Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1878 - Adolf Erik Nordenskiöld
Bei den Tschuktschen

Die Fahrt längs der Nordküste Asiens fing an, etwas einförmig zu werden. Auch der eifrigste Polarforscher kann auf die Länge der Zeit des ewigen Eises, der Untiefen und des ewigen Nebels müde werden.
   Jetzt trat jedoch eine angenehme Abwechslung ein, indem wir endlich mit Eingeborenen in Berührung kamen. Wir hatten auf der ganzen Strecke von Jugor-Schar bis Kap Schelagskoj [etwa 4.000 Kilometer von Nowaja Semlja nach Osten] keine Menschen oder menschliche Wohnungen gesehen, wenn ich die alte, unbewohnte Hütte zwischen Kap Tscheljuskin und [dem Fluss] Chatanga ausnehme. Endlich am 6. September, als wir in geringer Entfernung von Kap Schelagskoj waren, wurden zwei Boote signalisiert. Alle Mann, mit Ausnahme des Kochs, den keine Katastrophe zum Verlassen seiner Töpfe und Bratpfannen veranlassen konnte und welcher Asien und Europa umsegelt hat, ohne vielleicht ein einziges Mal an Land gewesen zu sein, stürzten auf das Deck. Die Boote waren aus Fellen in derselben Weise angefertigt wie die Umiaken oder Frauenboote der Eskimos. Sie waren mit lachenden und plappernden Eingeborenen, Männern, Frauen und Kindern, angefüllt, deren Rufe zu erkennen gaben, dass sie an Bord kommen wollten. Die Maschine wurde angehalten, die Boote legten an, und eine Menge pelzbekleideter, barköpfiger Wesen kletterte über die Schiffswand in einer Weise herauf, welche offenbar erkennen ließ, dass sie schon früher Fahrzeuge gesehen hatten. Ein lebhaftes Gerede entstand, wir fanden aber bald, dass keiner von der Besatzung der Boote oder des Fahrzeuges eine beiden Parteien gemeinsame Sprache kannte. Dies war ein trauriger Umstand, man half sich jedoch – so gut es sich tun ließ – mit Zeichen. Das Gerede wurde hierdurch nicht gehindert, und bald herrschte große Freude, besonders nachdem einige Geschenke, hauptsächlich aus Tabak und holländischen Tonpfeifen bestehend, ausgeteilt worden waren. Merkwürdig war es, dass keiner von ihnen auch nur ein einziges Wort Russisch sprechen konnte, wogegen ein Knabe notdürftig auf Englisch bis zehn zählen konnte, was beweist, dass die Eingeborenen hier mehr mit amerikanischen Walfängern als mit russischen Kaufleuten in Berührung kommen. Sie selbst erkannten den Namen Tschuktsch oder Tschautschu als den ihrigen an.
   Viele von ihnen waren hohe, starke und wohl gewachsene Männer. Sie waren in enganliegende Lederhosen und Päsken [knielange Jacken] von Rentierfell gekleidet. Der Kopf war entblößt und das Haar ganz kurz geschnitten, mit Ausnahme einer schmalen Franse nach vorn, wo das Haar eine Länge von vier Zentimetern hatte und über die Stirn herabgekämmt war. Einige hatten Mützen wie die von den Russen bei Chabarowa [südlich von Nowaja Semlja] getragenen, hinten in ihren Gürtel eingesteckt, schienen aber das Wetter noch für zu warm für den Gebrauch einer Kopfbedeckung anzusehen. Das Haar der meisten war blauschwarz und äußerst dicht. Die Frauen waren mit schwarzen oder schwarzblauen Strichen über Stirn und Nase, einer Menge ähnlicher Striche auf dem Kinn und schließlich mit einigen Verzierungen auf den Backen tätowiert. Der Gesichtstypus erschien nicht so unangenehm wie derjenige der Samojeden und Eskimos. Einige der jungen Mädchen waren sogar nicht ganz hässlich. Im Vergleich zu den Samojeden waren sie auch ziemlich reinlich und hatten eine hübsche, beinahe weiß-rote Gesichtsfarbe. Einige der Männer waren ganz blond; wahrscheinlich waren dies Abkömmlinge von Russen, welche aus der einen oder anderen Ursache, als Kriegsgefangene oder Überläufer, dazu gekommen waren, unter den Tschuktschen zu leben, und die bei ihnen nationalisiert worden waren.
   Nach einer Weile setzten wir unsere Fahrt fort, nachdem die Tschuktschen in ihre Boote zurückgekehrt waren, offenbar wohl zufrieden mit den Geschenken, die sie erhalten, mit dem Blättertabak, den ich bündelweise verteilt hatte, mit den Tonpfeifen, von denen ein jeder so viele erhielt, als er zwischen den Fingern tragen konnte, und mit den Zierraten und alten Kleidern, welche meine Kameraden und die Mannschaft mit freigebiger Hand ausgestreut hatten. Wir waren nämlich alle überzeugt, dass wir nach einigen Tagen in ein Fahrwasser kommen würden, wo Winterkleider vollständig überflüssig seien, wo der Mangel an dem einen oder ändern leicht in dem nächsten Hafen ersetzt werden könnte und wo das Tauschmittel nicht in Waren, sondern in gemünzten Metallstücken und Papierzetteln bestehen würde.
   Am 7. September dampften wir den ganzen Tag längs der Küste in ziemlich verteiltem Eis weiter. In der Nacht legten wir an einer Treibeisscholle bei. Der Schwabber [eine Art Besen] und das Schleppnetz wurden ausgesetzt und ergaben eine reiche Ernte. Am Morgen aber fanden wir uns wieder so von Eis und Nebel umgeben, dass wir, nach einigen vergeblichen Versuchen, sofort weiterzukommen, uns gezwungen sahen, an einem größeren Treibeisstück nahe dem Strand beizulegen. Als der Nebel sich so weit aufgeklärt hatte, dass das Schiff vom Lande aus gesehen werden konnte, erhielten wir wieder Besuch von einer Menge Eingeborener, welche ebenso wie früher nach bestem Vermögen von uns bewirtet wurden. Sie luden uns durch deutliche Zeichen ein, an Land zu kommen und ihre Zelte zu besuchen. Da es auf alle Fälle unmöglich war, die Fahrt fortzusetzen, nahm ich die Einladung an, ließ ein Boot aussetzen und ging mit den meisten meiner Kameraden an Land.
   Das Ufer besteht hier aus einem niedrigen Sandwall, welcher sich zwischen dem Meer und einer kleinen, beinahe in gleicher Höhe damit gelegenen, seichten Lagune oder einem Süßwassersee hinzieht. Weiter nach dem Inneren hin hebt sich das Land allmählich zu kahlen, schneefreien oder von dem Schneefall der letzten Tage dünn mit Schneepulver bedeckten Berghöhen. Derartige Lagunenbildungen, teils mit süßem, teils mit salzigem Wasser, wie wir sie hier zum ersten Mal sahen, sind bezeichnend für die nordöstliche Küste Sibiriens. Diese Bildungen haben Anlass zu der Behauptung gegeben, dass an der Nordküste Sibiriens die Grenzen zwischen Meer und Land schwer zu ziehen sind. Im Winter mag dies wohl der Fall sein, da der niedrige Wall, welcher die Lagune vom Meer trennt, schwer zu unterscheiden ist, wenn er mit Schnee bedeckt ist, und bei Winterfahrten längs der Küste kann es deshalb leicht geschehen, dass man schon weit in das Land hineingekommen ist, während man glaubt, noch weit draußen auf dem Meer zu sein. Wenn aber der Schnee weggeschmolzen ist, so ist die Grenze scharf genug und das Meer keineswegs so seicht, wie es nach älteren Angaben den Anschein haben könnte.
   Die Dörfer der Tschuktschen werden gewöhnlich auf dem Strandwall selbst, der die Lagune vom Meer trennt, aufgeschlagen. Die Wohnungen bestehen aus geräumigen Zelten von Fellen, welche eine von warmen, wohl zubereiteten Rentierfellen umgebene Schlafkammer umschließen, die durch eine oder mehrere Tranlampen erleuchtet und erwärmt wird. Hier schläft die Familie; hier hat sie im Winter meistens den ganzen Tag ihren Aufenthalt. Im Sommer, aber weniger oft im Winter, heizt man außerdem in der Mitte des äußeren Zeltes mit Holz, zu welchem Zwecke an der Spitze des durchbrochenen Zeltdaches ein Loch geöffnet wird. Aber gezwungen zu sein, zur Erwärmung des inneren Zeltes Holz anzuwenden, sehen die Tschuktschen für ein Zeichen des höchsten Mangels an Feuerungsmaterial an.
   Wir wurden überall sehr freundlich aufgenommen, und man offerierte uns, was das Haus zu bieten vermochte. Zur Zeit war reichlicher Vorrat an Nahrungsmitteln vorhanden. In einem Zelt wurde Rentierfleisch in einem großen gusseisernen Topf gekocht. An einer anderen Stelle war man dabei, die Eingeweide zweier vor kurzem geschossener oder geschlachteter Rentiere zu zerschneiden und auszunehmen. In einem dritten Zelt beschäftigte sich eine alte Frau damit, aus dem Wanst der Rentiere den grünen, spinatartigen Inhalt herauszunehmen und ihn in einen Beutel von Seehundsfell zu stopfen, offenbar um ihn als Grünfutter für den Winter zu verwahren. Die Hand diente hierbei als Schöpfkelle, und die nackten Arme waren bis hoch hinauf von dem nicht gerade appetitlichen Spinat gefärbt, welcher jedoch nach der Mitteilung dänischer Kolonisten auf Grönland keinen unangenehmen Geschmack haben soll. Andere Lederbeutel, mit Tran gefüllt, standen reihenweise an den Wänden des Zeltes entlang.
   Man bot uns Tran zum Kauf an und schien darüber verwundert, dass wir uns nichts davon eintauschen wollten. In anderen Zelten lagen zerschnittene Seehunde, ein Beweis, dass der Seehundfang während der letzten Tage reichlich gewesen war. Bei einem Zelte lagen zwei frische Walrossköpfe mit großen, schönen Zähnen. Ich versuchte vergebens, mir diese Köpfe einzutauschen; am folgenden Tage aber bot man uns die Zähne zum Kauf an. Die Tschuktschen scheinen ein Vorurteil dagegen zu haben, die Köpfe getöteter Tiere zu verkaufen. Nach älteren Reisebeschreibungen widmen sie sogar dem Walrosskopf eine Art von Verehrung.
   Kinder gab es in Menge, gesund und kräftig. In dem inneren Zelt gingen die größeren Kinder beinahe nackt umher, und von hier aus sah ich sie ohne Schuhe oder andere Kleider auf den bereiften Boden hinausgehen und zwischen den Zelten umherlaufen. Die kleineren Kinder wurden sowohl von Männern wie von Frauen auf den Schultern umhergetragen, wobei sie so stark eingewickelt waren, dass sie Pelzbällen glichen. Die Kinder wurden mit ausgezeichneter Freundlichkeit behandelt, und niemals hörte man die Eltern ein böses Wort zu ihnen äußern. Ich tauschte mir hier eine Menge Hausgerätschaften und Kleidungsstücke ein.

Nordenskiöld, Adolf Erich
Die Umsegelung Asiens auf der Vega
Leipzig 1882, Band 1

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende im Nordmeer seit dem Jahr 530
Wien 2009

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