Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 1075 - Adam von Bremen
Von den Inseln des Nordens

Jenseits von Nordmannien [Norwegen], dem äußersten Lande des Nordens, findet man keine Spur eines menschlichen Aufenthaltes, nur den furchtbaren Anblick des unendlichen, die ganze Welt umfassenden Ozeans. Darin liegen, Nordmannien gegenüber, viele, nicht unberühmte Inseln, welche jetzt fast alle den Nordmännern gehören, und deswegen von mir nicht übergangen werden können, weil sie mit zum Hamburger Sprengel gehören. Die ersten sind die orchadischen Inseln [Orkneys], von den Barbaren Organen genannt. Sie liegen wie die Cycladen im Ozean zerstreut. Von der nordmannischen Stadt Trondheim soll man in einem Tage dahin fahren können.
   Die Insel Thule, die unendlich weit von den übrigen abgesondert im Ozean liegt, ist der Sage nach kaum bekannt. Von den römischen Schriftstellern und den Barbaren [aber] wird davon vieles der Erzählung Würdiges angeführt. Thule nennen sie die allerentfernteste Insel, wo man zur Zeit der Sommersonnenwende, wenn die Sonne durch das Zeichen des Krebses geht, keine Nacht und um die Wintersonnenwende keinen Tag habe. Diese dauere ihrer Meinung nach sechs Monate. Auch Beda [englischer Mönch und Chronist um 700] schreibt, dass die hellen Sommernächte in Britannien unstreitig zum Beweis dienen, dass, wenn die Bewohner der Polarländer zur Zeit der Sommersonnenwende sechs Monate lang Tag haben, sie auch umgekehrt um die Wintersonnenwende ebenso lange Nächte haben müssen. Pytheas von Massilia [aus dem heutigen Marseille, bereiste den Nordatlantik und die Nordsee um 325 v. Chr.] schreibt, dass dieses auch auf der Insel Thule, welche sechs Tagesreisen zur See nach Norden von Britannien entfernt läge, der Fall sei.
   Diese Insel Thule wird jetzt Island nach dem Eis genannt, das den Ozean dort verschließt, wobei noch diese Merkwürdigkeit angegeben wird: dass das Eis dort seines Alters wegen so schwarz und trocken erscheint, dass es angezündet brennt. [Auf Island gibt es Kohlevorkommen.] Die Insel ist sehr groß, so dass viele Völker sie innehaben, die allein von den Erzeugnissen des Viehs leben und sich mit dessen Fellen bekleiden. Das Land trägt keine Früchte, hat nur wenig Holz und die Menschen wohnen in unterirdischen Höhlen, wo sie Dach, Nahrung und Lager mit ihrem Vieh teilen. Ihre Lebensart ist demnach so einfach wie fromm, weil sie sich mit dem, was die Natur gibt, begnügen, und froh mit dem Apostel sagen können: »Wenn wir Nahrung und Kleider haben, lasst uns zufrieden sein.« Ihre Berge sind ihre Städte und ihre Quellen ihre Ergötzlichkeiten. Welch ein glückliches, seiner Armut wegen von niemandem beneidetes Volk, dessen höchste Glückseligkeit darauf beruht, dass es jetzt allgemein den christlichen Glauben angenommen hat. Unter ihren vielen guten Sitten zeichnet sie ein liebevoller Charakter höchst vorteilhaft aus; weshalb sie auch alles Ihrige mit Fremden und Einheimischen teilen. Ihr Bischof ist ihr König, dessen Wink das ganze Volk befolgt. Alles, was er nach den Gewohnheiten anderer Völker anordnet, wird wie gesetzlich von ihnen befolgt.
   Noch gibt es viele andere Inseln im Ozean, worunter Grönland keine der kleinsten ist, die noch tiefer im Meere dem suedischen oder rhipäischen Gebirge [einem sagenhaften Gebirge am Rande der Welt] gegenüberliegt. Nach dieser Insel soll man so wie nach Island in von der nordmannischen Küste in fünf oder sieben Tagen segeln. Die Menschen daselbst haben vom Meere die dunkelgrünliche Farbe, woher auch diese Gegend ihren Namen führt. Ihre Lebensweise ist wie die der Isländer; nur dass sie grausamer sind und das Meer durch ihre Seeräubereien beunruhigen. Auch sie sollen der Sage nach kürzlich das Christentum angenommen haben.
  Die dritte Insel ist Halagland [Nordnorwegen, das Adam als Insel galt], welche Nordmannien näher liegt, an Größe aber den übrigen beiden nichts nachgibt. Hier geht die Sonne im Sommer zur Zeit der Sonnenwende in vierzehn Tagen nicht unter, und im Winter, zur Sonnenwendezeit in ebenso vielen Tagen nicht auf, eine den Barbaren staunenswerte und unerklärbare Erscheinung, weil sie nicht wissen, dass die ungleiche Länge der Tage durch die Nähe und Entfernung der Sonne bewirkt wird. Denn weil die Erde rund ist, so muss der Lauf der Sonne um die Erde der einen Seite Tag bringen und der anderen Nacht zurücklassen. So wie sie zur Zeit der Sommersonnenwende hinaufrückt, so geht sie zur Zeit der Wintersonnenwende nach Süden wieder hinunter. Die hierin unwissenden Heiden hielten jenes Land, das den Sterblichen solche Wunder darbietet, für heilig und glücklich. Der König der Dänen versicherte mir, dass neben vielen anderen Dingen dieses sich in Schweden, Norwegen und auf den übrigen dortigen Inseln ereigne.
   Außerdem erwähnt er eine Insel von vielen in jenem Ozean entdeckten, Vinland daher genannt, weil der Weinstock daselbst ohne Bearbeitung wächst und den besten Wein hervorbringt. Denn dass diese Insel ohne Aussaat einen Überfluss an Früchten hervorbringt, gehört keineswegs zu den fabelhaften Meinungen, sondern ich verdanke diese Nachricht den zuverlässigen Erzählungen der Dänen. Weiter über diese Insel hinaus findet man kein bewohnbares Land, sondern alles mit undurchdringlichem Eise und ewiger Nacht bedeckt.

Bremen, Adam von
Geschichte der Ausbreitung der christlichen Religion durch die hamburgische und bremische Kirche in dem benachbarten Norden von Karls des Großen bis zu Heinrichs IV. Zeiten
Bremen 1825; Faksimiledruck Bremen 1987

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009

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