1884 - Ernst von Hesse-Wartegg
Die schwimmenden Gärten von Chalco und Xochimilco
Die schwimmenden Gärten von Xochimilco! Wie bei der Erwähnung der schwebenden Gärten der Semiramis eilen unsere Gedanken zurück zu längst vergangenen Zeiten, zu längst vergangenen Reichen. Unsere Phantasie malt sich herrliche Bilder, orientalische Traumszenen aus, voll Sonnenglut und Farbenpracht, belebt von reizenden fremdartigen Gestalten, die uns so fern, so sagenhaft, so unfaßbar erscheinen wie die Bewohner anderer Welten.
Aber möge auch in Babylon von der Pracht der Gemahlin Menons nicht die geringste Spur mehr vorhanden sein, die schwimmenden Gärten der alten Azteken bestehen heute noch. Ihre Existenz wird in vielen Büchern über Mexiko in mir ganz unerklärlicher Weise als zweifelhaft dargestellt, ja sogar zu den Zeiten der Herrschaft Montezumas als ein Mythus erklärt. Es, gibt keine schwimmenden Gärten! so las ich erst jüngst in einem Reisebuche über das Aztekenreich, und doch fuhr ich selbst auf kleinem Nachen zwischen ihnen umher und wurde auf einer dieser idyllischen Roseninseln von den Bewohnern derselben gastlich bewirtet! Gewiß, die Chinampas sind heute noch in ungezählten Exemplaren vorhanden, einer der geringen Überreste altaztekischer Kultur, welche der spanischen Zerstörungswut widerstanden haben - eines der wenigen Glieder, das uns mit dem herrlichen Reiche Montezumas und Guatemotzins in direkte Verbindung setzt.
Verschwunden sind die Chinampas allerdings aus der unmittelbaren Nähe Mexikos, denn die Seen, deren Fluten zur Zeit Montezumas die Mauern der Stadt bespülten und durch die Straßen dieses okzidentalen Venedigs wogten, sind heute nicht mehr da. Sie haben sich aus der Nähe Mexikos zurückgezogen und den Boden auf Meilen in der Runde trockengelegt. Die Chinampas, welche damals hier die Stadt wie mit einem Kranz von Rosengärten umgaben, senkten sich auf den trockengelegten Boden und bilden heute einen Bestandteil der Terra Firma. Das mag die Ursache sein, warum so viele Bücherschreiber heute von den Chinampas als von einem Plusquamperfektum sprechen. Sie haben sich eben nicht die Mühe gemacht, ihre Nase in dem großen erloschenen Krater des gigantischen Vulkans, auf welchem Mexiko steht, etwas weiter herumzuführen und die Reste des großen Sees zu durchstöbern, der einst das ganze Kraterbett bedeckte.
Reste des Sees nenne ich sie, und doch sind sie immer noch selbst große Seen, die sich in einem weiten Halbkreis östlich um die Hauptstadt hinziehen, zwischen der letzteren und ihren Ufern traurigen Wüstenboden von 6 bis 10 Kilometer Breite zurücklassend. Der größte unter ihnen ist der Texcoco, aber es sind hauptsächlich seine beiden südlichen Nachbarn, der Chalco und der Xochimilco, welche auf ihrer mehrere hundert Quadratkilometer großen Wasserfläche die Chinampas, die schwimmenden Rosengärten, tragen. Auf wenige Dinge war ich bei meinem Besuche Mexikos mehr gespannt als auf diese merkwürdigen, in ihrer Art wohl einzigen schwimmenden Inseln. Schon am Tage meiner Ankunft in der Hauptstadt erkundigte ich mich bei «Tom, Dick und Harry» nach den Chinampas.
«Chinampas!? No hay», (Es gibt keine) war die gewöhnliche Antwort; oder man riet mir, einen Ausflug auf dem Kanal de la Voiga nach Santa Anita zu machen. Dort würde ich sie finden, aber sie schwammen nicht mehr auf dem Wasser, sondern seien so gut wie irgendein anderer Garten. «Geben Sie sich doch keine Mühe, Señor!»
Vielleicht gibt es aber doch welche, dachte ich mir und fuhr hinaus zum Paseo de la Viga. Im Hafen des Kanals schaukelten sich im Schatten überhängender Riesenbäume zahlreiche Fahrzeuge, venetianische Gondeln, gewöhnliche Ruderboote und große Frachtschiffe. Die aztekischen Gondolieri, echte rotbraune Indianer, schliefen auf den Sitzbänken. Es war Mittag, der große Blumen- und Gemüsemarkt war vorüber, und nur ein Fremder konnte in der heißen Sommerglut um diese Zeit dahinaus wandern. Zu irgendeiner anderen Zeit wäre ich von den Gondolieri wohl ebenso überfallen und herumgezerrt worden wie auf der Piazetta vor dem Bacino di San Marco. So aber lag alles in tiefem Frieden, und nur ein alter, runzeliger Indianer saß, halb träumend und ein Papiros rauchend, an einen Baumstamm gelehnt auf dem Boden. «Jawohl, Señor», meinte er auf meine Frage, «Sie können Chinampas sehen, aber nicht hier, sondern in der Laguna. Dazu brauchen Sie aber zwei oder drei Tage Zeit. Wenn Ew.Gnaden wünschen, will ich Sie dahin führen.» Bald waren wir handelseinig, und am nächsten Morgen, in aller Frühe, stand ich reisefertig auf dem Hafenquai. Aber wie anders war das Bild desselben heute! So fremdartig, so einzig, so unerwartet im Herzen einer spanischen Stadt, daß man sich sofort zurückversetzt fühlte in die Zeit Montezumas. In langen mehrfachen Reihen drängten sich die eigentümlichen Canoes und Frachtfahrzeuge längs des Hafenquais, alle beladen mit den duftigsten, süßesten aller Frachten, mit Blumen! Blumen aller Arten zu kleinen Bergen aufgehäuft, zu kleinen und großen Sträußen gebunden, zu Girlanden gewunden, Blumen auf den Sombreros der indianischen Boteros, Rosenkränze auf den Köpfen der dunkeläugigen, mitunter recht hübschen Muchachas, Rosen, in langen Strängen von den Schultern der zahlreichen halbnackten Kinder herabfallend! Welche Fülle von Blumen bei den niedrigsten Klassen einer so gesunkenen Menschenrasse, bei den verkommenen Nachkommen der alten Azteken. Zwischen diesen Bergen von Blumen lagen Gartenfrüchte und Obst aller Art, Gemüse unserer Heimat, wie fremdartige Genüsse auf den Booten aufgespeichert, alles der Ertrag der sagenhaften Chinampas! Hier wurden diese Ladungen von den Marktweibern in Empfang genommen, um auf den städtischen Märkten verkauft zu werden.
Während ich in Betrachtung dieses seltsam belebten Bildes versunken dastand, nahte sich der alte Indianer von gestern und führte mich durch das Gedränge indianischer Marktweiber, zumeist originelle Gestalten in recht spärlicher Kleidung, zu unserer Gondel. Wir sollten den etwa 10 Kilometer langen Vigakanal entlang nach dem Xochimilcosee fahren und diesen bis zum anderen Ende kreuzen. Bald glitt das Fahrzeug zwischen den zahlreichen, uns von dort entgegenkommenden Frachtbooten hindurch den Kanal aufwärts. Wäre es nicht das eigentümliche, echt lokal gefärbte, in ähnlicher Art anderswo kaum zu findende Leben am frühen Morgen, ich wüßte nicht, warum dieser schon in den Zeiten Montezurnas vorhandene Vigakanal so berühmt geworden wäre. In allen Reisebüchern wird er als besondere Sehenswürdigkeit Mexikos dargestellt, und zahllos sind die Fremden, die enttäuscht von dem Ausfluge zurückkehren, vorausgesetzt, daß sie ihn nicht am frühen Morgen oder an einem Nachmittage während der Fastenzeit besucht haben. In seiner Anlage erinnerte er mich lebhaft an die Brüsseler Allee Verte oder noch mehr an den sonnigen Brentakanal zwischen Venedig und Padua. Derselbe seichte, schmutzige Kanal mit steilen, dicht überwucherten Ufern; dieselben doppelten Reihen großer alter Schattenbäume neben ihm, mit einer breiten, schnurgeraden Fahrstraße, und dieselbe Einsamkeit, derselbe Verfall. Gerade wie die Allee Verte, so war auch dieser Paseo de la Viga in früheren Jahren die große Promenade der eleganten Welt der Hauptstadt. Aber seit Kaiser Maximilian auf der entgegengesetzten Seite Mexikos den herrlichen Paseo de la Reforma geschaffen, hat sich die elegante Welt, wie Mücken immer dem Licht des Hofes zufliegend, dorthin gezogen, und la Viga ist vereinsamt. Nur in der Osterwoche zeigt er noch an den Nachmittagen das großartige Leben von ehemals: Hunderte eleganter Equipagen mit reizenden, juwelenbedeckten Insassen, den berühmten Kreolinnen; schöne Pferde in silberbeschlagenem Geschirr ziehen die süßen Lasten, und ihr Lenker prangt vielleicht noch in dem mexikanischen Nationalkostüm, mit dem breiten Sombrero auf dem Kopfe. Alles strahlt von Glück und Reichtum, von Fröhlichkeit und Eleganz, und ein Fremder, der Mexiko an einem dieser Ostertage besucht, würde sich das Leben in der Aztekenstadt sehr rosig vorstellen können, wären nicht die zahlreichen elenden Leperos vorhanden, entsetzliche Bettlergestalten, die zu beiden Seiten der Avenue des Glanzes eine Kette des Elends bilden und von den Reichen Almosen erflehen! Zu anderen Zeiten ist der Paseo de la Viga zumeist wie ausgestorben, und nur in den Morgenstunden tummeln zuweilen einige Mexikaner, diese geborenen Reiter, diese Centauren der Neuen Welt, ihre schönen Rosse.
Der Paseo begleitet den Kanal auf etwa 2 Kilometer in die Ebene hinaus. Auf der Hälfte des Weges sah ich vom Kanal aus zwischen den Bäumen hindurch die Umrisse eines Denkmals, und als ich meinen Botero anhalten ließ, um mir dasselbe näher zu besehen, fand ich eine recht armselige Büste des letzten Aztekerikaisers Guatemotzin, der im Alter von 23 Jahren den Thron Montezumas nur bestieg, um seine Hauptstadt und mit ihr sein Reich von den spanischen Mordbrennern zerstören zu sehen. Sein Zepter brach nach wenigen Wochen seiner Herrschaft, und er selbst wurde von Cortez wie ein Verbrecher an einen Baum geknüpft! Und nun haben ihm die Nachkommen desselben Cortez ein Monument errichtet! Der Sockel trägt eine Inschrift in aztekischer Sprache, die hier Platz finden möge, um den Charakter der letzteren zu zeigen:
«Sa igniti o Tlato catix Aztecalte Cuautemotzin, Chicagtlapiani Tlalanakuae Yol Tlapaltic.
Jpam in Maltiloni-Tlanahuatil Altepepixque in 1869.»
Da es gewiß einige Leser geben dürfte, welche mit der aztekischen Sprache nicht ganz vertraut sind, so will ich die Übersetzung beifügen.
«Dem letzten Monarchen der Azteken, Guatemotzin, heroisch in der Verteidigung seines Vaterlandes, erhaben in seinem Märtyrertum, errichtet von der konstitutionellen Munizipalität von 1869.»
Obschon dreiundeinhalb Jahrhunderte seit der Vernichtung des Aztekenreiches vergangen sind, haben sich die einstigen Untertanen Guatemotzins doch nur wenig verändert. Fast in der unmittelbaren Umgebung der Hauptstadt findet man noch reine Aztekendörfer, und gerade der Distrikt der Seen, wohin ich eben zu reisen im Begriff war, ist ganz aztekisch geblieben. Auch mein indianischer Bootsmann sprach wohl mit den Ciudadanos (Stadtbewohner) und den Fremden spanisch, aber mit seinesgleichen nur aztekisch. - Immer noch kamen uns fruchtbeladene Boote entgegen, elende, alte, zerbrechliche Fahrzeuge, welche durch aufrecht stehende Indianer mit langen, in dem Grundschlamm häufig steckenbleibenden Stangen vorwärts gestoßen wurden. Hinter den Fruchtbergen in der Mitte der Boote befand sich auf den meisten derselben die ganze Familie der Boteros; auf manchen wurde während der Fahrt das Desayuno (Frühstück) zubereitet. Auf dem Grund des Bootes war dazu ein kleines viereckiges Gerüst aus Holzstücken aufgestellt; feuchte Erde lag darüber ausgebreitet, und auf dieser glimmte das Holzkohlenfeuer, die irdenen Kochtöpfe tragend. Die Frauen machten sich um diese zu schaffen, während die nackten Kinder sich so gut, als es der enge Raum gestattete, zwischen den Blumen- und Gemüsehaufen herumtummelten oder, auf der hinteren Sitzbank ruhend, einander die kleinsten, aber gefräßigsten aller Raubtiere, welche auf den Menschen Jagd machen, aus den Haarwäldern hervorsuchten.
Zwischen den Booten sah ich wohl schon hie und da kleine schwimmende Inselchen den Kanal hinabtreiben - ein Labyrinth von Wurzeln, mit dem üppigsten Graswuchs oder niedrigen großblättrigen Sträuchern bedeckt, Stücke, die sich in den Seen draußen von größeren Inseln losgerissen haben mochten und nun mit dem Strom den Kanal abwärts, dem Texcocosee zutrieben. An manchen Stellen waren Flachboote festgeankert, deren Insassen die vorbeischwimmenden Massen aus dem Wasser fischten und andere, die, an den Ufern hängenbleibend, schon feste Wurzeln gefaßt hatten, mit scharfschneidigen großen Schaufeln herausstachen. Geschieht dies nicht unausgesetzt, so wird der Kanal binnen weniger Wochen ganz von ihnen bedeckt und hört auf, fahrbar zu sein.
Nach etwa dreistündiger langsamer Bootsfahrt gegen die diesmal sehr starke Strömung hatten wir Santa Anita erreicht, ein elendes Aztekendörfchen am östlichen Ufer des Kanals, das St. Cloud von Mexiko, der beliebteste Sonntagsausflug der niederen Volksklassen. Inmitten von Obstgärten und kleinen Palmengruppen stehen die elenden Bambushütten, die Lehmhäuser und Flugdächer der armen Bevölkerung, aber was macht es? Wenn nur die Sonne warm durch die Luken scheint, wenn es Obst und Blumen genug gibt, was verlangt der Indio mehr?
Hier in Santa Anita, diesem trotz allem Elend, aller Armut im warmen Sonnenlicht lachenden Dörfchen, zogen wir unser Canoe ans Ufer, und während mein Botero ein Schläfchen hielt, ging ich den schäkernden, singenden Indianern nach, die vor uns hier gelandet waren. Es war eine fröhliche Gruppe, vielleicht gar ein Hochzeitszug? Schon während der Kanalfahrt schollen von dem uns vorfahrenden Boote die Klänge der Jaranita (der mexikanischen Gitarre) und Frauengesang herüber, und als ich aufmerksamer lauschte, hörte ich deutlich die reizende Melodie der Paloma, dieses echt mexikanischen Volksliedes. Wie oft hatte ich sie in der Alten und Neuen Welt vernommen, vom Munde der größten Sängerinnen zuweilen, aber niemals gingen mir ihre melancholischen Weisen so zu Herzen wie hier, als ich sie in ihrem Heimatlande aus dem jungen, frischen Munde eines Aztekenmädchens hörte; jene Paloma, die hier auf diesem Boden ihre Wiege gehabt: «EI dia que nos casemos Valgamé Dios! ... Yo te dari la manita, con rnucho amor ... » Ja, gewiß, es war ein Hochzeitszug, denn sie waren alle mit Rosen bekränzt, selbst der Botero trug einen Kranz von Blumen auf seinem Sombrero, und auf der Bootsstange war oben ein Rosenstrauß befestigt! Kaum war die Paloma verklungen, so stimmte der wohl durch Pulque aufgeheiterte Spielmann auf seiner Jaranita den Fandango an, und sofort tanzten alle nach der packenden Melodie, soweit es eben der enge Raum des Bootes gestattete. Selbst der Bootsmann setzte seine Stange nach dem Tonfall der Musik in den Grundschlamm des Kanals, und dadurch schien es, als ob das Boot selbst nach dem Takte über die Fluten tänzelte.
Mein Indio hatte sich nicht getäuscht. Santa Anita war das Ziel dieser fröhlichen Ausflügler - Santa Anita mit seinen Pulqueschänken und seinen Rosen. Jede einzelne der elenden Bambushütten in der engen Dorfstraße ist eine Pulqueria, mit kleinen Gärtchen, daneben, deren Bäume mit Rosengirlanden geschmückt sind. Lange, aus Schwertlilien- und Schilfblättern geflochtene Girlanden zogen sich rings um alle Häuser sowie von Baum zu Baum in allen Gärtchen, und in den Lücken dieser Girlanden steckten Rosen, Mohnblumen und hellrote Kaktusblüten einzeln oder zu Sträußen und Kränzen zusammengebunden, ein ungemein zierlicher Schmuck, der selbst diese elenden Wohnstätten anziehend machte. Auf den offenen Holzkohlenfeuern vor den Pulquerias schmorten allerhand aztekische Leckerbissen in den Bratpfannen, und als die Wirte den Gesang unseres Hochzeitszuges hörten, standen sie auch alle sofort vor den rosenumkränzten Türen. «Hier herein, patroncito! Aqui las Senoritas! Tamales calientitos! Hier ist der beste Pulque!»
In einer solchen Pulqueria - San Angel besteht eigentlich nur aus solchen - waren meine Indianer auch bald verschwunden, und ich trollte weiter durch das Dorf, an dem kleinen, buntbemalten Kirchlein vorbei, hinaus zu den Feldern. Aber an der Grenze des Dörfchens hören die Fußwege plötzlich auf, schmale Kanäle treten an ihre Stelle, in denen kleine Canoes, manche nur aus einem ausgehöhlten Baumstamm bestehend, schaukelten. «Treten Sie ein, patroncito», rief mir einer der Boteros zu, «kommen Sie die Chinampas ansehen? Nur für einen Real! Aqui, Sehor!» Aber das war zwecklos, denn die kaum mehr als anderthalb Meter breiten Kanäle mit stagnierendem Wasser sind tief ins Land eingeschnitten, und in dem Boote sitzend, hätte ich doch noch viel weniger zu sehen bekommen als von meinem Standpunkt auf der Tierra firma.
So weit man sehen kann, ist das Land hier in kleine Rechtecke von einem Viertel- oder Achtelmorgen Größe geteilt, alle von derlei engen Kanälen umschlossen und mit den üppigsten Blumen- und Gemüsegärten bedeckt, während sich in der unmittelbaren Umgebung des Ortes Obstgärten mit Orangen-, Mango- und Aguacatbäumen befinden. Tomaten, Blumenkohl, Bohnen und andere Gemüse gedeihen hier vortrefflich, aber sie sind lange nicht so wohlschmeckend wie die unserigen. Die Gärtner fahren zwischen diesen Feldern in Canoes umher und bewässern sie in der trockenen Jahreszeit, indem sie das Wasser aus den Kanälen mittels Holzschaufeln über sie hinwegspritzen. Diese Felder waren früher, zur Zeit der Aztekenherrschaft, als diese Gegend noch einen Teil des Texcocosees bildete, in der Tat Chinampas, jene schwimmenden Gärten, welche Cortez so sehr in Erstaunen gesetzt haben. Aber heute, nach dem Zurückziehen des Sees, sind sie Tierra firma und deshalb die Enttäuschung so vieler, welche Chinampas in Santa Anita suchen, statt bis an das Ende der Desagué, zu den Seen zu fahren.
In Santa Anita warben wir noch einen zweiten Ruderer an, denn ich fürchtete, mein guter alter Botero würde mit der Fahrt über den Xochimilcosee nicht fertig werden. Lägen nicht einzelne kleine Aztekendörfer längs des Kanals der Viga, ich hätte mich während der Weiterfahrt ebensogut auf dem alten, halbversumpften Kanal von Torcello befinden können, dieser herrlichen Insel in den Lagunen Venedigs, dieser einst großen volkreichen Stadt, die in Attila, der Geißel Gottes, ihren Hernando Cortez fand. Das einzige interessante Objekt auf der Weiterfahrt von Santa Anita nach dem See ist der merkwürdige, steil aus der Ebene oberhalb Ixtapalapa emporsteigende Bergkegel, der Cerro de la Estrella (Sternberg), an dessen Fuß der Kanal vorüberführt. Fast könnte man glauben, er wäre eine jener großen Pyramiden, welche die Azteken gleich den Ägyptern in der Umgebung ihrer Hauptstadt erbauten, so regelmäßig sind seine Umrisse, so glatt seine Wände. Auch dieser Berg war der Schauplatz jener grausamen Menschenopfer, welche die Azteken in ihrem Aberglauben den Göttern widmeten. Bei ihnen zählte das Jahrhundert nur 52 Jahre, und sie glaubten, das Ende der Welt würde mit dem Ende eines dieser Jahrhunderte zusammentreffen. Am Vorabende des erwarteten Unglückstages, der auf den 26. Dezember fiel, verlöschten sie alle Feuer in ihren Tempeln und Wohnhäusern, zerrissen ihre Kleider, zerstörten ihre Möbel. Eine ungeheure Prozession, geführt von Priestern, wurde zu dem Sternberge unternommen. Dort bestiegen die Priester den Gipfel, und nachdem sie einen Kriegsgefangenen geopfert hatten, warteten sie, in Gebet versunken, bis die Plejadengruppe den Zenit passiert hatte. Damit glaubten sie, ein neues Jahrhundert wäre ihnen gesichert, sie stießen dem auf dem Opferstein liegenden Unglücklichen Holzscheite in die Brust und entzündeten sie. Der aufsteigende Rauch verkündete den unten Harrenden den Beginn des neuen Jahrhunderts, und damit begannen auch große Festlichkeiten, die in ganz Anahuac an 13 Tage lang währten, eine Art aztekischer Karneval mit Musik und Tanz und ausschweifenden Vergnügungen aller Art. Heute noch sind auf dem Gipfel des historischen Berges die Grundmauern des Opferaltars zu sehen, aber der Opferstein ist verschwunden und mit ihm auch die Priester, ebenso wie die entsetzlichen blutigen Menschenopfer. Keine Spur ist mehr davon vorhanden.
«Aqui la laguna, Sehor», schreckte mich mein alter Cicerone aus meinen Gedanken. «Hier ist der See!» - «Wo?» Ich sah nichts davon. Wir befanden uns nach wie vor in dem Kanal, nur daß das Schilf an beiden Ufern hier noch dichter und höher stand und die hohen Pappeln, welche den Kanal bis über den Estrellaberg hinaus begleiten, hier nicht mehr vorhanden waren. Erst als wir einen Kilometer weitergerudert hatten, sah ich, daß sich die Ufer des Kanals langsam zu wiegen schienen, daß unregelmäßige Seitenkanäle, bald schmal, bald breit, von unserer offenen Wasserstraße rechts und links abzweigten und ein weites Labyrinth verschieden großer Wasserflächen bildeten, so daß ich kaum wußte, ob ich mich zwischen Festland oder auf einem inselreichen See befand. Ähnlich merkwürdige Bodenerscheinungen hatte ich vor einigen Jahren im Distrikt des großen Regenflusses zwischen dem Superior- und dem Winnipegsee in Kanada getroffen. Nur waren dort die Inseln felsig und bewaldet, das Wasser ungemein klar und fließend. Hier war es schmutzig und undurchsichtig, die Inseln aber bedeckte hohes Schilfgras und niedriges Gestrüpp, dabei Wasserlilien, Binsen, Hahnenfuß (ranunculus), Weißwurz (polygonum) und andere Wasserpflanzen. Ganz wie in den Lagunen Venedigs waren die offenen fahrbaren Kanäle in diesem Labyrinth durch Pfähle bezeichnet. In dichten Wolken flogen Wassermücken über unsere Köpfe hinweg oder lagerten wie schwarze Inseln auf dem glatten, stillen Wasserspiegel, die eigentümlichen, schon im vorhergehenden Kapitel geschilderten Axayacatl (Ahuatlea mexicana). Mitunter stießen wir auf eine seichte Stelle, und wenn dann meine Ruderer das Boot vom Grundschlamm flottzumachen suchten, kamen große Blasen übelriechender Gase an die Oberfläche, oder einer der Bootsleute sprang an das Ufer der trügerischen Landmassen, um das Boot vorwärts zu ziehen, sank aber dabei nebst dem Lande unter seinen Füßen knietief unters Wasser. Die erhitzte Luft zitterte über diesem grünen Moraste, und am Horizont hob sich derselbe scheinbar in die Luft, eine Fata Morgana, wie sie auf dem Hochplateau um Mexiko herum so häufig vorkommt.
Das also war der See von Xochimilco, und das Trugland um uns war das Material, aus welchem die Azteken die schwimmenden Gärten schufen! Je weiter wir gegen die Mitte des Sees kamen, desto offener wurde die Wasserfläche, und desto besser konnte ich den Charakter dieser eigentümlichen Inseln erkennen. Eine unentwirrbare Masse dunkler langer Wurzelstränge, ohne Zusammenhang mit dem Seeboden, bildete die Grundlage der schwimmenden Massen. Die fruchtbaren Staubwolken, welche in der trockenen Jahreszeit über die Stoppeln hinwegfegen, sowie die Ansammlung verfaulter Pflanzen- und Tierreste legten ihnen im Laufe der Zeit eine Erdschicht auf, der Wind brachte Pflanzensamen, und so entstanden die grünen Inseln, je nach ihrer Form von den Mexikanern cintas (Bänder) oder bandoleros (Lederstreifen) genannt. Sie treiben mit dem Winde auf dem See umher, stauen sich bald auf dieser, bald auf jener Seite desselben, stranden mitunter bei heftigem Sturme an den Ufern, eine auf der anderen, bald miteinander verwachsend und, ihres Vagabundenlebens müde, einen Teil des wirklichen Festlandes bildend. Häufig genug treiben sie mit dem Strom in das Fahrwasser und in den Vigakanal, diesen ganz verstopfend, so daß beständig Leute damit beschäftigt sind, den Kanal zu räumen und das Fahrwasser offenzuhalten. Wir begegneten manchem Boote und auch einem riesigen Floße aus vielen Tausenden von Baumstämmen, die in den Wäldern oberhalb des Chalcosees geschlagen werden. Die Stämme lagen in drei Lagen übereinander und mochten bei einem Durchmesser von 20 bis 25 Zentimeter wohl 6 bis 10 Meter lang sein. Der Transport dieser oft 100 bis 200 Meter langen Flöße von Chalco bis Mexiko erfordert gewöhnlich fünf Tage Zeit.
Auf dem Wege nach Tlahuac, am anderen Ende des Xochimilcosees, sah ich keine einzige kultivierte Chinampa, aber mein alter Indio vertröstete mich auf die morgige Fahrt über den Chalcosee. Dort wären ihrer zahlreiche vorhanden. Die Nacht galt es in Tlahuac zuzubringen, einem elenden alten Aztekendorfe, das in der Mitte des langen, den Xochimilco und Chalcosee trennenden Dammes auf einer kleinen Insel liegt. Über die Bambushütten der armen Einwohner ragte die glänzende bunte Kuppel einer alten Kirche hervor, deren Padre uns für die Nacht in seiner Wohnung, einem alten ruinenhaften Dominikanerkloster, gastlich aufnahm. Dies war also Tlahuae, die Inselstadt, wo Cortez mit seinen Soldaten auf seinem Zuge nach Mexiko 1519 durchkam! Der Padre behauptete, die alte Stadt läge heute auf dem Seegrunde. Sie sei im Laufe der Zeit versunken und man könnte an klaren Tagen an manchen Stellen die Bauwerke und selbst das Straßenpflaster durch das Wasser schimmern sehen. Auch seine Kirche sei etwas gesunken, und nur ein Wunder hätte sie über dem Erdboden erhalten. In der Tat konnten die Pfeiler im Innern der Kirche die schwere Last der Kuppel nicht tragen und sanken mit ihrem Fundamente etwa 1 Meter tief in den Grund.
Am nächsten Morgen verließen wir wieder das alte, von echten, unverfälschten Azteken bewohnte Nest, um quer über den großen Chalcosee nach der am jenseitigen Ufer gelegenen Stadt Chalco zu rudern. Hier war die Seefläche offener, das Wasser klarer, aber sobald wir die kleine Felseninsel Xico mit ihrem steil emporragenden heute erloschenen Vulkan passiert hatten, sah ich auch schon die so lang ersehnten Chinampas. Längs der südöstlichen Ufer und auf weithinaus in den See ist die Wasserfläche mit schwimmenden Gärten bedeckt, auf deren Ertrag allein die Strandbewohner für ihren Lebensunterhalt angewiesen sind. Mais, Hülsenfrüchte und Gemüse aller Art, dazu köstliche Blumen werden auf den Chinampas gezogen, und der Ertrag ist ein ungemein reicher. Die Indianer schneiden aus der schwimmenden Erdkruste lange rechteckige Stücke ab, schieben sie von dem Rest rselben etwas weg, um einen Kanal rings um dieselben zu schaffen (sogenannte ocalotes), und häufen dann auf ihnen weichen Grundschlamm auf, den sie vom Seeboden herausbaggern. Das Feld sinkt mit jeder neuen Lage tief er und tiefer, bis es vielleicht auf dem Seeboden eine feste Unterlage findet, oder es bleibt auch schwimmen. Dann wird es mittels Pfählen fest verankert - aber häufig genug kommt es vor, daß man die Chinampas nach einer anderen, günstigeren Stelle im See bugsiert oder daß ein Sturm eine oder die andere Chinampa losreißt und weit in den See hinaustreibt.
Auf manchem dieser schwimmenden Gärten haben sich ihre Eigentümer Hütten erbaut und wohnen während der Saat oder Erntezeit in ihrem flutenumwogten kleinen Reiche, vollkommen unabhängig von der Außenwelt, Souveräne im wahren Sinne des Wortes. Ja sie haben vor diesen sogar noch etwas voraus. Sind sie mit ihren Nachbarreichen nicht zufrieden, so brauchen sie ihr Landgebiet nur loszuankern und nach einer anderen Stelle im See zu ziehen. Man nennt die Schnecke das stärkste Wesen der Welt, weil sie ihr Haus mit sich trägt. Aber was ist sie gegen die kleinen Souveräne im Chalcosee, die nicht nur ihr Haus, sondern noch ihr Land mit sich führen können, wenn sie wollen? - Sie mögen elend sein und verkommen nach unseren Begriffen, aber sie erwerben sich mit Leichtigkeit das, was sie brauchen. Ihre Felder liefern ihnen Früchte und Gemüse und Rosen, deren Überfluß wird auf den Märkten von Mexiko verkauft und gibt ihnen etwas Barmittel. Der See liefert ihnen die wohlschmeckenden, höchst eigentümlichen Axolotl, diese nur in den mexikanischen Seen vorkommenden Untiere, halb Salamander, halb Fisch, halb Chamäleon, dazu kommen schmackhafte Mückenkuchen und Tortillas, aus den Larven dieser Mücken zubereitet. Wir schaudern, wenn wir an diese Leckerbissen denken, aber haben unsere guten Azteken nicht dasselbe Recht zu schaudern, wenn sie an unsere Austern, Kaviar, Gartenschnecken und Schnepfendreck denken? De gustibus und so weiter.
Auf vielen Karten ist Chalco, die alte aztekische Fürstenresidenz, welche dem See ihren Namen gegeben, an den Ufern des letzteren verzeichnet, und ich staunte daher nicht wenig, als wir von dem sumpfigen, mit Cintogewucher bedeckten Ufern durch einen schmalen Kanal noch etwa 3 Kilometer landeinwärts fahren mußten, ehe wir Chalco erreichten. Um so viel war der See seit 300 Jahren zurückgegangen, und Chalco ist heute ein mexikanisches Stavoren, dessen Glanz und Größe der Vergangenheit angehören - ein elendes, zerfallenes Indianernest, dessen einziges größeres Gebäude, eine hübsche Kirche, von dem überall sichtbaren Verfall keine Ausnahme bildete. Es kommen so selten Reisende hierher, daß Chalco trotz seiner mehreren tausend Einwohner keine Fonda besitzt, wo man für eine Nacht Unterkunft finden könnte. So ließ ich mich denn durch einen schmalen Seitenkanal mit schilfigen Ufern nach der nahen Station EI Compaña an der Morelos-Eisenbahn rudern, und während meine Boteros die Nacht in ihrer Chalupa zubrachten, dampfte ich mit dem letzten Zuge auf der zwischen dem Chalco- und Tlacocosee dahinführenden Eisenbahn wieder nach Mexiko zurück.
Hesse-Wartegg, Ernst von
Mexiko. Land und Leute. Reisen auf neuen Wegen durch das Aztekenland
Wien und Olmütz 1890