812 - Philippe Paul Graf von Ségur
Der Rückzug: Wieder auf dem Schlachtfeld von Borodino
Von der Kologha zog man nachdenklich weiter fort, als plötzlich einige von uns einen Schrei des Entsetzens ausstießen und dadurch die Aufmerksamkeit eines jeden weckten. Ein eingestampftes, nacktes, verwüstetes Feld lag vor uns! Alle Bäume waren einige Schuh vom Boden abgehauen, die Kuppen der Hügel im Hintergrunde zum Teil abgestreift. Der höchste von allen schien am meisten entstellt und glich einem ausgebrannten, geborstenen Vulkan. In seinem Bereich war der Boden mit Stücken von Helmen und Kürassen, von Trommeln und Gewehrschäften, mit blutbefleckten Fetzen von Kriegsgewändern und Fahnen besät.
Auf diesem verheerten Felde lagen dreißigtausend halbverweste Leichname. Einige Gerippe auf dem Geröll eines Hügels überragten das Ganze; der Tod schien dort seinen Herrschersitz aufgeschlagen zu haben. Es war dies jene furchtbare Redoute, die Eroberung und das Grabmal von Caulaincourt. Der Ruf »der Walplatz der großen Schlacht!« scholl jetzt in einem traurigen und langen Gemurmel. Der Kaiser sputete sich; von der Kälte, dem Hunger und dem Feinde getrieben, hielt sich niemand auf; im Gehen warf man noch einen letzten traurigen Blick rückwärts auf dieses ungeheure Grab so vieler Waffengefährten, die, zwecklos hingeopfert, zurückgelassen werden mußten.
Hier hatten wir mit blutigem Schwert ein großes, großes Blatt unserer Geschichte beschrieben. Einige schnell vergängliche Trümmer zeugten noch davon. Gleichgültig könnte vielleicht der Wanderer einst über dieses Feld ziehen, das aussieht wie jedes andere. Wenn er aber erfährt, daß hier die große Schlacht geschlagen worden, so verweilt er gewiß, um dasselbe genau zu besehen, um jede Zufälligkeit des Bodens sich in das Gedächtnis zu prägen. Dann ruft er ohne Zweifel aus: welche Menschen! welcher Anführer! welches Schicksal! Dieselben Menschen hatten dreizehn Jahre früher von Süden her über Ägypten den Krieg nach dem Orient getragen und nichts gegen die Pforten desselben vermocht! Nach diesem haben sie Europa erobert und hierauf vom Norden her Asien zu fassen gesucht, wo ihre Macht zum zweiten Mal zerronnen ist! Wer hat sie denn in das Elend eines so unsteten und abenteuerlichen Lebens verstoßen? Sie waren keine Barbaren, die, mildere Himmelsstriche behaglichere Wohnungen, reizendere Gegenstände, größere Reichtümer auffinden wollten; sie besaßen und genossen im Gegenteil all dies, und doch haben sie alles verlassen, um ohne Obdach, ohne Brot zu leben, und jeden ag einer nach dem anderen getötet oder verstümmelt zu werden. Welche Notwendigkeit, oder was hat sie denn getrieben? Das Vertrauen in einen bis dahin unfehlbaren Führer, der Ehrgeiz, ein rühmlich begonnenes Werk zu vollenden; der Siegesrausch; jene unersättliche Ruhmsucht; der gewaltige Trieb, der den Menschen im Tod die Unsterblichkeit suchen läßt.
Ernst und schweigend ging die Armee über dieses Leichenfeld, als plötzlich eine Stimme des Jammers an das Ohr der Vorübergehenden schlug. Man läuft hinzu und findet einen französischen Soldaten, dem eine Kanonenkugel in der Schlacht die beiden Beine weggerissen, und den man unter den Toten hatte liegenlassen. Der Körper eines durch eine Haubitzgranate ausgeweideten Pferdes war vorerst sein Obdach, und von dem schlammigen Wasser der Schlucht, in die er gerollt war, in dem halbverwesten Fleische der Leichname fand er während fünfzig langer Tage das Mittel, sein Leben zu fristen und seine Wunden zu verbinden. Diejenigen, die dieses unglückliche Wesen gefunden haben wollen, versichern, daß sie es glücklich gerettet hätten.
Weiter von da sah man die Abtei oder das Spital von Kolotskoy wieder, wo des Gräßlichen noch weit mehr war als auf dem Schlachtfelde. Im Bereich von Borodino herrschte der Tod, aber auch die Ruhe: jeglicher Kampf hatte dort aufgehört. Aber zu Kolozkoje dauerte er noch immer fort: der Tod schien hier diejenigen, die ihm auf dem Schlachtfelde entgangen waren, unerbittlich zu verfolgen; er drang durch jedes ihrer Organe in sie ein. Um seine Gewalt zu brechen, dazu fehlte es an allem, nur nicht an Befehlen, die in diesen Wüsten unausführbar waren und auch zu weit her und zu hoch herab kamen und durch zu viele Hände gingen, um vollzogen zu werden.
Ungeachtet des Hungers, der Kälte und der Entbehrungen aller Art waren jedoch noch viele Verwundete durch die rastlosen Bemühungen einiger hochverdienter Ärzte und durch den Balsam der Hoffnung in diesem verpesteten Orte dem Leben erhalten worden. Als sie aber die Armee zurückkommen und mit ihr jede Hoffnung verschwinden sahen, schleppten sich die kräftigeren an die Schwelle des Tores, lagerten sich längs der Straße und streckten flehend die Hände nach uns aus.
Der Kaiser befahl, daß jeder Wagen ohne alle Ausnahme einen von diesen Unglücklichen aufnehmen, und daß man die Schwächsten, wie zu Moskau, unter dem Schutze derjenigen russischen Offiziere zurücklassen solle, die ihre Heilung unserer Sorgfalt und Pflege zu verdanken hatten. Er hielt an, um die Vollziehung dieses Befehls zu betreiben, und wärmte sich mit den Offizieren seines Gefolges an der Flamme der im Stich gelassenen Munitionskarren. Seit dem Morgen dieses Tages bezeugten die vielfachen Explosionen, die man hören mußte, zu wie vielen Opfern der Art man sich bereits hatte entschließen müssen.
Während dieses Halts geschah eine Greueltat. Die Marketender, deren Fuhrwerk mit der Beute von Moskau schon überladen war, hatten die ihnen zugewiesenen Verwundeten nur ungern und mit Murren aufgenommen. Bald blieben die Schurken geflissentlich hinter ihren Korps zurück und benutzten den ersten Augenblick, um diese Unglücklichen in den Graben zu werfen. Einer von ihnen, und zwar ein General, der von den später Folgenden noch gerettet werden konnte, zeigte dieses Verbrechen an. Entsetzen durchschauderte die ganze Marschkolonne und drang bis zum Kaiser vor; denn noch war die Not nicht groß, nicht verbreitet genug, um jedes Mitleid zu ersticken, jede Brust zu stählen und einzig nur den Trieb der Selbsterhaltung übrig zu lassen.
Am Abend dieses langsam hinschleichenden Tages nahte sich die kaiserliche Kolonne Ghiaz und war nicht wenig überrascht, auf ihrem Wege die Leichen ganz frisch getöteter Russen zu finden.
Einer wie der andere war durch den Kopf geschossen, sein blutiges Gehirn lag verschüttet daneben. Man wußte, daß zweitausend gefangene Russen, von Spaniern, Portugiesen und Polen bewacht, vorausmarschierten. Jedermann schalt, billigte oder blieb gleichgültig, je nach seinem Charakter. In der nächsten Umgebung des Kaisers fanden diese verschiedenen Eindrücke keine Sprache. Nur Caulaincourt konnte sich nicht halten und rief aus: welche abscheuliche Grausamkeit! Das sei also die Zivilisation, die wir nach Rußland brächten. Welchen Eindruck diese Barbarei auf den Feind machen müsse? Ob wir nicht unsere Verwundeten und eine Menge Gefangener in seiner Gewalt zurückließen? Ob es ihm also an Gelegenheit fehlen könne, schreckliche Repressalien zu üben?
Napoleon beobachtete ein düsteres Stillschweigen. Aber den folgenden Tag hatten diese Mordtaten aufgehört. Man begnügte sich, diese Unglücklichen die Nacht über, wie das Vieh eingepfercht, verhungern zu lassen. Das war allerdings auch wieder eine Grausamkeit, aber was konnte man tun? Sie auswechseln? Der Feind wollte nicht. Sie entlassen? Da würden sie unsere Not bekannt gemacht haben und bald, mit andern vereinigt, zurückgekommen sein, um Rache an uns zu nehmen. In diesem Vertilgungskriege ihnen das Leben schenken, war soviel, als das eigene hingeben; man war grausam aus Not; das wahre Übel lag darin, daß man sich in eine so schreckliche Alternative gesetzt natte.
Endlich erreichte man Ghiaz mit der sinkenden Nacht nach einem schweren Tag: der Anblick des Schlachtfeldes und der preisgegebenen Spitäler, die vielen in die Luft gesprengten Munitionswagen, die hingerichteten Russen, die ungeheure Länge des Weges, die Erstlinge des Winters, all dies hatte den heutigen Marsch verderblich gemacht. Der Rückzug ging in Flucht über. Es war etwas ganz Neues, Napoleon weichen und fliehen zu sehen.
Ségur, Philippe Paul Graf von
Die Geschichte Napoleons und der Großen Armee während des Jahres 1812
Band 2, Stuttgart 1825