Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1874-75 - Friedrich Ratzel
Mitla

Östlich von Tlacolula liegt am Fuss des Gebirges die Palast- und Tempelruine von Mitla. Der Weg führt durch dieselbe trockene aber wohlangebaute Landschaft, der wir im ganzen Tal von Oaxaca begegnen und nach dreistündigem Ritt setzt man über einen Fluss, der gegenwärtig fast wasserlos, durchschreitet das Dorf San Pablo de Mitla, das eines der grösseren in dieser Gegend ist, und sieht an dessen anderem Ende scharfwinklige, rechteckige Bauten vor sich auftauchen, die altersgrau, dachlos, breitgedehnt und niedrig wie sie sind, seltsam abstechen von der hohen, weissen Kirche und von der Kapelle, welche von umgebenden Höhen auf sie herabschauen.
   Wir reiten direkt auf die Kirche zu, weil von derselben, als hochgelegenem Punkte eine vorzügliche Einsicht in das zunächst etwas verwirrende Ruinenfeld zu gewinnen sein wird; zweitens weil ein Brief mich dem Herrn Curaten empfiehlt, der dort oben wohnt und als Kenner und Conservator der schönen Ruine geschätzt wird. Oben angekommen, finden wir nur die blasse Haushälterin, welche bedauert, dass der Herr Pfarrer sich nach einem Kirchenfest in der Umgegend begeben habe, nichtsdestoweniger aber verspricht, mit einem frugalen Mittagsmahl Gastfreundschaft an uns üben zu wollen, und wir wenden, nach der körperlichen Seite hin versichert, nun die Blicke nach den Trümmern, die zu unseren Füssen liegen.
   Soweit aus den erhaltenen und den halbzerstörten Resten hervorgeht, bestand dieser Palast aus vier verschiedenen Gebäudecomplexen, von denen indessen nur einer z. T. gut erhalten ist. Derselbe besteht aus einem quadratischen Hofraum, an dessen vier Seiten je ein langes und schmales Gemach von vier Wänden eingeschlossen wurde; diese vier Gemächer umschlossen den Hofraum, ohne ihn vollständig abzuschliessen, da sie Lücken zwischen einander lassen. Aus ihm führten drei Tore in jedes derselben. Das eine von diesen Gemächern, welches ganz erhalten ist, das nördliche, trägt einen kleineren nahezu quadratischen Anbau, welcher wiederum aus einem quadratischen Mittelraum besteht, den vier schmale und lange Gemächer umgeben. Eine Tür führt in jedes Gemach. Soweit man aus dem Nichtvorhandensein ähnlicher Reste an den andern Seiten schliessen kann, sind solche Anbauten an ihnen nicht angebracht gewesen. Die Beschaffenheit des Terrains unterstützt diese Meinung. In der östlichen Hälfte des grossen Hofraums ist eine kleine hügelartige Erhöhung zu sehen, deren Gipfel eine Vertiefung zeigt, als ob eine Säule, ein Opferstein oder ein Steinbild hier eingepflanzt gewesen sei. Von den übrigen Räumen sind nur die Fundamente und zerstreute Steinplatten der Bekleidung, an einigen Stellen aber selbst diese nicht mehr zu sehen.
   Der Hofraum ist nicht ganz genau quadratisch und hat ca.180 Fuss Seitenlänge. Jener wohlerhaltene Längsraum, der seine nördliche Seite abschliesst, wendet ihm eine fein ornamentirte Fassade zu, aber sein Inneres, in welches drei Tore einführen, ist kahl.  Der Fussboden ist in demselben mit unregelmässigen Steinplatten belegt, welche nach Art eines cyklopischen Mauerwerkes ohne kleine Schaltstücke und Mörtel ineinandergefügt sind, und sechs basis- und capitällose Säulen, einfache Steinwalzen, die sich nach oben etwas verjüngen, stehen in regelmässigen Abständen in einer Längsreihe in demselben. Die Mauern bestehen aus unregelmässigen und wenig oder gar nicht behauenen Felsstücken, welche, so gut es ging, aufeinandergeschichtet und durch einen Lehmmörtel verbunden wurden. Sie waren mit einem Kalkbewurf verkleidet, welcher durch Bolus an der Oberfläche rothgefärbt und fein abgeschliffen war.
   Aus der rechten Ecke dieses Längsraumes führt ein Gang in den fünfgemachigen Anbau. Der Gang ist rechtwinklig, geknickt, dunkel, schmal und an beiden Eingängen so niedrig, dass man nur gebückt in ihn einzutreten vermag. Offenbar war dieser Gang nicht dazu bestimmt, von Vielen betreten zu werden. Aus ihm tritt man in den quadratischen Mittelraum des Anbaues, aus welchem wiederum vier Türöffnungen in die vier Längsräume führen, welche denselben von allen Seiten einschliessen. An diesem Anbau sind nun von aussen und innen die Wände mit Ornamenten bedeckt, welche aus hartem, porphyrartigem Gestein mit grosser Präcision in Hochrelief herausgearbeitet sind. Dieselben beginnen in vier Fuss Höhe vom Boden. Unter ihnen findet man das Mauerwerk, welches auch hier aus unregelmässigen, wenig oder nicht behauenen Steinen besteht, die aufeinandergeschichtet und mit Lehmmörtel verbunden sind. Soweit dies Mauerwerk frei liegt, bedeckt es der rothe, geschaffene Kalkbewurf. Da aber die ornamentierten Steine keine Zwischenlagerungen von Mörtel haben, sondern genau ineinander passen, bilden sie, soweit sie reichen, eine vollkommen zusammenhängende Verkleidung dieses Mauerwerkes. Aussen und innen folgen drei Längsreihen Ornamente an diesen Wänden übereinander. Man sieht selten eine gebogene Linie an denselben, sondern die Motive laufen fast alle auf Staffel und Zickzack hinaus. In einer Reihe sind z. B. lauter rechteckige Steine verwendet, von denen jeder an der nach aussen gekehrten Seite eine wagrechte Raute in Hochrelief trägt und diese Steine sind in der Art zusammengefügt, dass stark erhabene Zickzacklinien entstehen, die sich aus Rauten zusammensetzen; in einer andern ragen einige Steine über die anderen hervor und bilden durch die Art ihrer Zusammenfügung Staffellinien; an einer dritten sind auf längeren Steinen einseitige Zickzacke oder sägenförmige Linien herausgearbeitet, und die Steine sind so gefügt, dass jene bald rechtwinklig, bald parallel zueinander stehen; man findet auch, dass drei erhabene Steine, die zusammen zwei rechte Winkel einschliessen, sich mit solchen Zickzacklinien verbinden, und der Mäander scheint hier und in anderen Combinationen von ähnlichem Charakter nahe zu liegen, wird aber nicht verwirklicht. Die Zahl der Combinationen ist gering. Die drei Längsreihen sind nicht ganz gleich hoch, indem die oberste die schmalste und die mittlere die breiteste ist. Die beiden unteren sind nur durch die Verschiedenheiten der Ornamente gesondert, während zwischen den oberen und mittleren eine stark hervortretende Leiste von etwa zwei Zoll Dicke eingeschoben ist. An den Aussenseiten reicht die Ornamentation ebenfalls nicht bis auf den Grund herab und ist, während sie im Ganzen durchaus denselben Charakter bewahrt wie im Innern, kräftiger in den einzelnen Formen und schärfer in der Gliederung der drei Reihen, welche nicht bloss durch breite Streifen glatter Steine getrennt sind, sondern auch in ihrer Längserstreckung durch Abwechselung der Ornamente in der Weise gegliedert erscheinen, dass in der Mitte andere Motive sich finden als an den beiden Seiten. Der untere, nicht ornamentierte Teil der Mauern war, nach Resten zu schliessen, mit breiten Steinplatten verkleidet, die schräg nach aussen vortraten, so dass das Haus mit senkrecht aufstrebenden Mauern erst von den ornamentierten Teilen an zu beginnen und bis dahin auf einem niedrigen gemauerten Hügel sich zu erheben schien. Die Kanten sowohl des Längsraumes als seines Anbaues sind durch sehr kräftig ausgearbeitete, cassettierte Steine markiert, und ebensolche heben an der Fassade des letzteren die Türeingänge hervor.
   Vor der südwestlichen Seite dieser ausgedehnten Ruine stand einst, nach den noch erhöhten Fundamenten und einzelnen behauenen und ornamentierten Steinen zu urtheilen, ein ähnlicher Bau oder Bautencomplex. Aber es ist wenig von ihm erhalten. Interessant ist nur ein unterirdischer Raum, der aus einem längeren und einem rechtwinklig auf diesen stossenden kürzeren Gang besteht und wieder mit ornamentierten Steinen verkleidet ist. Hier allein traf man Bogenlinien auf den Ornamenten, die aber selten vorkommen und in ihrer unvollkommenen Ausführung den allgemeinen starren oder gefesselten Charakter derselben keineswegs mildern. Ich sehe auf den Zeichnungen in Humboldt's und Kingsboroughs Werken über mexikanische Alterthümer, die 1803 und 1806 angefertigt wurden, dass damals noch ausgedehnte Reste von diesem Palaste standen, dass dieselben grosse Ähnlichkeit mit den jetzt noch erhaltenen zeigten, und dass ihre Ornamente ebenfalls nicht selten gebogene Linien zeigten, aber im Ganzen doch denen des ersten Palastes ganz ähnlich waren. Zur Zeit als Humboldt und Duplaix diese Ruinen besuchten, waren auch noch Cedernbalken erhalten, die auf den sechs Säulen jenes langen Gemaches ruhten und Reste eines platten Daches trugen. Dies alles ist gegenwärtig nicht mehr vorhanden.
   Reste eines dritten Palastes sind in den Umgebungen der Kirche erhalten und ist diese z. T. in dessen Gemäuer hineingebaut, von welchem selbst ornamentierte Stücke mehrerorts in den Mauern des Tempels zu sehen sind. In seiner Nähe findet man ferner noch undeutlichere Reste eines vierten Gebäudecomplexes, dessen Gestalt und Lage jedoch nur noch nach den Umrissen der Grundmauern abzuschätzen ist. Diese beiden scheinen nach einem Plan gebaut zu sein, welcher von dem der zwei erstgenannten Complexe verschieden war. Er ist nicht mehr mit voller Genauigkeit zu erkennen, aber man sieht doch sofort, dass hier keine einfachen Längsgemächer einen viereckigen Hofraum umgaben. Aus Duplaix's 1806 aufgenommenem Plan scheint hervorzugehen, dass je drei fünfgemachige Räume, die dem quadratischen Anbau des ersten Palastes ähnlich waren, in einer Reihe standen und so miteinander verbunden waren, dass man durch zahlreiche Thüren und Gänge vom ersten bis ins letzte Gemach gelangen konnte.
   Auf den Bergen hinter Mitla fehlte es nicht an Ruinen einfacherer Art, welche sich bald als Befestigungen (Mauern und Wälle), bald als Häuser und Grabstätten darstellten. Sie sind einfach aus wenig behauenen Felssteinen und Lehmmörtel dickmauerig gebaut. Ich werde bei Besprechung anderer Reste zapotekischer Bauwerke auf dieselben zurückkommen.
   Interessanter sind einzelne Skulpturwerke, die in der Umgegend von Mitla gefunden worden sind; sie wurden aber leider grösstentheils in's Ausland zerstreut, so dass wir die meisten nur aus Beschreibungen oder Abbildungen kennen. Ich habe zu Oaxaca im Privatbesitz eines Sammlers einige schöne Götzenbilder mit jenen bekannten Fratzengesichtern gesehen, welche aus der Verzerrung der natürlichen Gesichtsteile zu geometrischen Linien und allerlei willkürlichen Ornamenten entstehen. Kleinere, rohere Nachahmungen dieser zum Theil sehr feinen Arbeiten findet man in Ton hier wie überall in der Nähe einstiger Tempelstätten. Ich glaube, dass es keine Berghöhe gibt, wo man denselben nicht begegnet. Ein Skulpturrest, den ich nicht zu deuten weiss, steht im Kirchhof zu Mitla: Es ist ein viereckiger Stein, der nach unten verbreitert und an der Oberseite ausgehöhlt ist und an den oberen vier Ecken roh ausgehauene Köpfe trägt, welche von eben so rohen Blattornamenten getragen zu werden scheinen.
   Da die Zapoteken noch im fünfzehnten Jahrhundert diese ganze Gegend bewohnten und beherrschten und erst im Jahre 1494 der aztekischen Herrschaft unterworfen wurden, dürfte der echt zapotekische Ursprung dieser Bauten keinem Zweifel unterliegen. Freilich stehen sie ihrer ganzen Anlage und Bauart nach allein, denn weder die Palastreste von Uxmal und Palenque in Yucatan, noch die Tempelreste von Cuernavaca, noch die Ruinen in der echt zapotekischen Gegend von Tehuantepec zeigen auch nur entfernte Äehnlichkeit. Zusammen mit dem Dunkel, das über der ganzen Geschichte des begabten Zapotekenvolkes liegt, macht diese Einzigkeit des hervorragendsten Bauwerkes, das wir von demselben besitzen, jeden Schluss auf die Zeit der Entstehung, und selbst die Bestimmung dieser Bauten unmöglich. Die ältesten spanischen Chronisten teilen uns wohl die Überlieferung mit, dass die Ruinen von Mitla Reste von Trauerpalästen gewesen seien, welche über den Gräbern zapotekischer Fürsten errichtet seien, um den hohen Hinterbliebenen eine Zeit des Jahres, in der sie das Andenken der Toten feierten, würdige Wohnung zu bieten. Auch einer anderen Überlieferung, dass es Räume für die Priesterscharen gewesen seien, welche für die toten Fürsten opferten und beteten wird schon in alten Geschichtswerken Erwähnung getan. Aber es gibt keine besseren Quellen für die Behauptung als längstverklungene Sagen, und scheint es mir wahrscheinlich genug, dass die öde, wasserlose, fast wüste Umgebung der Ruinen und jener unterirdische reich ornamentierte Bau, dessen ich Erwähnung tat, und den man, wenn man will, allerdings für eine Gruft ansehen kann, zu dieser Sage Anlass gegeben haben. In der Tat scheint die Lage Mitla's nicht von der Art zu sein, dass man Paläste hier bauen möchte, die fröhlichem Leben gewidmet sind. Wenn auch die Gegend nicht so reich an Schlangen und Skorpionen und so arm an erfreulicherem Thier- und Pflanzenleben ist, wie einige poetische Reisende uns glauben machen wollen, so ist sie doch eine der reizlosesten im alten Zapotekenland. Andererseits lagen diese Bauten in ihrer Umgebung befestigter Berge hier sicherer als in der Ebene von Oaxaca. Wollen wir ehrlich und vorsichtig sein, so lassen wir das Räthsel unberührt, das in dieser eigentümlichen Lage so hervorragender Ruinen aufgegeben ist, denn wir müssen gestehen, dass wir zur Zeit kein anderes Mittel besitzen, es zu lösen, als unsere Phantasie. Anlage, Ausführung und Ornamentierung dieser Bauten zeigen einen Mangel an Sinn für strenge Regelmässigkeit und Symmetrie, eine Schwerfälligkeit und geringen Schönheitssinn in der Zusammenstellung schmückender Linien und Figuren und bei allem Fleiss ein Ungeschick in der Ausführung der letzteren, welche denselben ihren Platz in der Stufenreihe architektonischer Entwickelung weit unter den ältesten ägyptischen Bauten anweisen. Aber sie machen durch das von aller Überfüllung und Masslosigkeit ferne, eher arme Detail nicht den völlig unkünstlerischen, selbst abstossenden Eindruck yukatekischer oder selbst indischer Bauten. Wahre Schönheit wird freilich durch diese Einfachheit noch nicht erzeugt und es würde töricht sein, wenn man, wie es geschehen ist, aus dem angenehmeren Eindruck, den dieselbe erzeugt, auf höhere künstlerische Bedeutung oder gar schon auf eine vorgeschrittene Culturstufe der Erbauer schliessen wollte. Im Grunde sind doch diese einfachen, mehr geometrischen Ornamente mit nicht viel mehr Geschmack verwertet als dort die Schnörkel und Fratzen, die alles überwuchern; der geringe Fortschritt aber, welchen man zu bemerken glaubt, wird mit bedeutend grösserer Wahrscheinlichkeit auf einen begabteren Baumeister als auf eine höhere Culturstufe des ganzen Volkes zu beziehen sein.  Denn so wenig Beweise wir von dieser haben, so gewiss ist es, dass der künstlerische Genius selbst im niedrigsten und gedrücktesten Volke ruht. Wo alle andere Gesittung fehlt, sprüht er noch Funken, und wenn es auch nur die Hand des Tätowierer's ist, die er leitet, so ist selbst in deren Schaffen der Keim höherer Entwickelung oft nicht zu verkennen.
   
Ratzel, Friedrich
Aus Mexiko - Reiseskizzen aus den Jahren 1874 und 1875
Neudruck des 1878 erschienen Werkes, Stuttgart 1969

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