1811 - Thomas Manning
Kampf mit dem Munshi und Besuch beim Dalai Lama
Lhasa
Wir waren noch nicht viele Meilen geritten, als wir einen anständig aussehenden Reiter trafen, der vom Pferde stieg und mich begrüßte, dann wieder aufsaß und mit unserem Führer ritt. Auf meine Erkundigung erfuhr ich, daß diese Person von dem Groß-Lama oder seinen Leuten oder dem tibetanischen Magistrat in Lhasa geschickt worden sein, um mich zu empfangen und mir Ehre zu erweisen und mich in die Hauptstadt zu führen. Wir beeilten uns, in die Stadt zu kommen, wo wir die Pferde wechseln sollten, aber unsere Eile war überflüssig. Wir mußten dort warten, bis unser Gepäck lange nach uns ankam und neuen Tieren aufgelegt worden war. Wenn wir nicht den ganzen Weg nach Lhasa galoppiert wären, hätte die Sonne längst im Süden gestanden, ehe wir uns in der Gegenwart des erhabenen „Tagin“ befunden hätten. Das war sehr unangenehm für meinen Munshi [Schreiber, Sekretär], aber sehr angenehm für mich. Mir war der Gedanke, die Ankunft in Lhasa zu überstürzen und mich ohne eine Erfrischung, schwitzend und erhitzt, mit Stiefeln, die mir bei jedem Schritt Schmerzen verursachten, den Mandarinen vorzustellen, sehr unangenehm, und ich konnte nicht verstehen, welches Verbrechen es für Reisende wie wir, die nicht auf schnelle Erfüllung ihrer Wünsche rechnen konnten, sein sollte, eine Stunde früher oder später anzukommen.
Da jetzt kein Grund mehr zur Eile vorlag, ritten wir langsam weiter. Sowie wir aus der Stadt heraus waren, zeigte sich der Palast des Groß-Lama unseren Blicken. Er schien ganz nahe, aber nachdem ich mit den Augen ein paar Winkel genommen hatte, wie sie sich nach weiteren 80 bis 100 Schritten zeigten, konnte ich meinem Munshi mitteilen, daß wir noch 4 bis 5 Meilen entfernt seien. Als wir näher kamen, bemerkte ich, daß unterhalb des Palastes ein beträchtliches Stück sumpfigen Landes lag. Das erinnerte mich an den Papst, Rom und was ich von den Pontinischen Sümpfen gelesen. Wir kamen unter einem Torweg durch, dessen vergoldete Verzierungen an der Spitze so schlecht befestigt waren, daß einige nach der einen, andere nach der anderen Seite überhingen und dem Ganzen das Aussehen gaben, wie die Felsen der Burgen und Schlösser, die der Konditor macht. Der Weg, der um das Schloß herumgeht, ist breit, ist hier breit, wie es sich für einen König ziemt, eben und frei von Steinen und bringt, zusammen mit der Aussicht auf den hochragenden Palast, der einen majestätischen Berg von Gebäuden bildet, eine großartige Wirkung hervor. Der Weg um den Palast war voller Mönche, seine Ecken und Winkel voller Bettler, die herumlungerten und in der Sonne brieten. Das erinnerte mich wieder an das, was ich von Rom gehört hatte. Mein Auge war fortwährend auf den Palast gerichtet und ging über jeden Teil hinweg, aber die Unregelmäßigkeit seiner Bauart spottete meiner Versuche, sie zu analysieren. Als ein Ganzes schien er vollkommen genug, aber ich konnte den Plan nicht in seinen Einzelheiten verstehen. 15 bis 20 Minuten brachten uns an den Eingang der Stadt Lhasa.
Wenn der Palast meine Erwartungen übertroffen hatte, so blieb die Stadt um eben so viel dahinter zurück. Sie hat in ihrem Aussehen nichts, was in die Augen fällt oder angenehm wäre. Die Häuser sind mit Ruß und Schmutz beschmiert. Die Straßen sind voller Hunde, die knurren und Stücke Leder kauen, und in Menge herum liegen und wie ein Beinhaus riechen; andere Hunde hinken herum und sehen elend aus, andere sind mit Geschwüren bedeckt, wieder andere sind verhungert und sterbend und werden von den Raben angepickt, und noch andere sind tot und angefressen. Selbst die Lust und das Lachen der Einwohner kam mir traum- und geisterhaft vor. Das Traumhafte war in meinem eigenen Geist, aber ich konnte nie über die Idee hinwegkommen, und sie nahm später noch an Stärke zu. Einige Wendungen in der Stadt brachten uns in eine enge Nebengasse und zu dem Tor eines Hofes, wo wir abstiegen und, nachdem wir den Hof durchschritten, in einen kleineren kamen, der von Wohnungen umgeben war. Wir stiegen eine Leiter hinauf und wurden in den Raum gewiesen, der für uns bereitet worden war.
Unsere erste Sorge war, uns anständige Hüte zu besorgen. Der General hatte uns einen hübschen leichten gegeben, aber er hatte einen ciceronianischen Kopf (ich meine der Form nach), und weder ich noch mein Munshi konnten ihn aufsetzen. Der erstere teilte mir mit, daß, wenn der Hut größer gemacht würde, man dies sehen würde und er nicht mehr getragen werden könnte. Ich als Fremder könne ihn allerdings auch so tragen, aber er als Chinese unter seinen Landsleuten könne das nicht, ausgenommen im Hause. Trotzdem hat er ihn hinterher für sich in einen ausgezeichneten Hut umändern lassen und ihn fortwährend getragen. Der Hutmacher nahm unser Maß und borgte uns indessen zwei Hüte. Wie erfuhren, daß dies die Zeit für die Besichtigung der chinesischen Truppen sei. Neben der Stadt war ein kleines Lager, wo die Mandarine täglich den Übungen beiwohnten. Die großen Männer waren noch dort in ihren Zelten und würden nicht vor Abend in ihre Amtsräume zurückkehren und Zeit haben, uns zu sehen. So wurde das Gewicht der Schuld, die so schwer auf meines Munshi Gewissen lag, mit einem Wort von ihm genommen.
Ich war sehr besorgt, daß der tatarische Mandarin sich daran erinnern könne, mich in Canton gesehen zu haben, oder sich meines Namens erinnerte oder sich entsänne, gehört zu haben, daß ein Engländer, auf den meine Beschreibung passe, in auffallender Weise sich in Canton aufgehalten und im Verdacht gestanden habe, daß er in das Innere des Landes zu gehen beabsichtige. Außerdem hatte er cantonesische Diener bei sich, von denen es noch wahrscheinlicher war, daß sie mich gesehen oder von mir gehört hätten. Ich setzte meine chinesische Brille auf, um meine Augen so viel wie möglich zu verändern, und los ging es. Es war ein weiter Weg, um ihn mit wunden Fersen zu gehen. Mir war sehr heiß und ich brannte inwendig. Als wir in ihre Gegenwart kamen, vollzog ich zum ersten Male die Zeremonie des „Ketese“ (Kwei, Knien). Mein Munshi war besorgt, daß ich etwas gegen die Zeremonie haben könnte, da er wußte, welchen Widerwillen die Europäer dagegen haben; aber ich hatte keine Einwendungen dagegen, so wenig, daß ich immer fragte, ob ich knien sollte, und wenn die Wahl frei stand zwischen dreimaligem und einmaligen Niederknien, ich gewöhnlich vorzog, es dreimal zu tun. Auch vor den tibetanischen Mandarinen kniete ich manchmal nieder, obgleich das meinem Munshi sehr mißfiel. Er wünschte, daß dieses Zeichen des Respekts nur den Chinesen erwiesen würde. Tatsächlich gebrauchen die gemeinen Chinesen den tibetanischen Mandarinen gegenüber keine Zeremonien. Sie sollen ihnen nicht die Ehrfurcht erweisen, die ihnen gebührt, und ihnen eine niedere darzubringen, würde eine Art Beleidigung sein. Da mir beide Seiten ganz gleichgültig waren, wünschte ich, beide so viel wie möglich in gleicher Weise zu behandeln.
Es war keine Gefahr, daß der tatarische Mandarin meine Person wiedererkennen könne. Der alte Hund war stockblind und konnte nicht viele Zoll weiter als seine Nase sehen. Sie stellten einige Fragen, erkundigten sich höflich nach meiner Gesundheit und wie ich auf der Reise untergekommen sei, und deuteten an, daß sie meine Wohnung für mich besorgt hätten. Ich hätte vorgezogen, wenn sie diese letztere Andeutung unterlassen hätten, sie besagte gar nichts, sondern war eine leere Redensart, da sie gar nichts mit meiner Wohnung noch mit dem Fleisch und Reis zu tun hatten, die mir bei meiner Ankunft gereicht wurden. Alle diese Sachen wurden durch die Leute unter dem Groß-Lama oder die tibetanischen Mandarine besorgt. Aber als ich später unser Zimmer sehr kalt und unbequem fand, unwohl war und wieder auszuziehen und ein anderes Zimmer zu haben wünschte, was ohne Schwierigkeiten hätte geschehen können, machte mir mein Munshi einen Strich durch die Rechnung und weigerte sich absolut. Die großen Mandarine hätten uns dies gegeben, ein Wechsel würde sie beleidigen; während es ihnen ganz gleich war, wo ich wohnte, wenn ich nur das bezahlte, was ich mietete. Aber das ist die abergläubische Furcht, welche die Chinesen vor ihren Mandarinen haben.
Unser Zimmer war groß, hatte zwei kleine Fenster ohne Papier nach Norden und Westen; kein Sonnenstrahl kam in dasselbe; in der Mitte des Daches war eine große Öffnung (vier Fuß im Quadrat oder mehr), durch die der kalte Wind Tag und Nacht herein blies. Ich mußte meine dünne Matratze auf einen rauhen, steinigen, ebenen Fußboden, oder Pflaster, legen, denn ich kann es nicht Fußboden nennen. Allerdings wurden uns zwei große Kissen gegeben, aber sie waren von ungleicher Dicke. Ich wußte nicht, wie ich sie arrangieren sollte. Mein Munshi, der in allen diesen kleinen Handgriffen sehr bewandert war, hatte nicht die Liebenswürdigkeit, mich zu unterrichten oder mir zu helfen, sondern nahm sie bei meiner ersten Bemerkung, daß ich die Kissen nicht wolle, für sein eigenes Bett, obgleich das schon viel dicker als das meine war und er es außerdem auf seine große glatte Kiste legte, die er durch einen Stuhl oder auf andere Weise verlängerte. Er dachte auch nicht daran, meinen Wunsch, passende Kisten für mich machen zu lassen, schnell zu erfüllen, sondern ließ mich ruhig viele, viel Nächte auf diese unbequeme Weise zubringen.
Jeder Befehl, jedes Geschäft mußte natürlich durch ihn gehen. Er bat mich, nicht viel chinesisch zu sprechen oder mir nicht den Anschein zu geben, als ob ich die Zeichen kenne; das könne ihn in große Verlegenheit bringen. Ich hielt das für vernünftig und stimmte ihm zu. Infolgedessen wendete sich jedermann von Anfang an durch ihn an mich, und wenn ich jemals versuchte, unabhängig zu handeln, wurde ich immer an Munshi gewiesen und gebeten, es ihm zu erklären. Ich sprach ja allerdings chinesisch recht unvollkommen, auch war es nicht wahrscheinlich, daß ich mich darin vervollkommnen würde, wenn niemand mit mir sprechen wollte. Ich war an die Pekinger Aussprache gewöhnt. Ich verstand sehr gut, was die Mandarine sagten, aber wie sollte ich die gemeinen gewöhnlichen Chinesen in Lhasa, die den Szechuen-Dialekt sprachen und häufig Argot-Phrasen, Provinzialismen und idiomatische Ausdrücke gebrauchten, verstehen? Ein Franzose oder ein anderer Europäer wird sich einem Fremden anpassen, er wird einen Satz wiederholen, ein Wort durch ein gleichbedeutendes ersetzen oder so gut er kann erklären. Nicht so der Chinese; wenn man ein Wort in einem Satz nicht versteht, ist man verloren, er wird es weder verändern noch erklären. Es ist das nicht Mangel an Höflichkeit; e ist nur nicht daran gewöhnt: er kommt sofort zu dem Schlusse, daß ein unüberwindliches Hindernis für ein Gespräch zwischen dir und ihm bestehe. Zu diesem Mangel an Anpassungsvermögen kam die unberechtigte Voraussetzung, daß ich beinahe ganz unbekannt mit der chinesischen Sprache sei, so daß ich, was Chinesisch sprechen anbetraf, in Lhasa mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte.
Mein Munshi hatte zwar in seiner zänkischen Art erklärt, daß er mir in Lhasa keinen weiteren Unterricht geben könne und wolle; er fürchte sich. Ich hielt mich an diese Erklärung, und obgleich wir später gute und völlig sichere Gelegenheiten hatten und es mir schien, daß er willig sei, dieselben zu benutzen, um isch selbst im Englischen zu vervollkommnen, kam ich doch, da er keinen Schritt dazu tat, nicht auf die Sache zurück, und während der ganzen Zeit, die wir in Lhasa waren, sprachen wir kaum ein Wort Chinisich miteinander oder unterhielten uns sonst über diese Sprache. Er war so schlechter Laune und so unnachgiebig und ungezogen, daß ich die Gespäche mit ihm möglichst vermied, damit nicht wieder Streit ausbräche. Als wir unsere Wohnung wechselten und ich eine eigenes Zimmer hatte, waren wir, da ich während der ersten Zeit an rheumatischem Fieber krank lag und fast nichts aß, den ganzen Tag über getrennt, und sich setzte später die Gewohnheit fort, meine Mahlzeiten allein einzunehmen. Wir lebten in guten Beziehungen. Er pflegte jeden Abend nach meinem Abendessen in mein Zimmer zu kommen, etwas bei mir zu sitzen und mich zu bitten, ihm einige englische Sätze zu erklären, was sich stets mit großer Bereitwilligkeit tat. Ich las Chinesisch allein. Er sah manchmal, wie ich eines ihrer unbequemen Wörterbücher umschlug und mich hart um das abarbeitete, was er mir in einem Augenblicke hätte erklären können. Ich konnte sehen, daß er unsere gegenseitgen Beziehungen vollständig verstand, meine Zurückhaltung und Entfremdung – aber wir konnte ich mich der Demütigung einer abschlägigen oder ungehörigen Antowert aussetzen? Er hätte mich fragen sollen, ob ich meine Studien mit ihm wieder fortsetzen wollte. Das kleinste Zugeständnis von seiner Seite würde mich auf guten Fuß mit ihm gebracht haben. Ich hatte eine kleine chinesische Novelle einem Chinesen in Giansu geborgt, der sie zurückzugeben vergaß, und obgleich mein Munshi ihm schrieb und wir wußten, daß die Briefe ihn erreichten, so unhöflich war, sie zu behalten und nicht einmal die Briefe zu beantworten. Dies war sehr unangenehm für mich, da es ein Buch war, das man mir empfohlen hatte. Ich brachte es mit, um es in Lhasa zu lesen, es würde mich amüsiert und und in der chinesischen Sprache gefödert haben. So hatte ich kein anderes bekanntes Werk mit, als was ich früher schon über und über gelesen hatte.
Wir gingen am nächsten Morgen und machten den beiden ersten Thalungs, d.h. den hauptsächlisten der vier tibetanischen Magistrate in Lhasa unsere Aufwartung in ihren Zelten. Wir setzten uns auf Kissen und tranken Suchi [Tee]. Sie fragten mich, ob unsere Wohnung bequem sei. Dies war eine gute Gelegenheit, ihnen anzudeuten, daß sie kalt sei und ich eine andere zu mieten wünsche. Sie gaben eine höfliche Antwort in Worten, die weder sie noch mich zu etwas verpflichteten, und sagten, ich täte besser, mich zuerst etwas auszuruhen; sie würden mir eine andere besorgen und für sie bezahlen. Ich wünschte, mich über diesen Punkt deutlich auszusprechen, aber mein Chinese zögerte, meine Wünsche eingehender darzulegen, und schien jetzt von einer neuen Furcht befallen zu sein, die Wohnung ohne vorherige Befragung der Mandarine und Magistrate zu wechseln, obgleich ich nach des Thalungs Art und Weise sicher war, daß er nichts dagegen gehabt haben würde, wenn ich eine Wohnung gemietet hätte; er hielt sich eben nur für verpflichtet, ein mattes Anerbieetn zu machen, daß alles auf öffentliche Kosten für mich beschafft werden solle, was ich brauchte.
Ich fragte den Thalung, wann es schicklich für mich sein würde, den Groß-Lama zu begrüßen. Er sagte, ich würde besser tun, mich zuerst ein paar Tage auszuruhen und zu erholen. Dies war mir sehr angenehm. Ich war angegriffen und schmutzig. Mein Gesicht und meine Stirn, die während der achttägigen Reise von Giansu hierher der glühenden Sonne ausgesetzt gewesen waren, waren feurig rot, besonders auf der rechten Seite, so daß es mich sehr entstellte. Außerdem brauchte ich etwas Zeit, um meine Geschenke vorzubereiten und etwas aufzuputzen. Wir benutzten einen Teil der Zwischenzeit zu Besuchen bei verschiedenen Mandarinen und Magistraten.
Drei oder vier Meilen vor der Stadt waren Truppen stationiert und drei Militärmandarine. Der höchste fragte mich, ob ich je in Canton gewesen sei: Ich wendete mich an meinen Munshi, was ich sagen solle. Er antwortete für mich: Nein, ich wäre nie dort gewesen. Ich neigte dazu, von Anfang an die Wahrheit zu sagen und zu erklären, daß ich Engländer sei, denn ich hatte mich keines Verbrechens schuldig gemacht, aber Munshi riet mir dringend davon ab. Vielleicht hatte er Recht. Der zweite dieser Militärmandarine hatte denselben Rang wie der General in Giansu und war ein Verwandter von ihm. Er war sehr höflich und liebenswürdig, lud mich ein, mich zu setzen, und befahl, daß mir Tee gebracht würde. Mein Munshi war wütend, daß ich aufgefordert wurde, mich zu setzen, und er nicht. Der Mandarin war geneigt, sich zu unterhalten und Fragen zu stellen. Munshi gab aber solche bissigen, einsilbigen Antworten, daß ich wirklich besorgt wurde. Ich hätte nicht geglaubt, daß sein schlechtes Gemüt so vollständig mit ihm durchgehen könne. Falls er allein dorthin gegangen wäre, würde er sich nicht gesetzt haben. Ich war ein Fremder, schien einen ehrenwerten Charakter zu haben, war älter als er, und mein Bart berechtigte mich zu einem gewissen Respekt. Ich kann nicht sehen, daß er irgendeinen vernünftigen Grund hatte, beleidigt und unzufrieden zu sein. Ich nehme nur an, daß sein plötzlicher Anfall von Sauertöpfigkeit und schlechter Laune durch den Umstand, den ich erwähne, hervorgerufen war, denn er begann, als ich mich setzte. Ich nahm keine Notiz davon ihm gegenüber, weder damals noch später, und er auch nicht. Er kam auf unserem Nachhauseritt darüber hinweg.
Am 17. Dezember 1811 in der Frühe bestieg ich den Berg, wie sie sich ausdrücken, um den Groß-Lama zu begrüßen und ihm meine Gaben darzubringen. Ich hatte nur wenig, was ich ihm geben konnte, nicht viel mehr als ein Drittel des feinen Tuchs, das ich für ihn bestimmt gehabt und das ich mit der größten Mühe dadurch, daß ich es heimlich in meines Munshi Kiste gepackt, aus den Händen der habgierigen Bhutaner hatte retten können. Zwei Paar Porzellankrüge, die mit (künstlichen) Blumen auszuschmücken ich die Absicht gehabt hatte, waren unglücklicherweise in Giansu zurückgelassen worden. Ich hatte ein Paar guter messingner Leuchter, die ich gereinigt und aufpoliert hatte, und in sie steckte ich zwei Wachslichte, damit es nach mehr aussehen solle. Um die Wahrheit zu sagen, gehörten die Leuchter der Ostindischen Gesellschaft. Sie waren mir zum Gebrauch in Canton geliehen worden, und als ich den Platz verließ, hatte ich sie ehrlich zurückgelassen, damit sie wieder ins Vorratshaus kämen. Aber nachher benutzte mein aller, treuer Diener die Gelegenheit, als ein Paket an mich von Canton nach Calcutta geschickt wurde, und packte sie mit anderen Dingen, von denen er glaubte, daß sie mir nützlich sein könnten, in eine Kiste, und ich, da ich fand, daß man sie mir so aufgedrängt hatte, nahm sie ohne Skrupel mit nach Lhasa und bin überzeugt, daß nach dieser Anerkenntnis die Ehrenwerte Gesellschaft mich nicht allein von betrügerischen Absichten freisprechen, sondern sogar erfreut von dem sein wird, was mit ihren Leuchtern geschehen ist, und mit dem vortrefflichen und ehrenvollen Gebrauch, den ich von ihnen gemacht habe. Ich hatte die Absicht gehabt, dem Lama eine Summe Silber in tibetanischen Münzen zu überreichen, aber mir wurde gesagt, daß der kleine Betrag, den ich ihm anbieten könne, wenn er nicht in fremden Münzen wäre, keinen guten Eindruck machen würde. Glücklicherweise hatte ich 30 neue blanke Silberdollars mit, ebenso wir 30 Stücke Zink, die ich mitgenommen hatte, um galvanische Experimente zu machen. Als ich diese Dollars in Giansu zeigte, waren die Chinesen begierig, sie als Schmuckstücke für ihre Gürtel zu kaufen, und ich fand, daß einige von ihnen als ein anständiges Geschenk für den Groß-Lama angesehen werden würden. Ich bestimmte also 20 für diesen Zweck und 6 für den Ti-mu-fu oder Hu-lu-tu, welcher Name dem obersten Magistrat oder König von Tibet gegeben wird, wie er manchmal genannt wird. Dieser Ti-mu-fu ist ein Lama; sein Rang ist höher als der der Tajins oder höchsten chinesischen Mandarine, obgleich diese letzteren sich alle Mühe geben, in seine Rechte einzugreifen und seiner Würde zu nahe zu treten, und ihn tatsächlich als ihresgleichen behandeln. Außerdem hatte ich etwas von dem echten Schmith’schen Lavendelwasser und füllte damit zwei große hübsche Flaschen für den Groß-Lama und eine für die Ti-mu-fu. Ich hatte auch einen großen Vorrat von Nanking-Tee, der in Lhasa eine Seltenheit und Delikatesse ist und dort nicht gekauft werden kann.
Wir ritten bis an den Fuß des Berges, auf dem der Palst gebaut ist oder aus dem er gewissermaßen herauszuwachsen scheint. Aber als wir nach einigen wenigen Schritten zu einer Art Plattform gekommen waren, mußten wir absteigen. Von hier bis zu dem Platze, wo der Groß-Lama empfängt, ist ein langer und mühsamer Weg. Er besteht aus ungefähr 400 Stufen, die teils in den Felsen gehauen, teils Leiterstufen von Etage zu Etage im Palast sind. Außerdem befinden sich am Berge von Zeit zu Zeit, wo die Steigung gering ist, Strecken eingeflochten, wo der Pfad für ein paar Schritte ohne Stufen ist.
Endlich erreichten wir das große flache Dach, auf dem das Haus oder richtiger die Empfangshalle errichtet ist. Dort ruhten wir etwas aus, arrangierten unsere Geschenke und konferierten mit des Lama chinesischem Dolmetscher. Dieser Dolmetscher war kein absolut Fremder für uns, da er uns in unserer Wohnung besucht hatte. Er war ein Chinese von des Vaters und ein Tibetaner von der Mutter Seite und war viele Jahre in Peking gewesen sowie in der chinesischen Tatarei. Er sprach viele Sprachen, aber da er nie eine lesen oder schreiben gelernt hatte, war er ganz ungebildet. Er war ein eigentümlicher melancholischer Mensch, ernst in seinem Wesen und außerordentlich sparsam mit seinen Worten; nur wenn er etwas erzählte oder eine fortlaufende Rede hielt, war er ebenso redselig. Ob es Geiz oder Armut war, weiß ich nicht, aber obgleich er eine gute Stelle hatte, schien er in schlechter Lage zu sein. Die Leute sagten, daß er sein Geld an Weiber wegwürfe, denn obgleich der den Titel eines Lama hat und das Kleid eines solchen trug, war er nicht zur Ehelosigkeit verpflichtet. Er hatte ein Weib und einen Sohn.
Der Ti-mu-fu war in der Halle mit dem Groß-Lama. Ich wurde davon erst benachrichtigt, als ich eintrat, was mich etwas in Verwirrung brachte. Ich wußte nicht, wie viel Zeremonien ich vor dem einen machen mußte, ehe ich mit dem anderen begann. Ich machte die vorgeschriebene Verehrung vor dem Groß-Lama, indem ich den Boden dreimal mit dem Kopf berührte, und tat dies einmal vor dem Ti-mu-fu. Ich übergab meine Geschenke, indem ich die Münzen auf einer hübschen seidenen Schärpe mit meinen eigenen Händen in die Hände des Groß-Lama und des Ti-mu-fu legte. Während ich kniete, bekamen es die ungeschickten Diener fertig, die für den Ti-mu-fu bestimmte Flasche mit Lavendelwasser fallen zu lassen und zu zerbrechen. Ich tat natürlich, als ob ich es nicht bemerkte, obgleich der wohlriechende Strom sich dicht bei mir ergoß und ich nicht umhin konnte, ihn zu sehen, während ich meinen Kopf neigte. Nachdem ich meine Schärpe dem Groß-Lama übergeben hatte, nahm ich meinen Hut ab und hielt demütig meinen kahlgeschorenen Kopf hin, damit er seine Hände darauf lege.
Nachdem die Vorstellung vorüber war, setzten Munshi und ich uns auf Kissen nicht fern von des Lama Thron, und uns wurde Sushi gebracht. Er war ausgezeichnet, und ich hatte die Absicht, dem ersten Schluck andere folgen zu lassen und die Tasse zu leeren, aber sie wurde mir auf einmal weggenommen, ehe ich es noch bemerkt hatte. Des Lama schönes und interessantes Gesicht und Betragen nehmen beinahe meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Es war damals ungefähr 7 Jahre alt und hatte die einfachen und unaffektierten Manieren eines wohlerzogenen fürstlichen Kindes. Sein Gesicht war, wie mir vorkam, poetisch und rührend schön. Er war heiter und munter veranlagt, sein schöner Mund ließ sich fortwährend in anmutigem Lächeln gehen, das sein ganzes Gesicht erleuchtete. Manchmal, besonders wenn er mich ansah, wurde sein Lächeln beinahe ein leichtes Lachen. Mein grimmiger Bart und meine Brille erregten unzweifelhaft sein Lachlust, obgleich ich ihn später, bei den Neujahrsfestlichkeiten, habe lächeln und sich ungeniert gehen lassen sehen, während ich selbst unbeobachtet in einer Ecke saß und aufpaßte, wie er die verschiedenen Personen empfing, und die seltsame Verschiedenheit der ihn umgebenden Gegenstände beobachtete.
Wir hatten noch nicht lange so gesessen, als er Fragen an mich richtete, die zu empfangen und zu beantworten wir aufstanden. Er sprach in der tibetanischen Sprache zu dem chinesischen Dolmetscher, der chinesische Dolmetscher zu meinen Munshi, mein Munshi darauf zu mir auf Lateinisch, das dann auf demselben Weg zurückübermittelt wurde. Ich war lange gewohnt gewesen, mit meinem Munshi Lateinisch zu sprechen, und es gab kein Gefühl oder keine Spur eines Gefühls, das wir nicht austauschen konnten. So kam es, daß, obgleich der Weg sehr umständlich war, der Verkehr doch schnell ging und Fragen und Antworten mit einer Genauigkeit übermittelt wurden, wie sie, wie ich glaube, in Asien selten vorkommt, wenn man Dolmetscher verwendet.
Der Lama stellte die gewöhnlichen Höflichkeitsfragen. Er erkundigte sich, ob mir auf dem Wege keine Belästigungn und Schwierigkeiten aufgestoßen seien, worauf ich schnell die passende Antwort gab. Ich sagte, daß ich Schwierigkeiten gehabt hätte, daß sie aber jetzt, da ich das Glück hatte, in seiner Gegenwart zu sein, reichlich aufgewogen wären und ich nicht mehr an sie dächte. Ich konnte sehen, daß die Antwort gefiel, sowohl dem Lama wie den Leuten seines Haushalts. So sahen sie, daß ich nicht ein bloßer Bauer war, sondern einige Höflichkeit besaß. Ein kleines Geschenk von getrockneten Früchten wurde gebracht und vor uns niedergesetzt; sie winkten meinem Diener, es mitzunehmen, und wir zogen uns zurück. Beim Weggehen ist es nicht Brauch, irgenwelche Zeremonien zu beobachten, außer, daß man dem Fürsten nicht den Rücken zukehrt, ehe man zwei oder drei Schritte von ihm entfernt ist – und selbst das ist, wie ich glaube, nicht notwendig.
Als wir aus der Halle auf den Hof kamen, lud uns der Dolmetscher ein, uns einen Augenblick unter der Galerie niederzulassen, während er zurückging, um mit dem Lama zu sprechen. Er kam bald wieder und fragte mich, ob ich dem Lama etwas besonderes zu sagen hätte. Ich antwortete, ich hätte ein Gesuch zu machen. Ich bäte den Groß-Lama, mir Bücher über seine Religion und die alte Geschichte zu geben und einem seiner gelehrten Lamas, der Chinesisch verstünde, zu erlauben, mir zu helfen und mich zu unterweisen. Ob mein Munshi die Sache nicht ernst genug genommen oder ob es die Schuld des Dolmetschers war oder ob der Lama und seine Leute diesen Wunsch nicht erfüllen wollten, weiß ich nicht. Aber der Lama schenkte mir später, was er als den wichtigsten Teil ihrer Gebete und Betrachtungen bezeichnete. Andere Bücher konnte ich nicht bekommen, noch jemanden, um sie mir zu erklären und mich zu unterrichten. Augenblicklich habe er keine Abschrift von den Büchern, die er mir zu geben wünschte; er würde aber eine herstellen und mir später zugehen lassen.
Ich war äußerst gerührt durch die Zusammenkunft mit dem Lama, und ich hätte weinen können wegen der Eigentümlichkeit des Gefühls. Ich war ganz aufgegangen in Nachdenken, als ich nach Hause kam. Ich schrieb das folgende memorandum in mien großes Buch: „1. Dezember, 17. Tag des 10. Monats. Heute begrüßte ich den Groß-Lama. Wunderschöner Jüngling. Gesicht poetisch rührend; hätte weinen können. Sehr glücklich, ihn und sein gesegnetes Lächeln gesehen zu haben. Hoffe ihn oft wieder zu sehen.“
Markham, Clements R. (Hg.)
Aus dem Lande der lebenden Buddhas. Die Erzählungen von der Mission George Bogle’s nach Tibet und Thomas Mannings‘ Reise nach Lhasa (1774 und 1812)
Hamburg 1909