Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1897 - Mark Twain
In Hobart
 
An der Mündung des Derwent liegt, ganz von Laubwäldern umschlossen, die Hauptstadt Tasmaniens, das freundliche Hobart, auf Hügeln, die allmählich zum Hafen abfallen und in deren Hintergrund der Wellingtonberg zu majestätischer Größe emporsteigt. Die Gegend ist himmlisch schön; sie bietet mit ihrem Reichtum an Formen und Gruppen, ihrer Farbenpracht, dem üppigen Grün, den Buchten und Vorgebirgen, den anmutig welligen Hügeln, dem leuchtenden Sonnenglanz und den matt schimmernden Fernsichten ein entzückendes Landschaftsbild.
    Mir ist noch keine Stadt vorgekommen, in der alles so von Sauberkeit und Ordnung strahlt wie in Hobart, nirgends sieht man hier baufällige, schäbige Häuser oder eingefallene Zäune: kein Unkraut wächst in den Vorgärtchen; im Hinterhof der Armen liegen weder alte Blechbüchsen noch zerrissene Stiefel oder leere Flaschen, kein Kehricht ist im Rinnstein, kein Schmutz auf dem Bürgersteig. Selbst die bescheidenste Hütte sieht aus wie gestriegelt und gebügelt; jede hat ihre Blumen, ihre Schlingpflanzen, die sie umranken, einen sauberen Zaun mit guter Tür, und auf dem Fensterbrett liegt die wohlgepflegte Katze und schläft.
    Der Kurator des Museums, ein Herr aus Amerika, war so freundlich, uns die Sammlungen zu zeigen. Wir sahen dort wenigstens ein halbes Dutzend verschiedener Marsupialia (Beuteltiere), unter andern den „Tasman Teufel“, der zu dieser Gattung gehört, wie ich glaube. Auch ein Fisch war da, der durch die Lunge atmet und im Schlamm weiterlebt, wenn der Fluß austrocknet. Am merkwürdigsten ist aber ein Papagei, der den Schafen nachstellt. Auf einer großen Schafweide hat einmal in einem einzigen Jahr tausend Stück umgebracht. Da er aber nicht das ganze Schaf frißt, sondern nur das Nierenfett, so ist die Ernährung des Vogels sehr kostspielig. Er hackt das Fett mit dem Schnabel heraus und das Schaf stirbt an der Wunde. Die Geschichte dieses Papageis ist für die Entwicklungslehre von Wichtigkeit; sie zeigt, daß unter veränderten Bedingungen eine wesentliche Neubildung stattfinden kann. Als man die Schafzucht einführte, wurden gewisse Würmer vertilgt, die des Papageis Hauptnahrung gebildet hatten. Der Hunger trieb ihn dazu, Fleischreste zu verzehren, die er noch an den Schaffellen fand, welche zum Trocken auf den Zäunen hingen. Bald schmeckte ihm das Nierenfett der Schafe am allerbesten, aber die Form des Schnabels hinderte ihn, es sich zu verschaffen. Da kam ihm die Natur zu Hilfe und bildete seinen Schnabel um, so daß er sich jetzt nach Herzenslust vom Fett seiner Mitgeschöpfe ernähren kann.
    Wir fuhren durch ein blühendes, duftendes Zauberland nach dem Armenasyl, einem geräumigen, bequem eingerichteten Heim mit Krankenhäusern u. dgl. für Männer und Frauen. Dort waren Scharen der ältesten Leute beisammen, die mir je untergekommen sind. Man sah sich plötzlich in eine andere Welt versetzt, ein unheimliche Welt, aus der die Jugend verbannt war, und in der nur das Alter mit seinen zahllosen Runzeln gebückten Ganges umherwandelte. Von 359 dort untergebrachten Personen waren 223 frühere Deportierte; sie hätten ohne Zweifel aufregende Geschichten erzählen können, wären sie mitteilsam gewesen. 42 hatten das achtzigste Lebensjahr überschritten und einige waren nahe an neunzig; das durchschnittliche Sterbealter ist dort 76 Jahre. Nein, an einem so gesunden Ort möchte ich nicht leben. Siebzig ist alt genug – später wird die Sache zu ungewiß. Jugend und Heiterkeit können verschwinden, ehe man sich’s versieht – und was bleibt dann noch übrig? Nur ein Tod bei lebendigem Leibe, der weder Wohltäter noch Befreier ist. Unter den 185 Frauen waren 81 vormalige Strafgefangene.
    Das Dampfboot machte uns einen Strich durch die Rechnung; wir hatten gedacht, es würde, wie gewöhnlich, lange in Hobart verweilen; statt dessen fuhr es nach kurzem Aufenthalt weiter, so daß wir Tasmanien nur wie im Fluge zu sehen bekamen.
    
Twain, Mark
Meine Reise um die Welt
Stuttgart 1898

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