Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1907 - Albert Tafel
Der Handel von Jyerkundo
Qinghai, China

 

Nirgends in Tibet wurde ich so freundlich empfangen wie in Dscherku ndo. Alle Einwohner des Dorfs, zahllose Weiber, Mädchen und Kinder drängten sich um uns, um den Dolmetscher Tschang und um den großen Tschang, und ein freudiges „Odyi, odyi!“ klang von hundert Lippen. Und wer nicht sein Willkommen rief, streckte zwischendurch grienend die Zunge, so lang er konnte, zum Munde heraus. Ein fremder Mann mit freundlichem Gesicht griff nach dem Zügel meines Pferdes und leitete mich bis vor ein Haus, das auf die Kunde von meinem Kommen für uns bereitgestellt war. Alles lachte und grüßte die Hsi ning-Leute [aus Xining]. Hundert Hände halfen eifrig die Lasten abbinden und ins Haus tragen, so daß für meine Chinesen gar nichts mehr zu tun übrigblieb. Sie waren hier alle große Herren geworden.
   Ein Flügel in einem der weitläufigen Steinhäuser stand uns zur Verfügung. Durch einen gedeckten Torweg mit zwei schweren Flügeln gelangte man in ein Höfchen, das auf allen Seiten von Häusern eingefaßt war. In einem viereckigen Turmgebäude in der Nordwestecke wohnte der Besitzer des ganzen Anwesens. Im Nord- und Ostflügel hausten drei größere Parteien neben- und übereinander mit noch einigen Aftermietern. Im Süden war ein einstöckiger Stall, auf dessen flaches Dach vom Hofe aus eine steile Leiter hinaufführte; und von diesem breiten Stalldache aus gelangte ich mit drei Stufen in die Wohnung des Westflügels, den ich für mich und meine Leute mieten konnte. Mein Küchenraum war gleichzeitig Diele und Flur, an den sich vier Zimmerchen anschlossen.
   Kaum waren das Gepäck und die Sättel untergestellt, als eine alte Frau mit einem Sack voll Dung und mit zwei Göhren im Arm zu mir heraufkletterte, im Herde Feuer ansteckte und Tee kochte. Sie war vom Be hu gesandt worden und verstand meisterlich, wie alle K'amba-Frauen, mit der Diamtung, der Holzröhre von 60 cm Länge und 8 cm Durchmesser, in die der braune heiße Teeabsud mit Milch und Butter und Salz geschüttet wird, umzugehen und durch mehrfaches vorsichtiges Stoßen mit dem Stempel in diesem dem alten Butterfaß ähn-m Instrument ein wohlschmeckendes und äußerst nahrhaftes Gemisch zu erzielen. Der Alten auf dem Fuße folgend, betraten zwei Männer in reifen Jahren Wohnung. Den Oberkörper vorbeugend und zum Gruß die Zunge vorgestreckt, kamen sie mit einem kleinen Khadar in den Händen auf mich zu. Sie hatten die in K'am üblichen Schuhe mit hohen, weichen, roten Schäften an den Füßen, waren in schmierige, fransige Pelzmäntel gehüllt, und ihr Haar war lang, wirr und wie ihr ganzes Äußere ungepflegt. Ich sah vor mir zwei Vornehme von Dscherku ndo, die sich freundlichst und angelegentlichst nach dem Verlauf meiner Reise erkundigten. Sie versprachen mir für die Dauer meines Aufenthalts Friede und Freundschaft. Kaum daß die beiden sich empfohlen hatten, bewillkommneten mich sechs Schen si-Chinesen, Kaufleute, die der Moschushandel hierher verschlagen hatte. Man begrüßte sich wie Landsleute, wie Europäer, die sich weit im Innern Chinas begegneten. Die Chinesen sprachen mit der höchsten Verachtung von dem wilden dummen Barbarenvolk, in das uns das Schicksal geführt habe, und waren begierig, etwas von der Welt von China, von Hsi ning bis hinab nach dem Kulturplatz Peking und Schanghai zu hören. Sie blieben etwa zwei Stunden, und man gelobte sich, im Bedarfsfall einander beizustehen. Alle sechs Chinesen trugen für den Besuch das kleine schwarze Chinesenkäppchen mit dem roten Schnurknopf auf dem Scheitel, auch hatten sie ihre blauen langen Baumwollkleider aus den Kisten geholt. Und nicht mit leeren Händen waren sie gekommen. Ihrem Besuche sandten sie ihre roten Visitenkarten voraus, und jeder händigte mir nach der Begrüßung und Vorstellung ein Päckchen Yün nan-Zucker aus. Es waren zumeist intelligente und nicht engsichtige Leute, die schon vieles durchgemacht hatten. Unsere Unterhaltung war darum recht angeregt, so daß es, bis sie sich auf den Heimweg begaben, dunkel geworden war. Als ich dann auf die Dachterrasse vor meiner Wohnung hinaustrat, stieg da und dort, vom Mondlicht beleuchtet, eine Rauchsäule senkrecht gen Himmel, ein still glimmendes, wohlriechendes Rauchopfer für die Götter schwelte auf den Dachaltären; die wirren Gassen zu meinen Füßen aber, die den Berghang hinabstiegen, waren schon alle leer, und nirgends war mehr ein helles Licht zu sehen. Vom Kloster drüben auf dem Berg schmetterten Hörner schwermütige Töne durchs Tal. Aus den Nachbarhäusern vernahm ich lange die Abendandacht der Bauern, Männerbaß vermischt mit sonoren Frauenstimmen, forte bald, bald piano und leise verklingend. Eine tief religiöse und zugleich melancholische Stimmung wollte sich in jedes Herz schleichen. - Nach der Andacht legen sich Dscherku ndo's Bewohner bald zum Schlafen nieder. Sie erheben sich auch mit der Sonne und beginnen ihren Tag, indem sie harzige Wacholderzweigchen in ihrem Weihrauchöfchen entzünden.
   Das Dorf oder die »Stadt« Dscherku ndo (tib. geschrieben Gye rgu ndo) ist eine Hauptetappe auf der großen Karawanenstraße, die von Ta tsien lu in einem nach Norden ausholenden Bogen westwärts in den tibetischen Kirchenstaat Lhasa führt und bis wenige Tagereisen vor ihrem Ziel durch Gebiete geht, die mit der Lhasa -Regierung nichts zu tun haben wollen. Täglich sah ich auf dieser Straße große Yakhaufen verkehren, die von Osten her chinesischen Tee, Reis, Zucker, Seide, Baumwollstoffe, Anilinfarben und eine Menge kleiner Chinawaren, wie Porzellanschalen, Kochgeschirre u. dgl., herbeischleppten. Vom Westen kamen viele von ihnen leer zurück. Manche führten tibetischen Weihrauch, Heiligenbilder, Bücher, Wollstoffe, Drogen, auch rohe Wolle und Häute (Lammfelle und Pelze von wilden Tieren), auch englische und deutsche Emailwaren. Zweimal traf ich eine dreißigköpfige Herde, die europäische Eisenabfälle in Form von Eisenbändern nach Dergi transportierte. Die waren nur von wenigen Mann begleitet, die zu Fuß gingen und oft kaum bewaffnet waren. Die Tiere gehörten den Ortsansässigen, die sie für bestimmte Strecken an die Händler vermieten und auf diese Weise während der trockenen Jahreszeit, besonders im Winter und Herbst, ein gutes Stück Geld verdienen.
   Zu meiner Zeit hatten die Händler für wenig mehr als 50 km eine Rupie pro Yaklast zu zahlen. Die Händler sind meist Agenten von alt eingeführten Handelshäusern in Ta tsien lu und Hor Gantse oder auch Abgesandte, sogenannte »tsung bon«, großer Klöster aus Dya sde und dBus (Lhasa) und teilweise sogar Regierungsvertreter. Bei der ungeheuren Entfernung, die der Se tschuan-Tee zurücklegen muß, übersteigen die Transportkosten bereits in Dscherku ndo den ursprünglichen Wert des Tees um ein Vielfaches. Zu dem Handel gehören darum ansehnliche Barmittel, und dazu bedarf es noch eines gewissen politischen Rückhalts, um die kostbaren Transporte vor Überfällen durch Banden und Übergriffen einzelner Gemeinden und kleiner Machthaber zu schützen. Darum ist es eine Ausnahme, daß Privatleute oder Nichtadlige in diesem Teil von Tibet Handel treiben.
   Dscherku ndo spielt an dieser Straße die Rolle eines Emporiums für das zu Hsi ning gehörige K'am und das ganze oberste Yang tse-Tal. Kauf und Verkauf spielt sich hier aber nicht wie in China in Läden ab, sondern die Kaufleute haben ihre Warenstapel in ihren Wohnräumen liegen, in denen die Kauflustigen sie aufsuchen. Der Ort zählt höchstens 330 Familien, Bauern, Händler und Handwerker und liegt an einem kahlen, warmen, nach Süden gerichteten Berghang, an dessen Fuß einzelne schottervermischte Lößansammlungen sich angehäuft und erhalten haben. Die Häuser stehen unregelmäßig zusammengedrängt zwischen engen, krummen, an Steinen und Schmutz reichen Gassen. Meist sind es mehrstöckige Gebäude aus rohen Steinplatten und Lehm, braungelb wie die winterliche Umgebung, in der ich sie antraf. Mit lustiger, blauer, roter und weißer Bemalung leuchtet dagegen einige hundert Meter ostwärts vom Marktort, über kühne Felsen herab, das Kloster Dscherku, das vierhundert bis fünfhundert Mönche fassen soll. Wie eine deutsche mittelalterliche Burg schauen vom äußersten Felsvorsprung das Abtsgebäude und die Tempel und Heiligtümer ins Land hinein, während die gewöhnlichen Priesterwohnungen an dem Hauptberg dahinter als ein kleines sauberes Städtchen sich ausbreiten. In dem „Dschong“ auf der Felsklippe hat der Beherrscher des Dscherku-Stammes (tibet.: sde schok), der Tsawu Be hu, seinen Sitz. Zurzeit ist dies ein inkarnierter Lama der Saskya-Sekte, der aber erst während der Mandschuzeit an die Stelle des einstigen weltlichen und erblichen Fürstenhauses getreten ist. Statt der Erbfolge in der Adelsfamilie ist jetzt ein fester Seelenbesitzstand vorhanden. Dieselbe Seele, die von Zeit zu Zeit nur sozusagen aus der alten in eine neue Haut fährt, andauernder Herr. Aber sonderbarerweise sucht sich diese  Seele immer wieder adlige Familien aus, Den Chinesen lieferte der Tsawu Be hu noch alle drei Jahre seine Abgaben ab. Im übrigen untersteht er wie seine Nachbarn dem Nan tsien-König als Oberherrn. Außer ihm hat noch ein zweiter lebender Buddha sein Labrang auf dem Berg oben aufgeschlagen.
   Als bedeutendster und wichtigster Platz für eine weite Umgebung Dscherku ndo zugleich Verwaltungszentrale der chinesischen, d. h. Hsi ninger Regierung im ganzen „Hung mao ör de ti fang“ oder »Yü fu« (Peking-Dialekt: Yü schu). Zur Zeit meines Besuchs befand sich freilich nur ein einzelner Mann, obendrein ein Fan tse, aus Dunkur als Vertreter und politischer Agent der Chinesen in diesem Lande. Dieser „Lo ts'a“ wurde auf Kosten der Tibeter ernährt, hatte aber sonst nichts zu beanspruchen und nur die Aufgabe, nötigenfalls über wichtige Vorgänge im Lande Auskunft geben zu können. Nur jedes dritte Jahr traf man hier wirkliche chinesische Beamte, und zwar eine Kommission zur Eintreibung von Steuern, die aus der Mongolenzeit übernommen worden waren, und deren Höhe seit 1732 festgesetzt war. Die Kommission bestand aus einem Zivil- und einem Militärmandarin mit drei Dolmetschern und drei Schreibern, zu deren Schutz an die zwanzig chinesische Soldaten mit vier Flaggen und einige Mongolen aus Ts'aidam mitgenommen wurden.
   […]
   In meinem Hause in Dscherku ndo lag auf der anderen Seite meiner Dachterrasse ein Stübchen, das zugleich als Küche diente, und das eine einsame Frau oder ein Fräulein bewohnte. Sie brachte, während ich ihr Wohnnachbar war, ihre Tage mit Spinnen und Weben im Freien zu, saß immer fleißig an einer windgeschützten Mauer in der wärmenden Sonne oder grub auf den Bergen nach Dschuma (Potentilla). Immer war sie geschäftig, und ihr Zimmerchen sah ganz altjüngferlich aus, so aufgeräumt, so sauber und geleckt war es, daß ich mich jedesmal in die Heimat zurückversetzt wähnte, wenn ich einmal hineingucken durfte. Über dem tischförmigen Herde hingen blitzblank funkelnde Messinglöffel, -schapfen und Kasserollen, schön nach der Größe ausgerichtet. Auf einer Truhenkiste an der Rückwand lagen in Seide gewickelte und sichtlich liebevoll gepflegte Gebetblätter. In Nischen der Lehmmauer standen die Holzschalen und die bunt bemalten Holzteller für Ehrengäste. Dort hingen auch getrocknete Hammelkeulen, und dort war ihr Vorrat an Gerste aufbewahrt. Der Bettplatz war ein winziges Fell einer Antilope, neben dem bei Tag einige Pelzmäntel zum Zudecken aufgerollt lagen; Spindeln, Weberschiffchen, Garn, rohe Wolle und schon verarbeiteter Stoff füllten eine ganze Ecke. Das Licht aber fiel durch ein viereckiges Loch in der Decke. An Fenstern gab's nur eine handbreite Schießscharte.
   Mein Aufenthalt in Dscherku fiel in die ersten Monate nach dem tibetischen Neujahr, darum sah ich in dieser Wohnung noch die Zeichnungen, die um die tibetische Jahreswende über den Herd an die Wand gemalt werden. Von der geschwärzten Lehmmauer hob sich weiß, mit weißem Weizenmehlkleister aufgetragen, ein Ornament in der Art unseres Mäanders ab, neben dem man aus demselben Material Ringfiguren und eine Zeichnung, den Umrissen einer großen Vase nicht unähnlich, erkennen konnte. In manchen Wohnungen, wie z.B. bei meinem Hauswirt, war außerdem noch, das Hakenkreuz mit Weizenmehl auf die Wand gemalt, und die Figur des laufenden Hundes wurde mir erklärt als aus einer Reihe von Hakenkreuzen entstanden. Über die Bedeutung dieser alten Sitte und der Ornamente aber, die noch aus vorbuddhistischer Zeit stammen scheinen, auch über die Vorstellungen, die die Tibeter sich dabei machen, konnte ich leider nichts Neues in Erfahrung bringen. So weit drang ich nicht ins Vertrauen der Leute. Die meisten machen wohl auch die Zeichen, ohne viel zu denken, an ihre Hauswände, nur weil „man“ sie eben macht.
   Die Tage in Dscherku, die ich eng zwischen den eigenartigen Menschen verbrachte, verflogen mir rasch. Jeder Besucher und Bettler,jeglicher kläglich um eine Handvoll Tsamba stammelnde Lamajunge trug mir Interessantes zu. Der fahrende Gaukler, der blind oder knielahm, mit abgeschnittenen Ohren oder durchtrennter Achillessehne bis in mein Wohnloch heraufgekrochen kam, sang mit seine schönsten tibetischen Traumbilder vor.

 

Tafel, Albert
Meine Tibetreise
2. Ausgabe, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1925

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