Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1873 - Nasreddin, Schah von Persien
Ein Ball beim Zaren
St. Petersburg

In der vergangenen Nacht gaben sie mir zu Ehren im Palast des Zaren einen großen Ball. Dolmetscher Kerbel hatte mir schon Stunden zuvor von den Vorbereitungen des Festes erzählt. Seinen Schilderungen nach mußte ich annehmen, daß es von den schönen Mädchen des Paradieses selbst arrangiert würde. Gleich am ersten Tag hatten sie mich zu einem Tanzfest geladen, das meinetwegen von der Hofgesellschaft veranstaltet worden war. Aber ich hatte damals nur so meine Nase in den mit Menschen vollgepfropften Saal gesteckt und mich nach einer halben Stunde wieder davongemacht, was ihnen gar nicht so recht gewesen sein soll. Warum auch mußten sie einem von der Eisenbahnfahrt so gemarterten Mann gleich zumuten, ihnen mit seinen geschundenen Gliedern zuzuschauen?
    Dem gestrigen Fest konnte ich jedoch nicht ausweichen. Ich hatte es dem Zaren, der viel Nachsicht mit mir übt, fest zugesagt. So ging ich mit Riza Kuli-Mirza, der mir mit seinen Kenntnissen der einzelnen Persönlichkeiten behilflich sein sollte, und den anderen Prinzen meines Hofes zum Ball.
    Schon in den Vorhallen des Palastes, die ich von meiner »Eremitage« aus zu passieren hatte, herrschte ein buntbewegtes Treiben. Die Tür zum Salon wurde von zwei mächtigen Kerlen in russischen Nationaltrachten bewacht. Der erste Blick in den vor mir liegenden endlos lang wirkenden Saal mit seinen zahllosen Lichtern und dem Spiel des Widerscheins in den riesigen Spiegeln war überwältigend.
    Der Zar und seine Gemahlin hießen mich willkommen und schritten mit mir durch lange Reihen brillant herausgeputzter Männlein und Weiblein, hinter uns die Prinzen des russischen Hofes. Wir gingen auf den für mich bestimmten Sitz zu, der sich vor einem mächtig glitzernden Pfauenrad erhob. Das Monarchenpaar nahm zu meinen Seiten Platz.
    Wie da Hunderte von Augen auf mich starrten, auf mich und meine Edelsteine - denn ich hatte einen meiner großartigen Rubine aus Delhi auf meinen Leibrock geheftet. Das Gewoge der Männer und Frauen, die ihre Schmuckkästen allem Anschein nach bis auf den Grund geleert hatten, stimmte mich heiter. Vor der Fülle von Orden bekam man die Männerbrüste gar nicht zu sehen. Um so mehr gewährten die Frauen einen umfassenden Einblick, da sie ihre »Zierden« nicht zu verbergen trachteten.
    Das ist wieder so eine Sitte der Ungläubigen, bei Festen in der Nacht möglichst viel an Naturreizen zu zeigen. Und letztlich wird diese Sitte von den Schneidern weitgehend unterstützt. Bei uns würde es keine Sighe (Nebenfrau, Konkubine) wagen, selbst im Harem ihres Herrn mit einem solch entblößten Oberkörper aufzutreten, wie es diese Frauen der Fürsten und Potentaten dieses Reiches angesichts von aberhundert fremden Männern zu tun pflegen. Nach unten packen sie Stoff auf Stoff, die Frauen der Ungläubigen, und hängen in Überfülle um Beine und Schenkel, was sie dem Oberkörper wegnehmen. Ihre nackten Arme und Busen, nur stellenweise von Schmuck bedeckt, dazu noch unverschleierten Gesichts, führen ohne Unterbrechung einen regelrechten Ringkampf mit einer erstickenden Woge von Seide, Samt oder Spitzen, in die der übrige Körper hineingeraten ist. Das soll nun nach ihrer Meinung schön sein.
    Über Mangel an begierigen Zuschauern brauchen sich die zur Schau gestellten Reize nicht zu beklagen. Man muß den Männern schon zugestehen, daß sie das Recht haben, der offensichtlichen Aufforderung sehr gründlich nachzukommen. So sah ich auch dort, wo die Formen besonders einladend waren, die tiefsten Blicke von Männeraugen. Ich brachte es anfänglich nicht übers Herz, es ebenso zu halten, nahm aber bald mein Lorgnon und genierte mich nicht, dem allgemeinen Zug zu folgen. Da begegnete ich mancher süßen Erscheinung, manchem dunklen Auge mit herausforderndem Schimmer, manchem schönen, weißen Nacken, aber auch viel Unechtem an Gesichtsfarben und Haarfülle. Hätte ich die Sprache dieses Volke wie Riza Kuli-Mirza, oder auch nur das hier so kunstvoll gesäuselte Französisch beherrscht, meine Zunge hätte einigen zitternden Elfenblicken in ihren heißen Wünschen sicher geholfen. Die Briefe, die ich heute auf meinem Tisch liegen habe, sprechen sehr deutlich dafür.
    Als wir einige Zeit im Saal waren, begann das, was sie Tanz nennen. Zu meinem nicht geringen Erstaunen machte der Zar selbst den Anfang. Dabei hängte sich die Frau seines zweiten Sohnes an seinen Arm. Was meine Perser wohl sagen würden, wenn sie ihren Schah-in-Schah mit einem seiner Weiber öffentlich zum Tanz gehen sähen? Einfach unvorstellbar! Was für einen Wirbel sie da veranstalten! In langen, sich drehenden Reihen laufen sie hin und her, neigen sich vor und wieder zurück, drehen die Hälse nach allen Richtungen und sind schließlich tropfnaß und in Schweiß gebadet, die Frauen vom Kampf mit ihren Kleiderbergen und die Männer, darunter auch nicht mehr die Jüngsten, von harter Arbeit. Ist diese Anstrengung der Hände und Füße wirklich ein Vergnügen? Sie behaupten es zumindest. Der Höhepunkt eines jeden Festes, meint Riza Kuli-Mirza, kann einfach nur ein solcher Ball sein. Ob nun das gewöhnliche Volk oder der Adel eine Freudennacht veranstaltet, es muß auf jeden Fall eine Nacht voller Schwerarbeit sein, soll man sie wie diese hier in bester Erinnerung behalten.
    Bei einem Riesenkreisel, wie sie ihn mir zu Ehren aufführten, ruinieren sie ihre schönsten Kleider, vergeuden ihren süßen Schlaf und strapazieren ihre Atmungsorgane. Wie wenig Anmut sie schließlich dem Betrachter zeigen! Der wohlgeformteste Körper einer Frau muß doch in diesen weit ausladenden, mit Reifen versteiften Behältern, die sie als Abend- und Tanzrobe bezeichnen, zugrunde gerichtet werden. Wo soll sich dem Auge noch ein wohlgefälliger Blick bieten? Etwa in diesem wilden Chaos von Frackschößen, von Waffenröcken und herumschleifenden Schleppen?
    Welch ein Taumel! Welch ein Abend! Mir reichte es bald. So war ich heilfroh, nach einigen Tänzen in den angrenzenden Speisesaal hinüberwechseln zu können, den man in einen Palmenwald verwandelt und mit einer Fülle von guten und süßen Sachen ausgestattet hatte. Ich sprach den Leckereien tüchtig zu.
    Als ich dann eine Stunde nach Mitternacht das Fest verließ, waren fast alle noch mitten in der harten Arbeit drin, die sie mit bewundernswerter Beharrlichkeit bis in die Morgendämmerung hinein verrichten wollten. Staubschleier, über die großartigen Lüster dahinschwebend, zeigten an, wie weit diese Arbeit schon vorangeschritten war.
    Längst auf meinen seidenen Polstern ruhend, beschäftigte mich immer noch der unfaßliche Gedanke, welche Anziehungskraft ein solches Fest wohl auszuüben vermag. In meinen Träumen spielten schwebende Frauenschleppen und kreisende Männerbeine ganze Kaskaden wirrer Brandungen, die über mich hereinzustürzen drohten. Aus dem wirbelnden Menschengewühl loderten mir zwei schwarze Augen entgegen, die meiner Erinnerung nach einer rassigen Tscherkessin, der Frau eines Großfürsten, gehören mußten.
    Und wenn ich mich heute abend vom Zaren und seinem Hof verabschiedet haben werde, geht es in ein anderes Land der Ungläubigen. Für die bevorstehenden Anstrengungen braucht mein Körper alle Kraft.

Nasreddin Schah
Ruzname – Reisetagebuch
Leipzig 1874

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