1897 - Richard Kandt
In Tabora
Tansania
Es ist wahrlich nicht der häßlichste Platz, den ich mir zum Schreiben ausgesucht habe; jedenfalls sehr geeignet, um sich in die nötige Stimmung für afrikanische Reisebriefe zu versetzten. Mein Tisch steht auf einer geräumigen Veranda, die durch ein hohes, dichtes Strohdach vor jedem Sonnenstrahl geschützt ist. Sie nimmt die ganze, mehr als 20 Meter lange Front eines für zentralafrikanische Begriffe unerhört stattlichen Hauses, das ein unternehmender deutscher Händler am Markte von Tabora gebaut hat. Wenn ich von meinem Schreibtisch über die niedrige Brüstung hinwegblicke, so sehe ich dicht unter mir eine breite, saubere Straße, die auf beiden Seiten von den Marktständen begleitet wird, primitiven, offenen Hallen, deren roh gezimmerte Holzpfeiler das aus Grasbündeln und Bast dicht gefügte Schutzdach tragen. Dicht daneben dehnt sich ein Hüttenviertel aus, von dem ich allerdings trotz meines erhöhten Standpunktes nur die Dächer sehe, weil hohe, mattenartig geflochtene Zäune meinen Blicken das übrige verbergen. Aber schon an den Dächern, die bald flach, bald giebel- und bald kegelförmig sind, erkenne ich, daß das Völkergemisch, das hier haust, auch in seinen Wohnstätten Ausdruck gefunden hat. Wo die letzten Hütten stehen, beginnen die Felder und Wiesen, deren schönste Unterbrechung die zahlreichen Mangobäume mit ihren prächtigen, dunkelgrünen, dem Boden scheinbar ohne Stamm entspringenden Blattmassen sind. Dazwischen hebt sich von dem hellen Gelb der Felder oder dem mattblauen Himmel hie und da eine schlanke Kokospalme oder eine Dattelpalme mit ihrem wuchtigen, aber immer graziösen Bau ab. Den Hintergrund dieses Dioramas bildet eine schwach bewaldete, mit Granitblöcken übersäte Hügelkette, deren Kamm in sanften Wellen sich hinzieht und im Osten wie im Westen allmählich in der Ebene verliert.
Anmutig und reizvoll wie die Landschaft, ist auch das Leben und Treiben, das sich in ihr abspielt. Eine bunte Menge drängt sich vom frühen Morgen bis zum Sonnenuntergang auf dem Markte und feilscht in allen möglichen Dialekten mit den Händlern, die ihrer Ware nicht mehr Aufmerksamkeit schenken als ihren Freuden, die, den Schatten genießend, ihnen Gesellschaft leisten und schwätzen die Zeit verkürzen. Und was gibt es hier nicht alles zu kaufen! „Tabora“. Das hat für das Ohr des Negers denselben Klang wie „Paris“ für die Lebemänner aller Nationen. „Tabora“ So oft meine Träger mit schlaffen Knien und gesenktem Kopf durch das Pori [Ödland] zogen, kein Laut über ihre Lippen kam, nicht einer der ermunternden, scherzhaften Zurufe, die sonst vom letzten bis zum ersten Mann sich fortzupflanzen pflegten, und selbst die Aussicht, bald einen Lagerplatz zu erreichen, ihnen nicht über die Glut der Sonne und die Schwere ihrer Last hinweghalf, da brauchte nur das Wort „Tabora“ an ihr Ohr zu dringen, und unter dem Einfluß einer Vision, die ich mir etwa als einen Tanz aller ihnen bekannten Fleisch- und Gemüsesorten um ein großes Faß mit Pombe [Bier oder Wein] stählten sie für einige Zeit wieder ihre schlaffen Glieder. Und jetzt, da sie ihr Dorado erreicht haben, ist die Gefahr nur zu groß, daß es für sie zum Capua wird, um so mehr, als ich gezwungen bin, fast vierzehn Tage hier zu verweilen.
Ich erkenne sie kaum wieder, wenn ich sie jetzt in vornehm blasierter Haltung mit langem weißem Hemde und gleichfarbiger Mütze, an der ich sie oft im Lager sticken sah, und ein Spazierstöckchen unterm Arm den Markt entlang schlendern sehe. Viele habe hier Verwandte und Freunde wiedergefunden, die irgend ein Zufall, oft aber auch das böse Gewissen von der Küste fernhält. Denn „Barra“, d. h. das Innere, ist das Buenos Aires der Küstenleute, ein gesegnetes Asyl für flüchtige Kassierer. Neben meinen Wasuaheli mit ihren großstädtischen Allüren erscheint die eingeborene Bevölkerung der Wanjamwesi sehr unkultiviert. Meine Leute wissen dies auch und schauen auf die Waschensie („die Wilden“) mit ihrem teils ärmlichen, teils aufdringlich geputztem Äußerem herab, wie ein Berliner auf die Provinzler. „Nur ihre Weiber hat er gern“, und wer Augen hat zu sehen, dem wird es nicht entgehen, daß sich auf dem Markte vielfach zarte Bande verknüpfen, die meiner Karawane einen weiteren unerwünschten Zuwachs des weiblichen Personals bringen werden. Wanjamwesi und Wasuaheli bilden die Hauptmasse der hiesigen Bevölkerung, daneben sieht man aber Vertreter fast aller Stämme, die an und zwischen den großen Seen wohnen. Viele sind in der Zeit des Sklavenraubs hierher verschleppt worden. An jene Zeit erinnern auch noch die Araber, die hier wohnen, und die mit wenigen Ausnahmen, nachdem ihnen die Quellen ihres Erwerbs verstopft wurden, dem finanziellen Untergange geweiht sind. Denn der Araber ist kein Kaufmann, weder im großen noch kleinen; er versteht nicht, zwischen Einnahmen und Ausgaben das Gleichgewicht zu halten, und so sinkt er immer tiefer in die Gewalt des wuchernden Inders.
Das würde ihnen ein Uneingeweihter freilich nicht ansehen, wenn er sie jetzt, wie ich, über den Markt zum Schauriplatz [Verhandlungs-, Gerichtsplatz] reiten sähe, mit ihren prächtigen Gewändern, mit dem goldbestickten Sattelzeug, dem silbernen Geschirr ihrer Maskatesel und dem Troß ihrer Vorläufer.
Jeden Mittag um zwölf Uhr kommt plötzlich verstärktes Leben in das bunte Gewimmel des Marktes. Trompetenblasen, Trommel- und Paukenschlagen – die Wache zieht auf. Ganz wie bei uns laufen zwanzig bis dreißig Gassenjungen der Musik voraus, die Knüppel geschultert und im Takte marschierend. Wehe aber, wenn die kleine schwarze Bande entdeckt, daß ein unbekannter Europäer am Orte ist. Dann wird abgeschwenkt – ein paar Blechbüchsen, auf denen sich spektakeln läßt, sind rasch gefunden, und die Ovation beginnt.
[…]
Tabora ist in den letzten Jahren in Verruf gekommen, u.a. durch die Schilderungen des Herrn General v. Trotha; aber ich meine nicht ganz mit Recht. Ich habe auch schon mal einen Herrn behaupten hören, der ganze Niagarafall sei ein Schwindel und ein echt amerikanischer Humbug. Warum? Der Mann war mit der aus seiner Kindheit ererbten Vorstellung nach Amerika angekommen, daß dort ein Weltmeer in Welttiefen stürze und verstand es nicht, diese Phantasie zu abstrahieren, um zu einem Genuß der Realität zu kommen. Auch Tabora war mit pompösen Worten wie „Handelszentrale“, „Emporium von Innerafrika“ usw. behangen worden; kein Wunder, wenn es dann den nüchternen Beobachter enttäuscht, besonders wenn er zu einer ungünstigen Zeit hinkommt. Denn das muß bei Herrn v. Trotha der Fall gewesen sein, sonst wäre seine Beschreibung des Marktbildes anders ausgefallen; ich habe es wenigstens ein Jahr später ganz anders gefunden. Das heißt, ich habe nätürlich auch nur Lebensmittel und „europäischen Tand“ verkaufen sehen, aber doch in sehr lebhaftem Absatz, wie auch die Einnahmen der „Marktsteuer“ beweisen. Aber was sollte denn sonst dort verkauft werden, da größere Objekte wie Elfenbein, Rinder, gewohnheitsmäßig nicht den offenen Markt aufsuchen. Ich glaube auch gar nicht, daß Tabora jemals eine sehr große Bedeutung gehabt hat, daß man es heute im Verfall nennen könnte; es war immer, was es heute noch ist, die Kreuzungsstelle der Karawanenstraßen. Damit steht und fällt sein Wert.
Ich bezweifle aber, daß die Karawanenstraße früher belebter war als jetzt, am allerwenigsten der Lastentransit. Die größeren Mengen (?) Elfenbein wiegen nicht die heutigen Bedürfnisse der Europäer und Truppen, die Erweiterung der Handelsbeziehungen und die Eröffnung neuer Tauschgebiete auf. Auch das spricht gegen Tabora, daß seine Araber heute fast alle unvermögend sind. Aber ob sie je reich waren? Nach meinen Erkundigungen haben wir sie bereits power vorgefunden, und so werden sie mehr oder weniger schon lange vorher von der Hand in den Mund gelebt haben, weil sie durchweg keine gewiegten Kaufleute sein sollen. In Summa, wenn Tabora seinem alten Ruf nicht entspricht, so liegt das höchstwahrscheinlich an dem alten Ruf und nicht an Tabora.
Kandt, Richard
Caput Nili. Eine empfindsame Reise zu den Quellen des Nils
Reprint der 6. Auflage Berlin 1921; Koblenz 1991