1875 - Friedrich Ratzel
Tehuantepec
Tehuantepec ist berühmt wegen seiner schönen Lage und der Gesundheit seines Klimas, ferner wegen der Schönheit der Frauen. Dies sind nicht unbedeutende Ruhmestitel. Wiewohl der erstgenannte Vorzug hier in diesem gebirgigen, meerbespülten Lande wenigen Städten abzusprechen ist, hat doch Tehuantepec eine ganz besonders ansprechende Umgebung. Das Meer ist nur wenige Meilen entfernt, aber die Stadt ist von Bergen ganz umgeben. In der Nähe hat man felsige Hügel, an deren Fuß und zum Teil an deren Abhang auf beiden Seiten des breiten und seichten Flusses die Stadt erbaut ist. Die ferner gelegenen Berge sind meistens ebenfalls nur einige Meilen entfernt, aber sie stehen fast immer in einem tiefen blauen oder veilchenblauen Licht, das sie sehr weit entlegen scheinen lässt. Dadurch erscheinen sie auch höher, als sie wirklich sind. Sie sind von mannigfaltigem Umriss, da an ihren Gipfeln die Felsgesteine hervortreten, welche das Gerippe des Gebirges bilden. Keiner ist über 100 Meter hoch. Auffallend sind einige tafelbergartige Formen isolierter Gipfel. Zwischen ihnen liegt breit und flach die Sand- und Kiesebene des Tales, durch welches der Fluss sich bald breit, bald mit mehreren schmalen und seichten Armen durchwindet.
Von einigen Straßen und der Plaza abgesehen, besteht Tehuantepec ganz aus Indianerhütten in verschiedenen Graden von Nomadenhaftigkeit. Die einfachsten sind aus Rohrstäben zeltartig zusammengestellt und sind nicht selten, andere benützen dasselbe Material zu einem hüttenartigen Aufbau und wieder andere haben Wände aus Reisig und Lehm und Dächer aus Palmblättern. Jede dieser Wohnstätten ist aber von einer oder mehreren Baulichkeiten von ähnlichem Charakter umgeben, welche Küche, Vorratsraum und dergleichen enthalten, und ein leichter Schuppen für die Pferde fehlt bei den größeren Hütten nirgends. Jeder solche Komplex steht auf einem kleinen freien Platz für sich, dem Tummelplatz der Kinder, Schweine und Hunde, und selten, dass er eingehegt ist. Da dadurch eine jede Wohnstätte durch einen ziemlich großen Zwischenraum von der anderen getrennt ist, ist es oft schwer, die Straßen von diesen Zwischenräumen zu unterscheiden, und wenn Staub oder Kot die Gleise verwischen, ist es nicht schwer, sich in solchen Hüttenlabyrinthen zu verirren. In solchem Falle fehlt es aber nie an zahlreichen, müßigen Zuschauern, die herumlungern und nichts Besseres zu tun haben, als höflich zu sein und mit dankenswerter Gründlichkeit die Wege zu weisen.
Die beiden Stadtteile von Tehuantepec, die der Fluss trennt, haben Kirchen, die aus Backstein in Moscheenform gebaut sind, mit flachen Kuppeldächern und mit Ornamenten, die an maurische Bauwerke erinnern. Schlecht unterhalten wie fast alle größeren Bauwerke hier im Land, zum Teil in Trümmern liegend oder, wie die Klöster, ihrer Bestimmung entfremdet, haben diese Bauten einen gewissen ruinenhaften Charakter, der nicht schlecht in die Hüttenumgebung passt. Dasselbe gilt, wie in allen mexikanischen Städten, auch von den meisten Privathäusern, die in maurisch-spanischer Weise um einen viereckigen Hofraum angelegt sind, der nach außen ganz abgeschlossen und häufig mit Blumen und Bäumen bepflanzt ist. Da und dort ragen Palmen über die Dächer.
Die Plaza ist hier nicht wie in anderen Städten ein belebter Mittelpunkt des städtischen Lebens, denn sie bietet weder Schatten noch Kühlung; sie ist ein großer leerer Platz, dessen Boden tiefer Sand und in dessen Mitte eine kreisförmige Mauer aufgeführt ist, die bestimmt war, einen nicht zu Stande gekommenen Brunnen aufzunehmen. Nur an Sonntagabenden, wenn eine Musik hier bis spät in die Nacht hinein ihre zigeunerhaften Weisen erschallen lässt, wird es lebhaft, und die trüben Erdöllampen beleuchten dann ein buntes Bild. An den Wochentagen ist reges Leben nur unter der Markthalle zu finden, welche eine Seite der Plaza einfasst. Ich habe solche Märkte geschildert, wo die herrlichen Früchte der Tropen in Fülle feilgeboten, wo kühlende Getränke gebraut und ausgeschenkt werden, wo mittags und abends gekocht und gebraten, eine Menge für wenig Geld gespeist wird. Aber diesem Markte hier verleihen die bunten Trachten der Tehuantepecanerinnen einen besonderen Reiz. Sie tragen außer Blau in allen Nuancen nur die hellsten Farben, mit Vorliebe rosenrot und hellgrün; ihre Kleidung besteht aus dem Hüfttuch, das fast bis auf den Boden reicht, und einem kurzärmeligen Jäckchen aus leichtem Zeug, welches nicht bis auf die Hüften geht und tief ausgeschnitten ist. Auf dem Kopf tragen sie eine Mantilla aus weißem, luftigen Zeug, die mit einem sorgfältig gefältelten, breit abstehenden Kranze das Gesicht einrahmt und über Rücken und Schultern tief herabfällt. Man sieht hier wie auf dem ganzen Isthmus mehr schöne Gestalten und Gesichter unter den Eingeborenen als irgendwo in Mexiko, und da sie es sich alle angelegen sein lassen, aufrecht und graziös zu gehen, und die Kunst vortrefflich verstehen, Lasten auf dem Kopf oder auf einer Schulter oder auf der aufwärts gewandten Handfläche mit Grazie zu tragen, gewährt dies Marktleben, wo sie sich in ihrem erfreulichen, heiteren Farben- und Formenreichtum durcheinander bewegen, ein sehr ansprechendes und fesselndes Bild. Nie habe ich es so sehr bedauert wie hier, dass mir nicht die Übung und Zeit gegeben ist, dieses Leben in einer Anzahl seiner interessantesten Erscheinungen mit dem Stifte zu fixieren.
Auch am Fluss geht es immer lebhaft zu; den ganzen Tag sind hier Scharen zum Waschen und Baden versammelt und manche schöne Form enthüllt sich hier unbefangen. Ich hatte bei meinen Ausflügen öfters den Fluss zu passieren, und es ist mir manche hübsche Szene in der Erinnerung. Zum Beispiel machte es mir immer einen sehr komischen Eindruck, wenn abends die Tiere zur Tränke geführt wurden und ein kleines, splitternacktes Indianerknäbchen von drei oder vier Jahren eine ganze Reihe großer Pferde am Strick führte, die gehorsam folgten; oder wenn die Mutter, die sich badet, sich von ihren Kleinen den Rücken oder andere schwer erreichbare Teile des Körpers einseifen lässt. Abends spielen die Kinderscharen auf den sandigen Ufern, die Knaben unbekleidet, die Mädchen in Hemden oder Unterröckchen, und machen ein Geschrei und tolle Sprünge, dass man sich an eine ausgelassene Affenherde erinnert fühlt. Aus irgendeinem Winkel tönt dann wohl auch eine Gitarre und Flöte, oder ein Fandango mit rauschender Kunstreitermusik, Pistolenschüssen und Freudenschreien. Ein solcher Abend hat Stimmung. Aber den Tag über ist die Stadt fast tot zu nennen, denn es ist drückend heiß, einerlei ob Nord oder Süd weht. Von 12 bis 3 Uhr schließen viele Geschäftsleute ihre Läden und kein Besuch wird gemacht, weil jetzt fast jedermann in seiner Hamaca [Hängematte] liegt und die heißeste Zeit verschläft. Man sagte mir, dass vor einigen Jahren das Celsius-Thermometer im Schatten 44 Grad anzeigte, aber ich könnte nicht sagen, dass mir diese Hitze jemals sehr unangenehm geworden ist; sie ist trocken und drückt deshalb nicht nieder, sondern erhält den Organismus eher in einer gelinden Spannung.
Es wundert mich nicht, dass man das Klima von Tehuantepec als ein sehr gesundes ansieht, denn im Vergleich zu dem von Minatitlán oder Veracruz ist es viel trockener (die Regenzeit umfasst nur die Monate September und Oktober und außer dieser Zeit regnet es nur wenig im Juni, Juli und August, die übrige Zeit ist trocken; in Minatitlán bringt außerhalb der Regenzeit, welche 6 Monate währt, fast jeder Norte Regen und dieser Wind weht dort in den Wintermonaten oft Monate lang; selbst im Februar hat es, wie man mir sagt, oberhalb Minatitlan 9 Tage lang fast ununterbrochen und mit tropischer Kraft geregnet, und von einer ganz trockenen Zeit kann man dort nicht reden); es fehlt ferner hier jener starke Temperaturwechsel, der an der Nordküste so unangenehm und ungesund ist; der Nordwind, welcher über den nordamerikanischen Kontinent herkommt, ist in Veracruz und Minatitlán entweder kühl oder nass, während er hier nur ein heftiger Wind, nichts weiter, ist.
Eine offene Bai, welche etwa sieben Wegstunden südlich von der eigentlichen Stadt gelegen ist, ist der Hafen von Tehuantepec. Der Weg, der dahin führt, ist fast eben, denn Tehuantepec liegt nicht mehr als 37 Meter über Meereshöhe; er ist gleichzeitig einer der bestgehaltenen, die ich in dieser Gegend gesehen habe. Das Land zwischen Tehuantepec und dem Meer besteht aus dürrem Sandboden, welcher Buschwälder aus Mimosen, Euphorbien, Cacteen und allerlei anderem Dorngestrüpp trägt, aber die weitere Umgebung der Bai selbst ist Düne und der kleine Hüttenkomplex Salina Cruz , der den »Hafenplatz« darstellt, liegt sehr einsam und öde, wie verloren, auf dem Sand. Er besteht aus etwa einem Dutzend Rohrhütten und zwei weißgetünchten einstöckigen Häusern sowie einigen Schuppen, unter denen man die paar Güter, die hier aus- und eingeschifft werden, vor den Unbilden des Wetters schützt.
Die Bai ist nichts als eine ziemlich weit geöffnete Einbuchtung von Hufeisenform; erheblichen Schutz bietet sie nicht, aber man sagt, dass eine Untiefe, die von einer Seite gegen die Öffnung vorspringt, die Anlage einer künstlichen Schutzwehr sehr erleichtern würde. Außer den Küstendampfern der Pacific Mail S. S. Company legt selten ein Schiff hier an, denn es ist nicht viel, was von hier verschifft wird: Indigo, Brasilholz, Salz. Der erstere kann per Dampfer gehen und von letzterem holt mehrere Male im Jahr ein kleiner italienischer Küstenschoner eine Ladung nach Guatemala. Alle paar Jahre sammelt sich wohl auch eine Quantität Brasilholz an, die genügend ist, um ein Schiff damit zu befrachten, und zufällig lag gerade ein französisches Schiff in der Bai, das mit der Ladung dieses Farbholzes beschäftigt war. Um das elende Dasein dieses Hafenortes noch elender zu machen, ist kürzlich bei starkem Nordwind fast alles verbrannt, was an Häusern und Waren vorhanden war. Gerade wie in Acapulco und an der ganzen Westküste sieht man auch hier, wie ohne das junge Kalifornien, dessen Bevölkerung kaum den 16. Teil der mexikanischen beträgt, diese ganze Küste ein öder, unbelebter Strich wäre. Ein Armutszeugnis für die Mexikaner und ein glänzender Beweis für die Fähigkeiten der Nordamerikaner!
Der Handel liegt hier sehr danieder, denn das Land produziert trotz des Reichtums seines Bodens sehr wenig. Die Indigo-Ausfuhr ist von 2.000 auf 900 Seronen [Maultierlasten] in wenigen Jahren gesunken, die Ausfuhr der Farbhölzer, gering wie sie ist, kommt vorwiegend nur einem einzigen Kapitalisten zugute, und das bisschen Kaffee will nichts heißen. Man sagte mir, dass jetzt einige ausgedehnte Kaffeepflanzungen in der Anlage begriffen sind. In Tehuantepec selbst gibt es wohl, wie in allen mexikanischen Städten, eine große Anzahl von Tiendas oder Kramläden. Aber das sind elende Geschäftchen, die nur bei der äußersten Anspruchslosigkeit eine Familie ernähren. Viele von ihnen haben ihren Ursprung in der Sitte, eine Mätresse, deren man müde geworden, mit einer lebenslänglichen Versorgung in Form eines Kramlädchens abzuspeisen. Sehr billig erwirbt man ein solches Geschäft, das mit einem Kapital von zehn Pesos im Gang zu halten ist, aber manchmal findet man kein ganzes Pfund Kaffee im Vorrat.
Ratzel, Friedrich
Aus Mexiko - Reiseskizzen aus den Jahren 1874 und 1875
Neudruck des 1878 erschienen Werkes, Stuttgart 1969
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Mexiko
Wien 2003