte mich stolzer, als der Ort selbst, wo ich stand, der Gegenstand meiner Ruhmsucht, mir Gedanken einflößte, die mich in dem kurzen Genuß meiner Triumphe störten und solche niederschlugen. Ich war erst seit wenigen Minuten bei den Quellen des Nils durch unzählige Gefahren und Leiden angelangt, wovon mich die kleinste ohne den besonderen unaufhörlichen Schutz der göttlichen Vorsehung überwältig hätte. Meine Reise war auch nur erst halb vollendet, und alle Gefahren, die ich überstanden hatte, warteten bei der Rückreise von neuem auf mich. Eine traurige Mutlosigkeit bemächtigte sich meiner, und die Lorbeerkrone, die ich mir selbst zu geschwinde gewunden hatte, welkte dahin. Ich beschloß deswegen, mich etwas zu zerstreuen, bis ich durch ernsthafteres Nachdenken den Fortgang dieser Gedanken überwinden könnte.
Bruce, James
Reisen zur Entdeckung der Quellen des Nils …
3. Band, Leipzig 1791