Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1911 - Georg Wegener
Mandalay
Myanmar

 

Im Herzen von Birma, sechs Tagereisen Stromfahrt den Irrawadi aufwärts von der Hafenstadt Rangun, liegt die letzte Hauptstadt des ehemaligen birmanischen Königsreichs, liegt Mandalay, die seltsamste, traumhafteste Stadt von Asien. Ich sah sie im März 1911 auf einer Reise nach Oberbirma, die ich an die Fahrt mit unserem Kronprinzen durch Vorderindien anschloß. Nach heute zählt Mandalay weit über hunderttausend Einwohner, es hat elektrische Straßenbahnen und moderne Markthallen, erfüllt vom geschäftigen Getriebe. Und dennoch hatte ich das Gefühl, als sei die Stadt bereits in Wirklichkeit verschwunden, weggewischt vom Erdboden wie ihre verschiedenen Vorgängerinnen, eigentlich nur noch eine Fata Morgana, ein altes Lied, ein orientalisches Zaubermärchen. In der gleichen Stromebene mit ihr, im Umkreis nur weniger Meilen, liegen die Trümmer der früheren birmanischen Königsresidenzen: Sagaing, Ava und zuletzt Amarapura, deren Name „die Unsterbliche“ bedeutet und deren Leben doch nur 75 Jahre, von 1783 bis 1857, gedauert hat. Der rasch wuchernde tropische Dschungel hat sich ihrer Gassen bemächtigt, die sicher zu ihrer Zeit nicht viel weniger Menschen beherbergte als Mandalay. Der Wanderer durchstreift heut ein unentwirrbares Chaos von zerbröckeltem Gemäuer, umkrallt von Lianen, wie von Riesenschlangen, aus den Fugen gesprengt durch unwiderstehlich schwellendes Wurzelwerk. Verlassene Pagoden ragen empor, mit Spitzen, gedreht wie riesige Schachfiguren; wunderliche Fabeltiere, Greifen und Flügellöwen glotzen mit bunten Kugelaugen aus dem Blattgrün hervor: das Ganze ist eine Heimat der Schakale und wilden Pfauen. Denn wenn ein König von Birma seine Residenz verlegte, mußte die gesamte Einwohnerschaft ihre leichten Bambushäuschen abbrechen und mit umsiedeln; die ehemalige Stadt wurde Einöde.
   So war aber der Untergang der früheren Hauptstädte doch eigentlich keine Vernichtung eines großen Glanzes, sondern jedesmal nur eine Verpflanzung gewesen. Bei Mandalay ist das anders. Im Jahre 1857 erst gründete König Mindon diese Riesenstadt, die an Pracht alles Frühere noch überragen sollte; 1878 kam sein brutaler, anscheinend cäsarenwahnsinniger Neffe Tibo zur Regierung, der, ganz in den Händen seiner ehrgeizigen, leidenschaftlichen Hauptfrau Supaya Lat, seine Herrschaft zunächst mit einem grausamen Massenmord unter seinen nächsten Verwandten befestigte, den Königspalast mit noch gesteigertem Luxus erfüllte und dann in törichter und ganz undiplomatischer Weise mit den Engländern aneinandergeriet. Diese nutzten die Gelegenheit, drangen 1885 rasch mit einer Armee den Irrawadi hinauf, eroberten im Handstreich Mandalay und nahmen den Übermütigen, der so etwas nicht entfernt für möglich gehalten hatte, inmitten seines Goldenen Palastes gefangen. Dem birmanischen Königtum wurde ein Ende gemacht, das Land dem britisch-indischen Kaiserreich als Provinz einverleibt, und um allen Verschwörungen und Aufständen vorzubeugen, wurden nicht nur König Tibo und seine Gattin selbst, sondern auch die einflußreichsten Mitglieder der königlichen Familie aus Birma verbannt und nach verschiedenen Orten Vorderindiens ins Exil geführt.
   Damit war nun auch für Mandalay das Todesurteil gesprochen. Denn was dieser Stadt einzig und allein Daseinsgrund und Ursache ihres Glanzes gegeben hatte, das Königtum, der Hof, der in orientalischer Art allen Reichtum, alle Blüten des Geistes und der Kunst um sich vereinigte, war auf immer dahin. Diesmal aber endgültig. Dies große, eigenartige Leben ist verflattert, zerstoben, vernichtet.
   Wohl ist es möglich, daß das moderne Weltgetriebe, das der Eroberer nach Birma heraufführt, und das überhaupt Birmas feine, eigenartige alte Kultur unwiderstehlich zerreiben wird und sein Volk dazu, eine Art Leben an dieser Stelle bewahrt – wenngleich Mandalays Bevölkerungszahl seit der Eroberung bereits um etwa 50.000 Seelen zurückgegangen ist - ; doch das ist dann etwas anderes, diese Stadt ist dann nicht mehr Mandalay.
   Noch stehen heut die großen Prunkbauten der letzten Könige aufrecht; noch geben uns die Paläste, die Tempel, die Klöster, die zahllosen Pagoden Mandalays inmitten der leichten Bambushäuschen der Bewohner eine Vorstellung davon, wie einst auch die älteren Residenzen dieser schwindenden Kultur aussahen; und die Engländer bemühen sich auch, aus dem „Noblesse oblige“ heraus, das sie neuerdings in ihrem indischen Kaiserreiche den ihnen zugefallenen Schätzen einheimischer Kunst gegenüber empfinden, davon so viel als möglich vor der Vernichtung zu bewahren.
   Aber wie wenig ist möglich! Denn das Feinste und Beste an diesen Bauwerken ist hier aus dem in den Tropen vergänglichsten aller Stoffe, aus – Holz geformt! All die wundervollen Schnitzereien dieser Tempel und Paläste haben höchstens eine Lebensdauer von vierzig Jahren, und sie wurden auch früher von dem lebendigen Hofe unablässig erneuert. Unmöglich kann indessen der neue Herr, England, mit seinen ganz anderen Aufgaben auf die Dauer und in ganzem Umfange nur um des ästhetischen Interesses willen die ungeheuren Mittel aufwenden, diese Dinge zu erhalten. Und selbst das, was jetzt mit großem Eifer erneuert wird, bleibt ein Totes, Gespenstisches; Leben und Sinn ist daraus entwichen; als eine archäologische Ruine liegt Mandalay vor uns, eine Mumie, die bestimmt, ist, binnen kurzem in Staub zu zerfallen, noch eben verklärt von seiner untergehenden Schönheit.
   Wunderbar schön noch heut, zum Feinsten gehörig, was die Kunst Asiens hervorgebracht hat, ist zum Beispiel das Goldene Kloster der Königin Supaya Lat mit den unvergleichlichen Schnitzarbeiten an seinen Wänden, mit den wie züngelnde Flammen gen Himmel steigenden Giebeln und Spitzen, mit der gerade durch ihre Verwaschenheit heut so unsagbar künstlerisch wirkenden Vergoldung des alten braunen Holzes. Aber schon jetzt ist es so gebrechlich, daß mich, als ich es zum letztenmal sah, übergossen vom Strahl der untergehenden Sonne, das Gefühl nicht losließ, als sei es heute nur noch eine goldene Vision und müsse mit diesem letzten Sonnenstrahl selbst sich auflösen und verschwinden.
   Nicht anders auch der eigentliche Wohnsitz des Königs in Mandalay, das riesige Mauerviereck im Mittelpunkt der Stadtanlage, daß einst außer dem Fürsten und seiner Familie selbst den ganzen Hofstaat und die großen Würdenträger des Landes mit ihrem Gesinde, eine Bevölkerung von vielen Tausenden, in sich barg. Schweigend, mit trägen Wassern, ziehen sich die breiten, schnurgeraden Gräben rings um diese Königsstadt, von Lotos überwuchert, von weißen Brücken überquert. Verschwunden sind die goldenen Prunkbarken, die einst, mit Seidenstoffen behängt, hier wettruderten; über die Brücken ziehen nicht mehr die Kavalkaden glänzender Hofleute und schmuckbeladener Elefanten. Alles ist still, todeinsam. Die lange, lange Zinnenmauer, die in regelmäßigen Abständen von Türmchen mit spitzigen Pagodendächern überragt ist, steigt jenseits der stillen Wasser in seltsam violettem Duft empor wie ein Traumgebilde, wie eine Märchenphantasie, wie eine Turandot-Dekoration; seltsam, unwirklich, geheimnisschwer. Voller Erwartung dessen, was hinter der mysteriösen Mauer sich verbarg, durchschritt ich das Tor. Jenseits war aber zunächst nichts anderes zu sehen als ein großer Baumgarten mit leeren Rasenflächen dazwischen. Die Gassen, die einst das Palastviertel erfüllten, sind von den Engländern, die den Königsstadtteil zu einer Zitadelle gemacht haben, rasiert worden. Hier und da lagen nüchterne englische Garnisonsbaracken, militärische Verwaltungsgebäude, Offiziershäuser, auch das Wohnhaus des Gouverneurs, ohne daß sie den Eindruck der ungeheuren Leere aufheben konnten. – Nur in der Ferne über den Bäumen lockte fremdartig eine hohe goldene Turmspitze. Ihr strebte ich zu und stand nun mit einem Male vor dem Wunder Mandalays, dem Goldenen Palaste König Mindons, den dieser Monarch hierher aus Annapura versetzt, und der uns, wenngleich in den einzelnen Teilen stets erneuert, wahrscheinlich eine uralte Form und Anlage birmanischer Königspaläste überliefert. Ich kann hier nicht dies gewaltige, bizarre und doch wieder mit Gebilden edelster Kunst geschmückte Bauwerk im einzelnen schildern; ich würde viele Seiten dazu brauchen. Die riesenhohen Hallen aus rotgemalten oder über und über vergoldeten Brettern und prachtvollen Schnitzereien; den goldenen Saal, in dessen Hintergrund der herrliche Löwenthron eingelassen war, der jetzt im Museum von Kalkutta aufgestellt ist und dessen Stelle im Palast jener sich gerade darüber erhebende goldspitzige, von den Birmanen „Mittelpunkt des Weltalls“ genannte Turm bezeichnet. König und Königin erschienen hier ehedem durch eine Tür aus dem Palastinnern und schwebten unnahbar hoch über den Häuptern der Untergebenen in goldstarrenden Gewändern, hieratisch feierlich, wie Buddhabilder.
   Oder den Saal mit dem Lilienthron, um den die Königin ihren Hofstaat zu versammeln pflegte. Ich sah auch das Schlafgemach der Königin, einen Raum, dessen Heiligkeit ehedem auch der Gedanke nicht zu nahen gewagt hätte – heute ein öder, hoher, viereckiger, lichtloser Verschlag aus vergoldeten Brettern. Ich sah das königliche Theater mit seinem phantastischen, gegenwärtig erblindeten Glas- und Spiegelmosaik. Das jetzt trockenliegende, hochumfriedigte Bassin, in dem einst die Frauen des königlichen Harems badeten, und zugleich die Stätte, wo Tibo seinen Vettern die Gurgel abschneiden ließ – sicher nicht die einzige unheimliche Erinnerung in diesem alten, schon überall morschen Palast. In einem als Museum eingerichteten Raum sah ich auch unter Glas einige lebensgroße Modellpuppen in den ehemaligen Hoftrachten, flitterbunt  und phantastisch wie javanische Wajangfiguren. Sie machten es nicht leichter, sich diese Stätte in der Vorstellung wieder mit Leben zu füllen, das sich einst hier bewegt haben mußte, mit Liebe und Haß, mit Scherz und Spiel, Hoffart und Begierde, Kabale und Intrige. Im Gegenteil: wenn man diese Seltsamkeiten sah, so schien es, als könnten dieser wunderliche Hof, diese prunküberladenen Prinzen und Prinzessinnen und ihre ganze Umgebung nicht Art von unserer Art gewesen sein, als müßte eine unüberbrückbare Kluft ihre Empfindungen und Gedanken von den unsrigen getrennt haben. Man stellte sich vor etwa wie die goldstarrenden Schauspielerfiguren mit grinsenden Goldblechmasken und den Pagodenspitzen gleichenden Kopfbedeckungen, die man auf den hinterindischen Schaubühnen nach der Musik der Gamelangs langsam feierlichen Schrittes und mit sonderbaren Arm- und Fingerbewegungen herumwandeln sieht, unheimlich anzuschauen, nicht wie lebendige Menschen, sondern wie bewegte Götzenbilder, die sich durch Magie vom vergoldeten Hintergrund alter Tempelschnitzereien losgelöst haben.

 

Wegener, Georg
Der Zaubermantel
3. Auflage, Leipzig 1920

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