Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1896 - Caecilie Seler-Sachs
Tonala

Tonalá ist Distriktshauptstadt, einziger Hafenplatz des großen Staates Chiapas - das heißt, es liegt ebenso wie alle Plätze dieses Küstenstriches einige Meilen vom Meer entfernt und besitzt überhaupt keinen Hafen, sondern nur eine Reede. Es ist Durchgangsstation für viele Maultierkarawanen, hat eine nette, mit Gartenanlagen versehene Plaza, um die ein paar hübsche, saubere Häuser stehen, aber kein Wirtshaus.  In einem geräumigen, aber schmutzigen und schlecht gehaltenen Hause, dessen Besitzverhältnisse nicht ganz klar waren, kamen wir unter. Bald spielte sich ein Schneider als Eigentümer auf, bald Doña Carmen. Zwar bot uns Don Samuel Ordoñez, an den wir empfohlen waren, in seinem hübschen Haus am Platz Wohnung an, aber dann hätten wir uns von den Pferden trennen müssen, und so brav sich Cornelio und Turibio bisher gezeigt hatten, die alleinige Sorge für die Tiere konnten wir ihnen leider nicht überlassen. So blieb keine Wahl: Wir zahlten dem Schneider ziemlich hohe Miete für ein großes Zimmer mit zwei Feldbetten und der Doña Carmen einen ebenfalls ansehnlichen Preis für Verpflegung, die allerdings - die Gerechtigkeit muß ich ihr angedeihen lassen - vorzüglich war. Im Gegensatz zum Hochland, von dem wir kamen, war alles teuer, und man bereitete uns darauf vor, daß wir es nirgends in Chiapas anders finden würden, ja daß es weiterhin an der Küste, nach Tapachula zu und darüber hinaus, noch bei weitem teurer sei. Es schien, als ob die hohen Preise von Guatemala ihre Wirkung bis hierher verspüren ließen. Diese aber waren entstanden durch das Emporschnellen der Kaffeepreise, das die Plantagenbesitzer zu vermehrten Ausgaben und ziemlichem Luxus veranlaßte, und die zur gleichen Zeit sich stetig verschlechternden Silberverhältnisse, wodurch der Wert aller eingeführten Waren ganz unnatürlich gesteigert wurde. Der Staat Chiapas aber hat lebhafte Fühlung mit Guatemala; kein Wunder, da er lange genug mit Guatemala politisch verbunden war und erst in den Kämpfen am Anfange dieses Jahrhunderts sich mit Mexiko vereinigte, eingedenk des spanischen Sprichwortes: "Mejor cola de león, que cabeza de ratón." (Besser Löwenschwanz  als Mausekopf.)
   In den Gartenanlagen des Platzes lag ein großer skulptierter Stein. Da seine beiden Seiten bearbeitet waren, wurde er von ein paar Soldaten umgedreht, wobei zum Entzücken der versammelten Straßenjugend eine ganze Schar von Kröten aus ihrer beschaulichen Ruhe aufgestört wurde.
   Aber unser Sinn stand nach dem alten Orte, und der liegt auf einem die heutige Stadt im Norden überragenden Bergrücken. Der alte Mann, der uns hinaufführte, glaubte uns einen ganz besonderen Gefallen zu erweisen, indem er behauptete, wir könnten hinaufreiten. So bestiegen wir denn die Tiere und hatten das Vergnügen, sie fast den ganzen Berg hinan führen zu müssen, da wir uns ziemlich steil durch eng verwachsenes Buschwerk einen Weg suchen mußten. Zuletzt ging es ein langes Stück auf dem Plateau entlang mit einem herrlichen Blick über die Lagune hinweg auf den Ozean; draußen auf der Reede lag der Dampfer, dessen Ankunft von Tehuantepec am vergangenen Tag erwartet worden war. Der ganze Berg ist Weidegrund, von vielen Pferde-, Rinder- und Schafherden belebt.  Zwischen dem hohen, jetzt gelben Grase blühte es so reich und bunt, daß es eine Lust war; überall führten die Bergbäche reichlich Wasser und waren üppig von Bambusdickichten, von Baum- und Strauchwerk umgrünt. Ein leichter Wind mäßigte die Hitze und machte den Mangel an Schatten weniger fühlbar.
   Die Ruinen sind ausgedehnt und die nicht allzu hohen, aber breiten Stufenpyramiden zum Teil wohlerhalten. Weithin über das Plateau und über die Abhänge zerstreut finden sich Fundamente. Es läßt sich vermuten, daß hier einst eine volkreiche Ansiedlung lag. Die günstigen Wasserverhältnisse, die gegen Angriffe leicht zu verteidigende Lage, der frische Hauch, all das machte den Platz wohl geeignet zu einer Stadtanlage, die sicher weder vom Fieber noch von Insekten so zu leiden hatte wie das heutige Tonalá, das als ziemlich ungesund gilt. Ein weiter Platz am Rande des Plateaus ist von größeren und kleineren Pyramiden und Bastionen umgeben. Ein wenig seitwärts liegt ein einzelner, hoher, gut erhaltener Stufenbau, an seinem Fuß ein mächtiger runder Stein, der an vier Seiten ausgehauene Tierköpfe trägt. Dies war das einzige Stück, das figürlichen Schmuck zeigte, und auch von Scherben war nichts zu sehen. Weiter unten soll es in der Nähe eines Ranchos noch einen gemeißelten Stein geben, doch bekamen wir ihn nicht zu Gesicht, da wir den dorthin führenden Weg verfehlten und nur mühsam durch dichtes Gebüsch den Abstieg fanden. Bemerkenswert war eine breite, gepflasterte Straße, die von der Höhe eines Hügels in das tiefe, Wasser führende Bett eines grünumbuschten Baches hinabführt.
   Trotz des unbequemen Rückweges kehrten wir befriedigt heim mit neuen Eindrücken, wohlgefülltem Herbar und etlichen photographischen Aufnahmen.

Seler-Sachs, Caecilie
Auf alten Wegen in Mexiko und Guatemala: Reiseerinnerungen aus den Jahren 1985 bis 1897
Wien 1992

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