Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1928 - Clärenore Stinnes
Die Fahrt über den Baikalsee

Aus der Heimat sandten uns Freunde und Landeskenner Telegramme, um uns zur Umkehr zu bewegen. Man betrachtete unsere Lage viel aussichtsloser als wir, und die Sachverständigen bezeugten, daß wir vor Mitte Juni 1928 die Fahrt in Sibirien nicht wieder würden aufnehmen können. Unsere Hoffnung aber lag seit dem ersten Wintertag auf dem Eis, und darauf warteten wir in Irkutsk. Die Fahrt über den Baikalsee mit dem Auto war die entscheidende Lösung für unser Fortkommen.
    Um den 20. Januar 1928 nahm das Eis gewaltig zu und mit ihm unsere Hoffnung. Große und kleine Eisschollen stießen und rieben sich bei ihrer rasenden Fahrt auf dem Rücken des Stromes aneinander. In seinen Biegungen stauten sie sich übereinander, türmten sich auf, stürzten in sich zusammen und trieben weiter. Immer mehr Eis und Eis! Die Angara und der Jenissej, beides Flüsse, die wegen ihrer gewaltigen Strömung niemals zufrieren, kommen im Winter doch zum Stehen durch das Staueis. Teils treibt dieses vom Baikal herunter, teils werden die Blöcke, die sich durch die Kälte des Bodens auf dem Grund bilden, losgerissen und steigen empor. Alle diese unendlich vielen weißen Massen finden einen Halt am Eismeer. Dort frieren sie dann zusammen bis zum Baikal hinauf. Doch viele offengebliebene Stellen in diesem zusammengetriebenen und durch die Willkür des Stromes zusammengepreßten Eis zeigten die Macht des Wassers, das - nicht gefrierend - unter der Decke weiterströmt. Selbst „Vater Baikal“ kann erst gefrieren, wenn das Eis der Angara sich bis zum See herangeschoben hat. Die Ausmündung des Flusses, der den einzigen Ablauf des von 300 Flüssen gespeisten Baikalsees bildet, bleibt Jahr für Jahr offen.
    An einem Sonnabend wichen die dichten Nebelwolken, die über dem Fluß bei Irkutsk gelagert hatten, seitdem der Frost ihn zum Halten hatte zwingen wollen. Das raschelnde Geräusch des Eises verstummte. Es kam der letzte polternde Ansturm der jagenden Eisblöcke. Die eben noch fast glatte Eisfläche der nebeneinanderliegenden Massen begann vor unseren Augen zu brodeln und zu brechen, trieb aufeinander und preßte sich in hohen Torsos, abgesplitterten Eisblöcken empor, zerbrach noch einmal und wurde durch die nachfolgenden Eismassen wieder aufgebaut. Dann trat Totenstille ein. Für diesen Winter hatte das Eis seinen Platz gefunden. Ein großartiges Schauspiel, dem jedoch alljährlich viele Menschen und Sachwerte zum Opfer fallen. Nicht nur der Leichtsinnige, der zu früh das Eis betritt und einem trügerischen Stillstand vertraut, muß dafür büßen, sondern auch weite Strecken des Landes an den Ufern des Flusses werden durch die Wassermassen überschwemmt, die unter dem gestauten Eis nicht mehr Platz finden.
    Wie gefährlich dies war, bewies unsere erste Erkundungsfahrt, die wir zum Baikalsee machten. Diese Fahrt erschien uns notwendig, um mit den dort lebenden Bauern in Verbindung zu kommen und zu erfragen, wann und von welcher Stelle aus in diesem Jahr (1928) der See voraussichtlich für eine Überfahrt geeignet sein würde. Wir wollten unter allen Umständen diese Überquerung machen, trotz aller Warnungen der Leute, die den vulkanischen Charakter des Sees kannten. Die größte Gefahr bestand in den Spalten, die plötzlich - drei bis fünf Meter breit - bestanden, um sich später freilich wieder zuzuziehen und einzufrieren.
    Mitte Januar 1928 unternahmen wir von Irkutsk aus diese Erkundungsfahrt. Unseren Weg von siebzig Kilometer Länge legten wir bis zum Nachmittag zurück, nicht ohne verschiedentlich in dem eineinhalb Meter hohen Schnee und in den Schneeverwehungen stecken zu bleiben. Wir übernachteten in Listwjanka bei dem Leiter einer dortigen kleinen Fabrik. Da dieser in der Lage war, uns alle erforderliche Auskunft zu erteilen, konnten wir bereits am nächsten Tag den Rückweg antreten.
    Wir folgten dem Lauf der Angara. Dreißig Kilometer hinter Listwjanka strömte uns Wasser entgegen, welches - so weit wir sehen konnten - den Weg überschwemmt hatte. Durch das Staueis im Flusse war das Bett zu eng geworden, und die nachströmenden Wassermassen hatten das Land kilometerweit überflutet, bis an den Fuß des Baikalgebirges. Die Hoffnung nicht aufgebend, daß wir dennoch durchkommen würden, fuhren wir etwa einen Kilometer weiter. Das bis zu den Trittbrettern des Wagens reichende Wasser spritzte wie Vogelschwingen nach beiden Seiten auseinander. Dann kamen wir in ein Überschwemmungsgebiet, das bereits in der vorangegangenen Nacht entstanden sein mußte, denn es hatte sich schon eine Eisschicht auf dem Wasser gebildet. Söderström setzte sich auf die Motorhaube, um bei der Weiterfahrt aufzupassen, daß die Eisdecke nicht den Kühler zerschnitt. Anlauf nehmend, brachen wir uns stoßweise eine Spur. So hatten wir etwa 500 Meter zurückgelegt und konnten schon hinter der Eisfläche festen Boden sehen, als uns ein Bauer entgegenjagte: „Kehren Sie um!" rief er uns schon von weitem entgegen, seine Worte durch Gesten unterstützend. Sein keuchendes Pferd neben uns parierend, das bis zu den Knien im Eis einbrach und dem Blut rot von den zerschnittenen Beinen tropfte, erklärte er uns: „Viel mehr Wasser kommt hinter mir her!" Dann spornte er sein bebendes Tier neu an und jagte fort.
   Uns blieb nichts anderes übrig, als mit Vollgas in unserer mühsam gebahnten Spur rückwärts zu fahren, bis wieder fester Boden vorhanden war, auf dem wir wenden konnten. Hinter uns sahen wir schon über die Eisfläche, die wir eben durchbrochen hatten, rauschend neues Wasser strömen, und schnellstens ergriffen wir die Flucht. Doch auch auf dem Weg, den wir soeben erst gekommen waren, drang es jetzt vom Fluß herauf, und die ersten Wassermassen erreichten unseren Wagen, noch bevor wir höhergelegenes Land antrafen. 15 Kilometer mußten wir zurückfahren, bis wir ein kleines Dorf erreichten, in dem wir drei Tage zu warten hatten, bis das Überschwemmungsgebiet zugefroren und die Eisdecke so tragfähig geworden war, daß wir nach Irkutsk zurückkehren konnten…
   Wir fuhren mit dem Auto von unserem Bauernhof kaum auf das Eis, mit der Überquerung beginnend, als ein lautes Donnern von Süden heranrollte und hell singend an uns vorbeizog. Eine klaffende Spalte öffnete sich hundert Meter vor dem Dorf in einer Länge von mehreren Kilometern. Eine Schlittenkarawane, die gerade in der Gefahrenzone war, konnte sich nur mit Mühe retten. Doch der See wollte sein Opfer. Unter dem letzten Schlitten brach das Eis, und er stürzte in die Spalte, das sich bäumende Pferd mitreißend, das an das vordere Gefährt angebunden war. Der Junge, welcher den Transport führte, hatte gerade noch Zeit, den Strick durchzuschneiden, sonst wäre das Unglück verdoppelt worden. Dann war wieder alles ruhig; auf drei Meter Breite blinkte das tückische Wasser zwischen den klaffenden Spalten des Eises in der Sonne.
    Unsere Fahrtrichtung wurde dadurch gestört. Wir mußten uns einen neuen Weg am Ufer entlang suchen, immer den Spalt umfahrend, bis wir eine Stelle gefunden hatten, auf der wir die Schlittenspuren des Fischtransports wiederfanden, denn ihnen mußten wir für die Überquerung folgen. Die größten Schwierigkeiten waren die Torsofelder der zusammengepreßten Eismassen, die uns zwangen, mit Pickel und Beil erst einen Weg zu schlagen. Immerwährend krachte der See, die Luft wie mit fernem Geschützfeuer erfüllend, in den Bergen widerhallend. Von Süden nach Norden rollte es heran, wie Scheibenklirren sprang das Geräusch unter unseren Füßen weiter, hier und da öffnete sich das Eis in Zentimeterbreite, das Wasser sickerte durch ... Wir durften uns keine Zeit nehmen, darauf zu achten, denn wir wollten hinüber. Es waren noch fünfzig Kilometer auf dem See, dem Ufer folgend, zurückzulegen, bis wir im rechten Winkel abbogen, um auf die andere Seite zu gelangen.
    Ich geriet auf der Fahrt in eine Eisspalte, die einen halben Meter breit war, doch der Schwung, den der Wagen hatte, und sofortiges Vollgas ließen ihn mit schweren Stößen hinüberspringen. Rechts und links klatschte das Wasser auf das Eis, doch das Schicksal hatte es wieder gut mit uns gemeint. Wie viele kleine Spalten wir passierten, weiß ich nicht mehr, denn wir nahmen sie alle in voller Fahrt. Bedeutend unangenehmer waren die bereits erwähnten Torsofelder, die wir inmitten des Sees verschiedentlich antrafen und deren Blöcke und Spitzen sich bis zu Haushöhe übereinandergeschoben hatten.
    Nach vierzig Kilometer Fahrt erreichten wir das Deltagebiet der Selengamündung. Die gefährlichste Strecke war überstanden. Das Eis wurde schön und glatt, und zu unserer Freude konnten wir auf dem Fluß unsere Fahrt fortsetzen bis Kabansk, wo wir übernachteten.

Stinnes, Cläronore
Im Auto durch zwei Welten – Die erste Autofahrt einer Frau um die Welt 1927 – 1929
Wien 1996; mit freundlicher Genehmigung des Verlages Promedia

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