Um 570 - Adomnan
Der Heilige Columba und das Ungeheuer
Loch Ness
Einmal, als sich der Heilige für mehrere Tage bei den Pikten [den Bewohnern des östlichen Schottlands] aufhielt, musste er den Fluss Ness [die Verbindung zwischen Loch Ness und der Nordsee] überqueren. Als er an dessen Ufer kam, sah er, wie Männer einen armseligen Körper begruben. Diese Männer erzählten, der Tote sei gerade eben beim Schwimmen von einem Wasserungeheuer ergriffen und schlimm gebissen worden. Ein paar Männer wollten ihm mit einem Boot zu Hilfe kommen, aber es war zu spät, und sie holten nur seinen armen Leichnam mit Haken ein. Als der Heilige das hörte, befahl er trotzdem einem seiner Begleiter, zu ihm herüber zu schwimmen und ihm ein Segelboot zu bringen, das am anderen Ufer lag. Lugne hörte den Befehl des heiligen und ehrwürdigen Mannes, legte unverzüglich seine Kleider bis auf die Tunika ab und sprang ins Wasser. Das Ungeheuer aber, dessen Hunger durch die Beute nicht gestillt, sondern angeregt war, lauerte in der Tiefe. Als es merkte, dass das Wasser an der Oberfläche sich durch Lugnes Schwimmen bewegte, kam es plötzlich herauf und stürzte sich mit offenem Maul und großem Gebrüll auf den Mann, der sich mitten im Fluss befand. Alle Anwesenden, Barbaren wie auch die Brüder, erschraken fürchterlich; der selige Mann aber, der das auch sah, hob seine heilige Hand und schlug das Zeichen des Kreuzes in die Luft, rief Gott an und befahl dem Ungeheuer: »Nicht weiter! Berühre diesen Mann nicht und ziehe dich schnellstens zurück!« Als das Ungeheuer das hörte, floh es in großer Furcht, als ob es mit Seilen davon gezogen würde, obwohl es Lugne bis auf die Länge eines Spießes nahe gekommen war.
Als die Brüder sahen, dass sich das Ungeheuer entfernte und Lugne unbeschadet und sicher mit dem Boot zu ihnen kam, rühmten sie in großem Erstaunen Gott und seine Taten durch den heiligen Mann. Und auch die heidnischen Barbaren, die dabei waren, priesen den Gott der Christen, von der Größe dieses Wunders beeindruckt.
Anderson, Alan Orr; Anderson, Marjorie Ogilvie (Hrg.)
Adomnan's life of Columba
Oxford 1991
Übersetzung: U. Keller
Abgedruckt in:
Ulrike Keller (Hrg.)
Reisende in Schottland seit 325 v. Chr.
Wien 2008