Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1856 - Johann W. von Müller
Im Urwald
Zwischen Veracruz und Orizaba

Von der alten Hacienda an hatte der gangbare Pfad aufgehört; nur noch ein undurchdringlich scheinender Wald lag vor uns. Mit der Machete in der Hand bahnte uns der Kapitän, der vorausritt, mühsam einen Weg durch stacheliges Dorngestrüpp; die Schlingpflanzen spannten sich mit hundertfachen Ranken um die Bäume, aus deren Ästen ihre Luftwurzeln und Blütentrauben in den mannigfachsten Farben und Windungen hernieder hingen. Manchmal bildete eine von den Spaniern Jagüey genannter Baum (Ficus indica die männliche und Ficus radula die weibliche desselben) natürliche Portale, durch welche wir ritten. Die Luftwurzeln dieser Bäume hängen nämlich von den großen Ästen zur Erde, bis sie hier Wurzeln fassen, wachsen und dann, mit dem Mutterstamm vereint, oft die merkwürdigsten Torwege bilden. Nach mühevoller Arbeit hielten wir am Ufer eines Flusses, der, etwa achtzig Schritt breit, seine bläulichen Wellen, die im Sonnenlicht in allen Regenbogenfarben spielten, pfeilschnell dahin trieb.
   Die Spanier hatten ehemals eine steinerne Brücke gebaut, auf welcher man den Fluss überschritt, wie einzelne Mauerreste noch bezeugen. Die Mexikaner ließen die Brücke wie alles Übrige verfallen, und jetzt muss man den Fluss durchreiten. In Europa würde dies ein Wagestück scheinen; hier ist etwas so Alltägliches, dass niemand an Gefahr denkt. Mit raschem Ansporn waren unsere Pferde in der Strömung, welche sie mit bewundernswerter Kraft bewältigten und uns wohlbehalten, wenn auch etwas durchnässt, an das andere Ufer brachten.
   Nach einer kleinen Strecke Waldes kamen wir an einen anderen Arm des Atoyac, den wir in ähnlicher Weise passierten. Nun ging es eine steile Wand hinan, deren Erklimmung die Güte und Ausdauer unserer mexikanischen Pferde in glänzendem Licht zeigte. Oben angekommen, saßen wir ab, da die unzähligen Hindernisse, welche der Wald unserem Vordringen entgegensetzte, den Gebrauch unserer Tiere mehr lästig als nützlich machte. Wir reinigten einen Platz von Unterholz und banden dieselben mit dem Lasso, der an einem mexikanischen Sattel nie fehlt, an die Bäume. Von hier drangen wir, mit unseren Macheten uns einen Weg öffnend, Schritt für Schritt weiter in den Wald ein, wobei Herrn Finks alter deutscher Hirschfänger treffliche Dienste leistete. Ich hatte ein großes mexikanisches Bowiemesser, welches, aufgemacht, durch eine Feder im Heft feststehen sollte. Kaum aber waren einige Hiebe getan, als die Klinge zufuhr und mir drei Finger bis auf die Knochen durchschnitt.
   So unbedeutend dieser Vorfall auch war, so musste er mich doch am Schreiben und Zeichnen fühlbar hindern. Ärgerlich setzte ich meinen Weg fort, nachdem ich die Verletzungen mit Urin, einem trefflichen Mittel bei frischen Verwundungen, ausgewaschen und mit meinem Taschentuch verbunden hatte. Mit Hilfe des Herrn Fink wurde der Verband durch Luftwurzeln eines Dragontium befestigt. Mittlerweile war die Sonne auf den Höhepunkt ihres Tageslaufs gekommen. Drückende Schwüle lagerte unter den dichten Baumkronen. Kein Laut als der Schall unserer Hiebe und das Rauschen der fallenden Zweige und Schlingpflanzen unterbrach das geheimnisvolle Schweigen dieser dämmernden Waldesnacht. Kein Lüftchen bewegte die Blätter, unter denen Tausende von Vögeln ihren Mittagsschlaf hielten; kein Atemzug verriet die Nähe der gierigen Räuber, des Jaguar, des Puma und anderer gewaltiger Katzen, welche hier hinter blumigen Teppichen im schattigen Dunkel hausen. Selbst die giftspeiende Korallenschlange späht jetzt vielleicht nach ihrem arglosen Opfer – oder hält auch sie sich mit ihren furchtbaren Schwestern, der Schließschlange und der Klapperschlange, ihre Siesta?
   Große Fährten, in den weichen Boden eingedrückt, geben allein Zeugnis von dem Vorhandensein des größten Säugetieres Amerikas, des Tapirs.
   In demselben Verhältnis, wie momentan die Tierwelt wenig bot, entzückte uns um so mehr die prachtvolle Vegetation. Aus modernden Leichen niedergestürzter Baumriesen erhebt sich ein neues gewaltiges Geschlecht, jugendkräftig über mächtige Farnkräuter und breitblättriges Arum emporstrebend, um bald wieder unter der Umarmung zahlloser Schmarotzer das Schicksal seiner Vorgänger zu teilen. Dort streckt ein greiser Stamm der Spondia purpurea seine nackten Arme, wie Hilfe heischend, den Genossen entgegen, denn tief unten wühlen Termiten und Ameisen, Bohrkäfer jeder Art und Größe in seinem blutroten Holze, bis er krachend zusammenbricht, eine Wurzelhaft für kommende Generationen; während es den wunderlichen Huarumbo (Cecropia) nicht zu irren scheint, dass stets Ameisen seinen Stamm und seine Äste aushöhlen, denn er wächst deshalb ruhig fort.
   So schafft und vernichtet die Natur nach ewigen Gesetzen, bis die klingende Axt des Ansiedlers oder die Lohe die geheimnisvolle Werkstätte zerstört und wogende Saatfelder das Land bedecken, wo einst der Urwald rauschte.
   Wir hatten vollauf zu tun, die zahlreichen Gruppen, die uns näher und ferner umgaben, flüchtig zu betrachten, oder einzelne hervorragende Individuen als köstliche Beute zu gewinnen. Wie lockend winken die prachtvollen purpurfarbenen Blumen einiger Passifloren unter den Silberblüten der Yucca herüber!
   Schwer widersteht man dem Reiz dieser Sirenen. Ein gütiges Geschick hat ja eine Brücke zu ihnen gebahnt! Frisch auf den dicken Stamm, der zu ihren Füßen liegt! Aber die morsche Hülle bricht, und du versinkst bis an den Leib in moderigem Mulm, aus welchem Ameisen und Gewürm jeglicher Art, unheimliche Skorpione und seltsam gestaltete Spinnen aus ihren nächtlichen, dumpfen Klausen hervorwimmeln.
   Im nächsten Augenblick gerät der Freund, der laut lachend die Höllenfahrt mit angesehen und wohlweislich den Baumstrunk umgangen hat, in ein unentwirrbares Chaos zäher Schlingen und doppelhakiger Dornen; die spitzen Widerhaken heilkräftiger Sassaparille lassen nicht los. Da hilft kein Ungestüm, keine Anstrengung aller Kräfte; besonnener Gleichmut, der all die Tausende von Stacheln und Häkchen aus Kleidern und Haaren löst, oder die Schärfe des Eisens können allein den Armen aus dieser peinlichen Lage befreien.
   Gewitzt durch derartiges Missgeschick, und ohnehin halb Invalide, beschränkte ich fortan meine Tätigkeit auf die zunächst wuchernden und blühenden Pflanzen, welche ringsum den feuchten und schlüpfrigen, sehr häufig moorigen Boden bedeckten.
   Nach zweistündiger, sehr genussreicher, aber auch anstrengender Wanderung vernahmen wir das entfernte Rauschen der Gewässer.
   Bald lichtete sich der Wald. Einzelne freie Stellen waren wahrscheinlich durch einen Orkan entstanden, da die Bäume hier massenweise über einander lagen. Auf ihnen brannte die volle verzehrende Glut der Mittagssonne. Endlich standen wir vor einem ziemlich hohen Bergrücken, der über und über mit Vegetation bedeckt war. An seinem Fuß bricht der Atoyac als gigantische Quelle aus Klüften und Höhlen hervor, nachdem er während einer Strecke von vier Leguas das Innere der Erde durchwühlt hat.
   Mit großer Gewalt, als hätte er alle Kraft aufgeboten, seinem dunklen Gefängnis zu entfliehen, schießt der Strom aus dem Berg und bildet davor ein ungefähr fünfzig Fuß im Durchmesser haltendes Becken. Hochstämmige, dichtbelaubte Bäume streuen ihre kühlen, dämmernden Schatten über die klare, kristallhelle Flut. Riesige Mahagonistämme (Switenia) sind von einer Bougainvillea mit rosenroten Blüten ganz überzogen. Zwischendurch reckt die Cedrella cea ihre kegelförmige Krone empor und bildet eine der schönsten Zierden; ihr leichtes und wohlriechendes Holz ist vorzüglich zu verarbeiten. Hier und da steht unter den hochstämmigen Bäumen, dem Eisenholz (Xanthoxylon perota), welches die Mexikaner Quebra hacha (Axtzerbrecher) nennen, weil häufig die besten Äxte an seinem Holz ausspringen, dem Kautschukbaum (Jatropha elastica), dem Copaivabaum (Copaifera officinalis) und manchen anderen eine prächtige Cocoyulepalme oder die Königspalme (Oreodoxa regia), und bringt durch ihre befiederte stolze Krone weiter Abwechslung in das Bild. Nun denke man sich diese schon üppigen Baumgruppen nochmals überzogen von einer anderen Vegetation, dem unendlichen Gewirr der Schlingpflanzen mit den reichen Geschlechtern der Begonien mit ihren prächtigen Blumen, den Bauhinien, den Banisterien und den Passifloren, darunter die Passiflora quadrangularis, der Convolvulus macranthus; zwischen diesem natürlichen Tauwerk wiegen sich die unzähligen Orchideen mit ihren so ungewöhnlich geformten Blüten. Unter diesen bizarren, jetzt von der Mode so begünstigten Schmarotzern erwähne ich eine der schönsten Arten, welche Herr Fink entdeckt und Philocalyx Ghisbrechtii genannt hat. Als ob die Natur aber an der aus dem Pflanzenreich genommenen Farbenpracht noch nicht genug gehabt hätte, klettern noch buntfarbige Papageien und Aras zwischen den Zweigen herum; die feurigroten Cardinale – der große zu den Kernbeißern (Loxia cardinalis), der kleine zu den Fliegenfängern gehörend –, die grünen Pfefferfresser oder Tukans mit ihren kahnförmigen Schnäbeln, und die gelben Calandras (Icterus), welche mit Feuerfunken von Spitze zu Spitze gaukeln, müssen alle dazu beitragen, das Bild mannigfaltiger zu machen. Senken wir den Blick wieder zur Erde, so bietet sich hier nicht minder das Bild des üppigsten Lebens dar, welches sich unter der reichlich vorhandenen Bedingung feuchter Wärme entwickelt hat.
   Ganze Strecken sind von den orangefarbenen Blüten der Aphelandra Broignartii bedeckt; aus ihnen ragen Dragontien mit ihren großen, weißen Blütenkelchen und natürlich durchlöcherten Blättern hervor; dazwischen schlingen sich die dornigen, eckigen Ranken der verschiedenen Sassaparillen (Smilax), die officinelle Jalappe (Convulvulus jalappa), deren Blätter unserem Efeu gleichen, während die roten Blüten dieser Belle-de-Nuit sich nur des nachts öffnen; einzelne Vanilleranken umschlingen die Bäume; ihre jetzt gerade reifen Schoten werden hier aber nur selten von den Indios eingesammelt, weil sie als wilde Vanille (Vaynilla cimarona) weniger geachtet sind. So angenehm es ist, beim Anschauen dieses Naturgemäldes zu verweilen, ebenso ermüdend würde ich für den Leser werden, wollte ich diese flüchtige Aufzählung noch weiter ausdehnen.
   Entzückt über die wunderbare Lieblichkeit des Platzes streckten wir uns ziemlich müde auf das weiche Gras, während große, prachtvolle Schmetterlinge, der glänzende Achilles ganz besonders, uns zahlreich umgaukelten. Ich glaube, es waren seltsame Träume von götterumschirmten, heiligen Quellen, von bleichen Wasserfeen aus den Sagen meiner Heimat, in denen mich des Kapitäns Stimme unterbrach, der, solchen Gefühlen weniger zugänglich, uns ermahnte, den Heimweg anzutreten. Nachdem ich die Temperatur des Wassers gemessen, welche 8 °C betrug, erkletterten wir die verwitterten, oft fast senkrecht abfallenden Felsen so weit, dass wir den gewaltigen Sprudel unter uns und dadurch einen Totaleindruck von dem unvergleichlich schönen Bilde hatten.
   Nach geraumer Zeit rissen wir uns, obwohl mit Widerstreben, von dem zauberhaften Anblick los, und gingen auf dem von uns geöffneten Pfade zurück.
   Die Sonne hatte indessen den Zenit passiert, und auf der Erde war die Zeit der Siesta vorüber. Die vorige Stille des Waldes war nun einem wirren Durcheinander der verschiedenartigsten Laute gewichen. Das äußerst lebhafte Konzert der Vögel erfreute sich einer sehr nachdrücklichen und entsetzlich misstönenden Begleitung, in welche sich Scharen buntfarbiger Papageien und zahllose Affen mit unermüdlichem Eifer teilten. Ein wahrhaft infernalischer Chor! Ich tat mein möglichstes, einige der gefiederten Bewohner in meine Gewalt zu bekommen. Allein man glaubt nicht, wie schwer es ist, in diesen Wäldern zu jagen, wo die Tausende von verschlungenen Pflanzen den Tieren undurchsichtige Verstecke bieten.
   Ist es dem Jäger auch gelungen, das eine oder das andere zu schießen, so muss er sich erst mit größter Anstrengung durch das Dickicht arbeiten, bis er zum Platze gelangt, wo er aber häufig, trotz aufmerksamsten Suchens, die Beute doch nicht zu entdecken imstande ist.
   Meine Gefährten, die wohl auch nicht verwundet waren wie ich, erhielten nach einigen vergeblichen Schüssen zwei sehr schöne Exemplare des roten Ara, einen Specht, den die Mexikaner, wie alle übrigen Spechtarten, Pajaro carpintero (Vogel Zimmermann) nennen – ein Name, den diese Vögel nicht unpassend von ihrer Sitte, die Bäume mit dem harten Schnabel zu zerhacken, erhielten – und verschiedene kleinere Vögel, unter denen sich auch die mexikanische Calandra befand, deren Stimme nicht unangenehm klingt. Hierin übertrifft jedoch die Spottdrossel (Turdus polyglottus) nicht nur alle amerikanischen, sondern auch die besten europäischen Sänger; sie widerlegte mit vielen anderen Vögeln den so allgemein verbreiteten Glauben, dass die Tropen keine vorzüglichen Sänger besäßen. Eigentümliche Laute, welche dem Hub, hub, hub! des europäischen Wiedehopfs (Upupa epops) gleichen, bringt die Prionitis hervor.
   Der Promococcyx phasianellus Bp., ein dem Häherkuckuck (Coccyestes glandarius) verwandter Vogel, dessen Steuerfedern kurz, während die Bürzelfedern sehr entwickelt sind und den Schwanz weit überragen, ist in seiner Stimme auf ein heiseres Gackern beschränkt. Eine neue sehr interessante Vogelspezies ist ein Trogon, welcher über und über aschgrau ist, mit krapproten Hosen, Steiß und Unterschwanzfedern. Seine Stimme, soweit ich dieselbe hörte, ist ein angenehmer, gedehnter, melancholischer Pfiff. Ich habe ihn Trogon erythronotus genannt.
   In kürzerer Zeit, als wir zum Hingehen gebraucht hatten, legten wir den Weg zu dem Platz zurück, wo unsere Pferde angebunden waren. Nach den geistigen Genüssen beanspruchte auch der Körper seine Rechte. Ein kleiner Platz wurde von den Dornen gereinigt und die mitgebrachten Vorräte darauf ausgebreitet. Da bemerkten wir, dass wir unsere Trinkgläser vergessen hatten. Auch hierfür ward Rat geschafft. Eine der prachtvollsten Pflanzen, welche den Wald schmückt und die hier in großer Anzahl wuchs, ist die Heliconia mexicana, von den Franzosen arbre du voyageur genannt. Die Blätter derselben werden vier bis fünf Fuß lang und einen Fuß breit. Sie gleichen denen der Bananen, wachsen aber auf verschiedenen Stängeln aus der Erde; die ganze Pflanze erreicht eine Höhe von zehn bis zwölf Fuß. Aus der Mitte der Blätter erhebt sich der stolz emporstrebende Blütenstängel, an welchem dicht gedrängt, abwechselnd zur Rechten und zur Linken, zehn bis zwölf prachtvolle purpurrote, kahnförmige Samenkapseln sitzen. Der in denselben enthaltende Samen ist unreif weiß und wird später schön königsblau.
   Dadurch, dass in jeder Kapsel sich stets reife und unreife Samen befinden, wird der liebliche Kontrast der Farben bedeutend erhöht. Selbst in der trockensten Jahreszeit sind die genannten Blütenkelche stets mit einem reinen und frischen Wasser angefüllt, und, da jeder derselben ungefähr ein Trinkglas voll enthält, so kann man sich denken, welcher Schatz dies oft für den durstigen Reisenden ist. Daher der französische Name der Pflanze. Von einem der herbeigeholten Blütenstängel schnitten wir die Samenkapsel ab, entfernten mit leichter Mühe daraus die Samenkörner, welche die Größe einer Erbse haben, und schufen uns so graziöse Becher, welcher dem Weine ein feines Aroma verliehen und gewiss auch von zarten Lippen nicht zu verschmähen gewesen wären.
   Nach beendigtem Frühstück setzten wir uns zu Pferde, durchritten aufs Neue die beiden Arme des Atoyac, und bogen dann wieder in den Wald ein.

Müller, J. W., Baron von
Reisen in den Vereinigten Staaten, Canada und Mexico
Leipzig 1864

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Mexiko
Wien 2003

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