Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1845 - Carl B. Heller
Bei den Siedlern von Mirador
Zwischen Veracruz und Mexico City

Alsbald waren wir zu Pferde und zogen den herrlichen Wäldern entgegen. Als wir die Region der Eichen betreten hatten, da durchbebte mich ein eigenes Gefühl bei dem Anblicke dieser immergrünen Wälder, wo kein Winter und kein Sommer, sondern nur ein ewiger Frühling herrscht. Man befindet sich auf einer Höhe von nahe an 3.000 Fuß [915 m] und hat bereits das Reich des gelben Fiebers verlassen. Hier scheint es, als habe die Natur ein zweites Paradies schaffen wollen. Das ewige Grünen und Blühen, die Fruchtbarkeit des Bodens, das angenehme und gesunde Klima, die Ruhe und Abgeschiedenheit von aller Welt machen diese Gegenden zu jenen Punkten, die nur eine lebhafte Phantasie sich vorzustellen im Stande ist. So geschaffen scheinen sie für den Menschen eine unbesiegbare Anziehungskraft zu besitzen, und oft, wenn ich in der Erinnerung an jene Tage schwelge, ergreift mich eine Sehnsucht, ja mehr als das, eine heiße Begierde, diese Gegenden wieder zu schauen, und alles rings herum erscheint mir im Vergleich zu dort wertlos und abgeschmackt. Wohl ist es wahr, dass diese Erinnerungen die gesehenen Bilder mit lebhafteren Farben ausmalen als die Gegenwart, aber jene Erhabenheit und Großartigkeit, jenes stille und doch kräftige Walten der Natur, in das der Mensch noch nicht hineinzupfuschen sich erlaubte, kann man nur dort und sonst nirgends wieder finden.
   Ist man in jene herrlichen Wälder eingetreten, wo der Boden von unzähligen Pflänzchen wimmelt, wo jeder Schritt etwas Neues bietet und selbst die Äste mit den prachtvollsten Parasiten bedeckt sind, wo Tiere jeder Art, keine Feinde kennend, lustig umherstreifen und Insekten summend um die Blüten schwärmen, so kann man mit Recht sagen, dass man sich in jener Gegend befinde, wo keine Gesetze als die der Natur, keine Rechte als die der Vernunft und kein Glaube als der des eigenen Herzens gelte. Da ist man mit einem Male in eine Welt versetzt, die so reizend auf der einen Seite, ihrer Einsamkeit und Verlassenheit wegen auf der andern abstoßend erscheinen mag und von welcher man meistens lieber Beschreibungen liest, als dass man sie selbst besucht und schätzen zu lernen Gelegenheit hat.
   Lange waren wir in diesen schönen Eichenwäldern fort geritten, ohne dass ich mich meiner ungeheuren Müdigkeit erinnert hätte. Erst als wir auf eine kleine Steppe gelangten, ließ ich meinen Blick umherschweifen, um die Gebäude Miradors zu entdecken. Hügel reihten sich an Hügel, dicht bewachsen, einer Wildnis gleich, bis sich mein Auge auf einen lichten Punkt richtete, der sich in der Mitte dieser malerischen Umgebung von der sinkenden Sonne beleuchtet zeigte. Es war dieses das Hauptgebäude der Ansiedlung, von welcher wir noch eine gute Stunde entfernt waren. Als wir uns immer mehr und mehr näherten, fingen üppige Zuckerrohrfelder an, die Eichenwälder zu ersetzen, bessere Wege schlängelten sich durch diese Pflanzungen und mit jedem Schritte wurde man mehr und mehr gewahr, dass hier des Menschen industriöser Geist zu schalten begonnen habe. Jetzt waren wir an die ersten Hütten, welche zerstreut umherliegen, gekommen, und es fehlte uns bloß noch eine kleine Anhöhe, um die Wohnungen der Besitzer zu erreichen. Auch dieses letzte Stückchen Weges war besiegt und wir befanden uns bald an den Türen der Hacienda, wo uns deren Besitzer, wackere Deutsche, freundlich empfingen.
   Die Herren Carl Sartorius und Carl Stein sind es, die sich dort eine neue Heimat gegründet haben. Inmitten der herrlichsten Gegenden, umgeben von einer Anzahl nützlicher Landsleute und Eingeborenen, leben sie ein Leben, welches, würden sie es nicht so sehr verdienen, ich zu beneiden im Stande wäre.
   Ich kann nicht sagen, dass ich von meinem Maultiere abstieg, denn da wir gestern 12 Leguas [66 km] und heute eben so viel zurückgelegt hatten, so war ich, ungewollt des langen Reitens, von der Hitze und den übrigen Beschwerden derart steif geworden, dass man mich vom Sattel heben musste. Bald jedoch mich in dem angenehmen Zirkel der deutschen Bewohner Miradors befindend, mit Fragen über Europa und unser Vaterland überhäuft, konnte ich nicht länger an meine Müdigkeit denken, sondern verschwätzte gemeinschaftlich mit Herrn Hartweg [dem Reisegefährten], der schon auf seiner ersten Reise hier gewesen war, die Zeit so rasch und angenehm, dass mir die Ruhestunde, obgleich erwünscht, doch noch immer früh genug kam.
   Ein eigenes Zimmer, für Fremde bestimmt, beherbergte uns mit aller Bequemlichkeit und stets werde ich mich dieser gastfreundlichen Aufnahme mit dankbarem Gefühle erinnern.
   Mirador ist so wie Zacuapan, welches eine Stunde östlich davon liegt, von Herrn Sartorius gegründet. Die Einwohner sind, außer dem zur Direktion notwendigen deutschen Personale, größtenteils Indianer oder Mestizen, ungefähr 300 an der Zahl, die zerstreut in aus Holzstangen erbauten Hütten wohnen und sämtlich auf der Hacienda in Arbeit stehen. Dieses kleine Völkchen, entfernt von großen Städten lebend, ist ausnehmend gut und arbeitsam, und Diebstähle, die in jedem andern Teile von Mexiko so häufig vorfallen, gehören zu den Seltenheiten. Doch ist auch hier wie überall sonntags Trunk und Spiel das herrschende Laster, dem vorzüglich in Mexiko keine Autorität kräftig genug entgegenzutreten im Stande ist. Ist aber dieser Tag vorbei, so kehrt alles wieder emsig zum Bebauen der Zuckerrohrfelder, zum Holzfällen, zur Erzeugung von Rum und zu den andern Arbeiten zurück.
   Auf einer kleinen Anhöhe liegen die aus Stein erbauten Häuser, 3.500 Fuß über der Meeresfläche, welche von den beiden oben erwähnten Familien bewohnt werden und wo sich auch zu gleicher Zeit eine Tienda [ein Laden] befindet, welche alle notwendigen Artikel für die Ansiedlung führt. Ein kleiner Markt vermehrt noch die Lebhaftigkeit des Ortes und erleichtert bedeutend den Verkehr mit der Umgebung und den Austausch der Landesprodukte.
   Was die Deutschen dieser Ansiedlung betrifft, so ist ihre Anzahl größer, als ich sie irgendwo in Mexiko, die Hauptstadt ausgenommen, gefunden habe. Die Handwerke werden von ihnen durchgehends vertreten, nebst dem das Herr Sartorius und Herr Stein sich für die direktiven Arbeiten noch eine Anzahl junger gebildeter Leute an die Seite stellten, die dem Reisenden nicht nur eine angenehme, sondern auch belehrende Gesellschaft zu bieten im Stande sind.
   Außer Mirador befinden sich aber noch im Umkreise von wenigen Meilen mehrere deutsche Besitzungen, von welchen ich vorläufig bloß Zacuapan, im Besitze des Herrn Baetke, die Kaffeeplantage Mocca des Herrn Doktor Eichhorn und die kleine Hacienda Esperanza des Herrn Ettlinger erwähnen will.
   Um den Faden der Tagesbegebenheiten wieder anzuknüpfen, ist es notwendig, dass ich die freundliche Einladung des Herrn Sartorius erwähne, bei ihm so lange Tisch und Wohnung annehmen zu wollen, bis ich mir einen eigenen Wohnort gewählt haben würde, was ich sogleich nach Abreise des Herrn Hartweg, welcher seine Reise von hier nach Kalifornien fortsetzte, zu tun beschloss.
   Am folgenden Morgen beschränkte ich mich, von den letzten zwei Tagereisen noch ganz steif und müde, auf die nächste Umgebung der Gebäude, von welchen aus ich bei Sonnenaufgang eine herrliche Aussicht genoss.
   In nordwestlicher Richtung zog sich die majestätische Kette der Gebirge hin. In ihrer Mitte hob der Vulkan Orizaba sein schneebedecktes Haupt empor und der längst ersehnte Anblick dieses kolossalen Berges ward mir nun endlich zuteil.
   Es ist mir nicht möglich, den Eindruck zu beschreiben, welchen dieses großartige Schauspiel auf mich machte. Bezaubert stand ich lange Zeit unbeweglich in stiller Bewunderung versunken, hinstarrend nach jener Richtung, entzückt von den unzähligen Farben, die die Strahlen der Morgensonne auf den mächtigen Schneefeldern erzeugten, und wagte nicht meinen Blick davon abzuwenden, fürchtend, es sei dieses ein übernatürliches Bild, welches für immer wieder verschwinden könne. Wer dieses großartige Schauspiel nicht gesehen hat, kann sich nicht schmeicheln, das schönste, was unsere Erde zu bieten im Stande ist, gesehen zu haben.
   Weiterhin nach Nordwest, ungefähr in einer geraden Entfernung von 15 Stunden, erhebt sich die zweite Spitze, der Vulkan Perote. Nach Osten und Südosten dehnen sich eine Menge immer niedriger werdender Hügel aus, welche sich nach und nach abflachen und als ihre Grenze deutlich den Ozean erkennen lassen. Ja die Durchsichtigkeit der Luft geht so weit, dass man selbst mit freiem Auge die 24 Leguas [ca. 130 km] entfernten Mauern von Veracruz deutlich unterscheiden kann. Nur eine sehr lebhafte Vorstellungskraft vermag zu begreifen, welches Entzücken mich bei diesem Rundblicke erfüllte. Ich kann es nur mit jenem vergleichen, welches mich beseelte, als ich in unseren Alpen zum ersten Male von ihren schneebedeckten Spitzen eine umfangreiche Aussicht genoss. Die Brust hob sich mir höher, als ich mich überzeugt hatte, dass ich mich in einer Gegend befand, die meinen kühnsten Erwartungen entspreche, und ich sehnte mich nach dem Augenblicke, ein tätiges Leben entwickeln zu können.
   Erst als mein ganzes Gepäck angekommen war, konnte ich ernstlich daran denken, mir einen Punkt zum Wohnort auszuwählen. Es war dieses eine etwas verfallene Hütte, welche ich mir frisch herzurichten beschloss, und die eine Viertelstunde von den Hauptgebäuden Miradors entfernt lag. Einige Indianer, die nach ihrer Art die besten Baumeister sind, hatten in kurzer Zeit die Wände aus Baumstämmen angefertigt, einen Zaun ringsherum errichtet, den Boden im Innern der Hütte festgestampft und der deutsche Zimmermann hatte sie mit einer rohen Türe versehen. Die innere Ausschmückung, da, wie leicht denkbar, zwischen den Baumstämmen Sonne und Mond leicht durchscheint, besorgte ich mir selbst. Es dienten mir dazu einige Bastdecken (Petates), mit welchen ich die Wände verkleidete, ein einfaches Feldbett, ein ebenso einfacher Tisch und eine Bank, deren Füße in den Boden eingeschlagen waren. An den Wänden hingen meine Requisiten und in einer Ecke stand ein kleines, aus Rohr angefertigtes Gestell, zur Trocknung der Samen und Pflanzen bestimmt.
   In weniger als acht Tagen war dieses gemütliche Häuschen, zu dessen Bau man auch nicht einen einzigen eisernen Nagel gebraucht hatte, mit geringen Kosten errichtet und bereit, mich aufzunehmen. Während der Zeit dieses Baues konnte natürlich nur wenig an botanische Ausflüge gedacht werden, ich beschränkte mich daher anfänglich bloß auf kleine Spaziergänge mit Herrn Hartweg, bis dieser uns am 28. November verließ und ich mir allein überlassen blieb. Ich begleitete ihn bis an die Grenzen des Gebietes von Mirador und muss gestehen, dass mir der Abschied von diesem meinem wackeren Reisegefährten sehr schwer fiel. Wer auch würde in einem solchen Augenblicke gleichgültig geblieben sein? Eilte er doch so gut wie ich einem Leben entgegen, welches nicht die geringste Bürgschaft gab, uns je wieder sehen zu können! Mit feuchten Augen drückten wir uns die Hände und schieden für lange Zeit voneinander.
   Am 30. November bezog ich mein Häuschen und versuchte zum ersten Mal das Leben in voller Einsamkeit. Der Abend kam heran, stille näherte ich mich meinem Lager und träumte die Nacht von unzähligen Tieren, die mir durch alle Fugen und Ritzen herein zu kriechen schienen mit solcher Lebhaftigkeit, dass ich oft aus dem Schlafe auffuhr und mich dieser unangenehmen Gäste zu erwehren suchte. So groß ist nämlich anfangs die Vorstellung von dem giftigen Geziefer, dass man sich erst nach und nach überzeugt, wie sehr man sich getäuscht und wie wenig man eigentlich davon zu fürchten habe. Doch, glaube ich, wird niemand über dieses offene Geständnis meiner Schwäche lächeln, wenn er sich aus der Mitte einer bevölkerten Stadt in die Einsamkeit eines tropischen Landes versetzt denkt.
   Schon nach wenigen Tagen fühlte ich mich in meiner Behausung so heimisch, dass ich die Bequemlichkeiten der Städte mit Leichtigkeit entbehrte.
   
Heller, Carl Bartholomäus
Reisen in Mexiko 1845-1848
Leipzig 1853

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Mexiko
Wien 2003

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!