Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1874-75 - Friedrich Ratzel
Minatitlan

Ohne weiteres Erlebniss, als dass einige Alligatoren bei unserer Annäherung sich vom Ufer in das Wasser stürzten und dass der Dampfer einige Male auf Sandbänke lief, über die er sich mit Mühe wegarbeitete, kamen wir Nachmittags zu guter Zeit in Minatitlan an.
   Dieser neuerdings vielgenannte Ort, welcher ein Hauptpunkt des mexicanischen Holzhandels oder genauer gesagt, der Mahagony-Ausfuhr geworden ist, stellt sich nicht anders dar, als wie ein Indianerdorf, in das einige grössere steinerne und hölzerne Häuser im americanischen Farmstyl zerstreut hineingebaut sind. Er liegt am linken Ufer des Flusses, welches sich hier zu einer flachen Anhöhe erhebt. Ehe wir indessen erforschen konnten, was hinter diesem wenig versprechenden Äussern sich berge, hatten wir wiederum eine jener Gepäckuntersuchungen zu bestehen, die hier in Mexico unleidlicher sind, als in irgend einem Lande, das ich noch berührt habe. Ich hatte nicht mehr Gepäck bei mir, als zwei Reiter auf ihre Pferde packen können, und doch bekam ich Schwierigkeiten, da ich mein Geld in ca. 300 Silberpesos bar mit mir führte. Ich hatte wohl gewusst, dass Silber nach dem Auslande 5 pCt. Zoll zu zahlen hat, nicht aber, dass dieser Zoll auch erhoben wird, wenn man es in der gangbaren Münzsorte der sogen. harten Taler (mexicanische Dollarstücke) von einem Hafen des Landes zum anderen bringt. Diese Unkenntnis eines Zollsatzes, der jedes vernünftigen Grundes entbehrt, hatte ich in Veracruz mit 15 Pesos gebüsst und hier würden sie mich mit Prüfung des Permisso, den ich dafür erhalten, Neuausstellung eines solchen und was derartige Förmlichkeiten mehr sind, wohl noch eine Stunde geplagt haben, wenn nicht ein Dritter, dem ich die Sache erzählte, den Beamten ihre Kleinigkeitskrämerei vorgehalten hätte, worauf dieselben mit der Unselbständigkeit, die den Mexicanern eigen ist, mich sofort aufs Höflichste entliessen. Diese Leute, die in Unwissenheit und Nichtstun ihre Zeit hinbringen, wollen sich vor Fremden mit Wichtigtuerei aufblasen oder wohl auch ein Paar Taler Bestechung herauspressen; da man aber ihre Nichtigkeit sehr leicht durchschaut, so kommt man öfters in Versuchung, sie ungeachtet ihrer amtlichen Stellung so zu behandeln wie sie es verdienen. Gewöhnlich geben sie dann klein bei. Selbstvertrauen kann natürlich bei so niedrigem Volke nicht vorhanden sein. Ich habe hier mehrmals mit Beamten der Post, der Eisenbahn und der Zollstätten in einer Weise grob zu sein gehabt, deren ich mich in Deutschland schämen würde.
   Minatitlan liegt gerade auf der Grenze zwischen der Niederung des unteren Flusslaufes und dem sanft ansteigenden Lande, das denselben in seinem oberen Teile an beiden Ufern umgibt. Seine Umgebung besteht daher aus abwechselnden Sümpfen und niedrigen Hügeln und die ersteren machen dann und wann schon trockenen Grasflächen Platz, auf denen die roten Blütenköpfchen der Sinnpflanze den Rasen nicht minder zahlreich durchsetzen, wie bei uns der rote Klee. Während in den Sümpfen dorniges Palmengebüsch, hochstengelige und grossblättrige Lilien und callaartige Gewächse, Schilf und sumpfliebende Bäume ein Dickicht bilden, das kaum zu durchdringen, stehen auf diesen Wiesen vereinzelt Bäume, deren jeder einen kleinen Ziergarten von Orchideen, Farnkräutern, Pothos und windenden Cacteen trägt, zerstreut wie in einem Park. Aus irgend einem Grunde, der mir unbekannt, siedeln sich die Termiten mit Vorliebe auf diesen einzelstehenden Bäumen an, aber ihre kuppelförmigen Nester gereichen denselben ebensowenig zur Zierde, wie der Cactus; jene sehen unförmlichen Auswüchsen gleich und diese drücken sich mit ihren fleischigen Stengeln so dicht an die Äste und Zweige an, dass dieselben ein geschwollenes Ansehen erhalten. Zwischen diesen Extremen der Sumpf- und Wiesenvegetation steht mitten inne die der Hügel, welche sich als eine mässige Urwaldvegetation, d. h. als üppiges Unterholz, mit mannigfaltigen, selten hohen und starken Bäumen durchsetzt, darstellt.
   Wenn man auf den Pfaden, alten und neuen, die selbst die Urwälder rings um einen etwas bevölkerten Ort zu durchziehen pflegen, dieses Land durchstreift, trifft man oft unerwartet auf Lichtungen, die den Gipfel oder die Abhänge eines Hügels einnehmen und die Lage einstiger Wohnstätten anzeigen. Die Culturfläche ist längst mit einer Buschvegetation überwachsen, aber Mango- oder Anonenbäume, oder gar eine Cocospalme, sind stehen geblieben, denn diese pflegen für lange Jahre die Wahrzeichen eines Ortes zu bleiben, an dem die Cultur sich für einige Zeit niedergelassen. Eine andere Art Lichtung überraschte aber meinen Blick, als ich an einem der nebeligen Morgen, die man hier fast als die Regel ansehen kann, auf engem Waldpfad an den Abhang eines Hügels gekommen war, der nicht weit vom Städtchen und in der Nähe des Flusses liegt. Es breitete sich hier mitten im Wald eine Wiese aus, die mit Gräbern und Grabmälern besäet war: Der Kirchhof von Minatitlan. Es war ein schöner Begräbnissort, der Natur so nahe und so leicht ihr zurückzugeben. Man sah hier einige steinerne Grabmale, von denen zwei die Reste Fremder umschlossen, die als Schiffer hierhergekommen und am fremden Strande gestorben waren. Die meisten Gräber waren ohne anderen Schmuck als einem kleinen Kreuz aus zwei Stöcken, ohne jede Inschrift, für welche es hier an Lesern fehlen würde. Blumen waren nirgends gepflanzt, aber dichte Gitter umgaben die besseren Gräber, um sie vor wühlenden Tieren zu schützen.
   In der Nähe ist gleichfalls auf einem Hügelchen im Walde eine Lichtung, nach der mich das Gekrächz von hunderten von Geiern hinlockte, die teils auf der Erde in Haufen von Knochen und Rinderhörnern wühlten, teils auf den Bäumen umher in träger, satter Ruhe sassen, teils hoch in der Luft ihre Kreise zogen. Dies war das Schlachthaus von Minatitlan. Sechs Ochsen waren mit Nasenringen und Stricken an die Bäume gebunden, scharrten den Boden und stierten wild und geängstigt aus ihren blutunterlaufenen Augen. In der Mitte war zwischen zwei dicken Bäumen der Galgen aufgerichtet, an dem die Tiere aufgezogen werden, ehe sie den Schlag empfangen.  Man hatte sie so kurz gebunden, damit sie sich ermüden, ehe man sie tötet.
   Die Bevölkerung ist in der Umgegend von Minatitlan so dünn gesäet wie in allen diesen feuchten und tiefliegenden Gegenden, wo ein Heer von Feinden sich jedem Versuch entgegenstellt, dem Boden etwas von seinem grossen Reichtum abzuringen. Die Atmosphäre ist mit fiebererzeugenden Miasrnen geschwängert, die wuchernde Vegetation und zahlreiche schädliche Insecten erschweren den Anbau der Erde und die Anlage guter Wege, der Fluss zerstört bei seinem oft raschen und ausserordentlich starken Anwachsen in der Regenzeit oft alle Ernten weit ins Land hinein und das Klima erschlafft Nerven und Muskeln derer, die hart arbeiten möchten. Diese Niederungsgegenden sind auch nirgends der Sitz der eigentlichen tropischen Culturen, wie des Kaffees, Zuckerrohrs, Cacaos, Tabaks u. dergl. Diese suchen die Hügel und Berge auf, welche hinter dem Sumpfland sich erheben und nur ganz zerstreut findet man hier und da eine kleine Pflanzung, die eine Familie zur Not ernährt. Wenn nicht etwa irgend eine Form von Zwangsarbeit die farbige Bevölkerung, welche solches Klima erträgt, an diesen Boden fesselt, wird es auch nicht anders werden und dazu ist heut zu Tage keine Aussicht mehr vorhanden.
   Indessen macht die Bevölkerung des Tieflandes in der Gegend von Minatitlan doch einen bedeutend besseren Eindruck als in anderen Teilen des Küstenlandes; sie ist nicht so stark mit Mulatten und Mestizen versetzt, wie in der Gegend von Veracruz oder an der Westküste, und an manchen Orten ist sie noch rein indianisch. Diese Indianer sind in ihrer Weise ordentliche Leute; sie arbeiten soweit es ihre Bedürfnisse erheischen, und machen nicht wie die Mischlinge, Ansprüche auf sociale und politische Geltung, denen sie im Allgemeinen weder durch Geistesgaben noch durch Charakter gewachsen sind. Schon das macht einen guten Eindruck, dass man sie immer reinlich gekleidet sieht: die Männer mit weissen Beinkleidern und einem weissen Hemd darüber, die Frauen in weissen Tüchern, welche um die Hüfte gewunden sind und bis über die Knie reichen und einem kurzen, weissen Ueberhemd, das von den Schultern auf die Hüften reicht und oft einen schmalen Theil des Leibes freilässt. Diese Kleider verfertigen sie alle selbst und in die Hüfttücher weben sie allerlei rote Streifen nicht ohne Geschmack. Der Menschenschlag ist hier wie auf dem ganzen Isthmus bedeutend kräftiger und schöner als auf der Hochebene und besonders die Frauen sind zum grossen Theil hübsch, einige entschieden schön zu nennen. Wenn aus dem Indianertypus, der in Nordamerika und dem grössten Theile Mexicos so roh und unschön erscheint, diese Völkerschaften ohne Mischung mit Nichtindianern sich entwickelt haben (und eine Mischung ist geschichtlich nicht nachzuweisen), so ist das eines der auffallendsten Beispiele von der vereitelnden Wirkung äusserer Einflüsse auf die Formen des menschlichen Körpers. Immer ist aber dabei zu beachten, dass viel weniger die Männer als die Frauen diese Entwickelung repräsentieren, denn jene haben den echten Indianertypus mit seinen untersetzten Gestalten, breiten, stupiden Gesichtern und tierischen Mundformen reiner bewahrt.
   Ich vernahm mit Vergnügen, wie die Indianer dieser Gegend sich vor einiger Zeit gegen die Vermischungsgelüste der Spanier und Mischlinge verwahrt haben. Die Hacienderos und Rancheros pflegten junge Indianerinnen als Mägde in ihre Häuser zu nehmen und sie zu den Ihrigen zurückzusenden, nachdem sie dieselben entehrt hatten. Dieser Missbrauch erreichte einen solchen Grad, dass er selbst die Indianer empörte, welche doch sonst in diesen Dingen eine grosse Toleranz an den Tag legen. In einem Dorf bei Minatitlan kam es zu einer Art Aufstand und Rachezug gegen die feinen Herren, die schlecht wegkamen und seitdem ihre Zwecke etwas mehr im Geheimen verfolgen.
   Minatitlan selbst ist nichts als ein Dorf, in welchem sich mehrere grosse Handelshäuser niedergelassen haben, die das Mahagony- und Cedernholz, das den Fluss herunter geflösst wird, nach Europa und Nordamerika verschiffen. Es ist eine verhältnissniässig junge Niederlassung, die eine etwas raschere Entwicklung gehabt hat, als die grosse Masse mexicanischer Städte und Städtchen. Sie ist zu Bedeutung gekommen durch den Handel, der von hier aus mit dem Mahagony- und Cedernholz getrieben wird, das in höhergelegenen Teilen des Isthmus gehauen und den Goatzocoalcos herabgeflösst wird.  Es ist noch immer fast ausschliesslich dieser Handel, welcher der Niederlassung Bedeutung verleiht. Die Ausfuhr von Minatitlan belief sich im Jahre 1872 auf 302,000 D. und hiervon kamen 293,000 auf die beiden kostbaren Hölzer und der Rest auf Indigo und Häute. Die Einfuhr betrug noch nicht den vierzigsten Teil der Ausfuhr!  Es verliessen in demselben Jahre diesen Hafen 56 beladene Segelschiffe, wovon 17 norwegisch, 16 deutsch und 14 englisch waren. Wenn jedoch einst die Eisenbahn diesen Ort mit dem Südrand der Landenge verbinden wird (und ohne Zweifel wird das in nicht zu ferner Zeit geschehen), dann wird seine ausgezeichnete Lage an dem schiffbaren Fluss sich noch ganz anders zur Geltung bringen können. Es war überhaupt nur unter dieser unbegreiflich schlaffen und trägen Verwaltung der Spanier und Mexicaner möglich, dass solches nicht schon früher geschehen ist.

Ratzel, Friedrich
Aus Mexiko - Reiseskizzen aus den Jahren 1874 und 1875
Neudruck des 1878 erschienen Werkes, Stuttgart 1969

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