1774 - Georg Forster
Über Menschenfresser
Queen Charlotte Sound, Neuseeland
Der Capitain, nebst Herrn Wales und meinem Vater, ließen sich am Nachmittage nach Motu-Aro übersetzen, um die Pflanz-Gärten zu besehen und Kräuterwerk für das Schiff einzusammlen, indeß verschiedne von den Lieutenants nach Indian-Cove giengen, um mit den dortigen Indianern Handel zu treiben. Das erste, was ihnen daselbst in die Augen fiel, waren die Eingeweide eines Menschen, die nahe am Wasser auf einem Haufen geschüttet lagen. Kaum hatten sie sich von der ersten Bestürzung über diesen Anblick erholt, als ihnen die Indianer verschiedne Stücke vom Cörper selbst vorzeigten, und mit Worten und Gebehrden zu verstehen gaben, daß sie das übrige gefressen hätten. Unter den vorhandenen Gliedmaaßen war auch noch der Kopf befindlich, und nach diesem zu urtheilen, mußte der Erschlagne ein Jüngling von fünfzehn bis sechzehn Jahren gewesen seyn. Die untere Kinnlade fehlte, und über dem einen Auge war der Hirnschedel, vermuthlich mit einem Pättu-Pättu, eingeschlagen. Unsre Leute fragten die Neu-Seeländer, wo sie diesen Cörper her bekommen hätten? worauf jene antworteten, daß sie ihren Feinden ein Treffen geliefert, und verschiedne derselben getödtet, von den Erschlagnen aber nur allein den Leichnam dieses Jünglings mit sich hätten fortbringen können. Sie setzten hinzu, daß auch von ihrer Parthey verschiedne umgekommen wären und zeigten zu gleicher Zeit auf einige seitwärts sitzende Weiber, die laut wehklagten und sich zum Andenken der Gebliebnen die Stirn mit scharfen Steinen verwundeten. Was wir also von den Zwistigkeiten der Indianer bisher nur blos vermuthet hatten, das fanden wir jetzt durch den Augenschein bestätigt, und allem Anschein nach, war die Muthmaßung, daß wir selbst zu diesem Unheil Gelegenheit gegeben hätten, nicht minder gegründet. Hiernächst blieb uns nun auch kein Zweifel mehr übrig, die Neu-Seeländer für würkliche Menschenfresser zu halten. Herr Pickersgill wünschte den Kopf an sich zu kaufen, und solchen zum Andenken dieser Reise mit nach England zu nehmen. Er both also einen Nagel dafür und erhielt ihn, um diesen Preiß, ohne das mindeste Bedenken. Dieser Kopf befindet sich jetzt in Herrn Job. Hunters anatomischem Cabinet zu London.) Als er mit seiner Gesellschaft an Bord zurück kam, stellte er ihn oben auf das Geländer des Verdecks zur Schau hin. Indem wir noch alle darum her waren ihn zu betrachten, kamen einige Neu-Seeländer vom Wasserplatze zu uns. So bald sie des Kopfes ansichtig wurden, bezeugten sie ein großes Verlangen nach demselben, und gaben durch Zeichen deutlich zu verstehen, daß das Fleisch von vortreflichem Geschmack sey. Den ganzen Kopf wollte Herr Pickersgill nicht fahren lassen, doch erbot er sich ihnen ein Stück von der Backe mitzutheilen, und es schien als freuten sie sich darauf. Er schnitt es auch würklich ab und reichte es ihnen; sie wolltens aber nicht roh essen, sondern verlangten es gar gemacht zu haben. Man ließ es also, in unsrer aller Gegenwart ein wenig über dem Feuer braten, und kaum war dies geschehen, so verschlungen es die Neu-Seeländer vor unsern Augen mit der größten Gierigkeit. Nicht lange nachher kam der Capitain mit seiner Gesellschaft an Bord zurück, und da auch diese Verlangen trugen, eine so ungewöhnliche Sache mit anzusehen, so wiederholten die Neu-Seeländer das Experiment noch einmal in Gegenwart der ganzen Schiffsgesellschaft. Dieser Anblick brachte bey allen denen die zugegen waren, sonderbare und sehr verschiedne Würkungen hervor. Einige schienen, dem Eckel zum Trotze, der uns durch die Erziehung gegen Menschenfleisch beygebracht worden, fast Lust zu haben mit anzubeißen, und glaubten etwas sehr witziges zu sagen, wenn sie die Neu-Seeländischen Kriege für Menschen-Jagden ausgaben. Andre hingegen waren auf die Menschenfresser unvernünftigerweise so erbittert, daß sie die Neu-Seeländer alle todt zu schießen wünschten, gerade als ob sie Recht hätten über das Leben eines Volks zu gebieten, dessen Handlungen gar nicht einmal für ihren Richterstuhl gehörten! Einigen war der Anblick so gut als ein Brechpulver. Die übrigen begnügten sich, diese Barbarey eine Entehrung der menschlichen Natur zu nennen, und es zu beklagen, daß das edelste der Geschöpfe dem Thiere so ähnlich werden könne! Nur allein Maheine, der junge Mensch von den Societäts-Inseln, zeigte bey diesem Vorfall mehr wahre Empfindsamkeit als die adern alle. Geboren und erzogen in einem Lande, dessen Einwohner sich bereits der Barbarey entrissen haben und in gesellschaftliche Verbindungen getreten sind, erregte diese Scene den heftigsten Abscheu bey ihm. Er wandte die Augen von dem gräßlichen Schauspiel weg, und floh nach der Cajütte, um seinem Herzen Luft zu machen. Wir fanden ihn daselbst in Thränen, die von seiner inneren Rührung das unverfälschteste Zeugniß ablegten. Auf unser Befragen, erfuhren wir, daß er über die unglückseligen Eltern des armen Schlacht-Opfers weine! Diese Wendung seiner Betrachtungen machte seinem Herzen Ehre; denn man sahe daraus, daß er für die zärtlichsten Pflichten der Gesellschaft ein lebhaftes inniges Gefühl haben und gegen seine Nebenmenschen überaus gut gesinnt seyn mußte. Er war so schmerzlich gerührt, daß einige Stunden vergiengen, ehe er sich wieder beruhigen konnte, und auch in der Folge sprach er von diesem Vorfall nie ohne heftige Gemüthsbewegung. Philosophen, die den Menschen nur von ihrer Studierstube her kennen, haben dreist weg behauptet, daß es, aller älteren und neueren Nachrichten ohnerachtet, nie Menschenfresser gegeben habe: Selbst unter unsern Reisegefährten waren dergleichen Zweifler vorhanden, die dem einstimmigen Zeugniß so vieler Völker bisher noch immer nicht Glauben beymessen wollten. Capitain Cook hatte indessen schon auf seiner vorigen Reise aus guten Gründen gemuthmaaßt, daß die Neu-Seeländer Menschenfresser seyn müßten; und jetzt, da wir es offenbahr mit Augen gesehen haben, kann man wohl im geringsten nicht mehr daran zweifeln. Über den Ursprung dieser Gewohnheit sind die Gelehrten sehr verschiedener Meynung, wie unter andern aus des Herrn Canonicus Pauw zu Xanten recherches philosophiques sur les Americains ersehen werden kann. Er selbst scheint anzunehmen, daß die Menschen ursprünglich durch Mangel und äußerste Nothdurft darauf verfallen sind, einander zu fressen. Dagegen aber lassen sich sehr wichtige Einwürfe machen, und folgender ist einer der stärksten: Wenig Winkel der Erde sind dermaßen unfruchtbar, daß sie ihren Bewohnern nicht so viel Nahrungsmittel liefern sollten als zu Erhaltung derselben nöthig sind; und diejenigen Länder, wo es noch jetzt Menschenfresser giebt, können gerade am wenigsten für so elend ausgegeben werden. Die nördliche Insel von Neu-Seeland, die beynahe 400 See-Meilen im Umfange haben mag, enthält, so viel sichs berechnen läßt, kaum einhundert Tausend Einwohner; welches für ein so großes Land, selbst alsdann noch, eine sehr geringe Anzahl ist, wenn auch nur allein die Küsten, und nicht die Innern Gegenden des Landes durchaus bewohnt seyn sollten. Wenn aber auch ihrer noch weit mehrere wären; so würden sie sich doch alle von dem Überfluß an Fischen und vermittelst des Landbaues der in der Bay of Plenty und andrer Orten angefangen ist, zur Genüge ernähren, ja sogar den Fremden noch davon mittheilen können, welches sie auch würklich gethan haben. Zwar mag vor Einführung der Künste, ehe sie Netze hatten und Cartoffeln pflanzten, der Unterhalt sparsamer und mühseliger gewesen seyn; aber damals war auch die Anzahl der Bewohner gewiß weit unbeträchtlicher. Bey alle dem läugne ich keinesweges, daß es nicht Fälle gegeben hätte, wo ein Mensch den andern wirklich aus Noth aufgefressen hat: Allein davon sind doch nur einzelne Beyspiele vorhanden, und aus einzelnen Beyspielen läßt sich, für die Gewohnheit des Menschenfressens im Ganzen genommen, durchaus nichts beweisen. Nur so viel kann man daraus abnehmen, daß der Mensch, in einzelnen Fällen durch Hunger und Elend zu außerordentlichen Mitteln gebracht werden könne. Im Jahr 1772, da Deutschland Mißwachs hatte und viele Provinzen Hunger leiden mußten, ward auf den Boinenburgischen Gütern, an der Gränze von Thüringen, ein Hirte eingezogen, und, wo ich nicht irre, am Leben bestraft, weil er, durch Hunger gezwungen, einen jungen Burschen erschlagen und gefressen, auch verschiedne Monathe lang, in gleicher Absicht, bloß des Wolschmacks wegen, zu morden fortgefahren hatte. Er sagte im Verhör aus, daß ihm das Fleisch junger Leute vorzüglich gut geschmeckt habe, und eben das ließ sich auch aus den Mienen und Zeichen der Neu-Seeländer schließen. Ein altes Weib in der Provinz Matogroßo in Brasilien, gestand dem damaligen portugiesischen Gouverneur Chevalier Pinto, der jetzt portugiesischer Gesandter zu London ist, daß sie mehrmalen Menschenfleisch gegessen, daß es ihr ungemein gut geschmeckt habe, und daß sie auch noch ferner welches essen möcht, besonders junges Knabenfleisch. - Würde es aber nicht abgeschmackt seyn, wenn man aus diesen Beyspielen folgern wollte, daß die Deutschen und die Brasilianer, ja überhaupt irgend eine andere Nation, Menschen umzubringen, und sich mit dem Fleische der Erschlagnen etwas zu Gute zu thun pflegen? Eine solche Gewohnheit kann ja nicht mit dem Wesen der menschlichen Gesellschaft bestehen. Wir müssen also der Veranlassung dazu auf einem andern Wege nachspüren. Man weis, daß sehr geringe Ursachen oft die wichtigsten Begebenheiten auf dem Erdboden veranlaßt, und daß unbedeutende Zänkereyen die Menschen sehr oft bis zu einem unglaublichen Grad gegen einander erbittert haben. Eben so bekannt ist es, daß die Rachsucht bey wilden Völkern durchgängig eine heftige Leidenschaft ist, und oft zu einer Raserey ausartet, in welcher sie zu den unerhörtesten Ausschweifungen aufgelegt sind. Wer weiß also, ob die ersten Menschenfresser die Körper ihrer Feinde nicht aus bloßer Wuth gefressen haben, damit gleichsam nicht das geringste von denselben übrig bleiben sollte? Wenn sie nun überdem fainden, daß das Fleisch gesund und wohlschmeckend sey, so dürfen wir uns wohl nicht wundern, daß sie endlich eine Gewohnheit daraus gemacht und die Erschlagenen allemal aufgefressen haben: Denn, so sehr es auch unsrer Erziehung zuwider seyn mag, so ist es doch an und für sich weder unnatürlich noch strafbar, Menschenfleisch zu essen. Nur um deswillen ist es zu verbannen, weil die geselligen Empfindungen der Menschenliebe und des Mitleids dabey so leicht verloren gehen können. Da nun aber ohne diese keine menschliche Gesellschaft bestehen kann; so hat der erste Schritt zur Cultur bey allen Völkern dieser seyn müssen, daß man dem Menschenfressen entsagt und Abscheu dafür zu erregen gesucht hat. Wir selbst sind zwar nicht mehr Cannibalen, gleichwohl finden wir es weder grausam noch unnatürlich zu Felde zu gehen und uns bey Tausenden die Hälse zu brechen, blos um den Ehrgeiz eines Fürsten, oder die Grillen seiner Maitresse zu befriedigen. Ist es aber nicht Vorurtheil, daß wir vor dem Fleische eines Erschlagnen Abscheu haben, da wir uns doch kein Gewissen daraus machen ihm das Leben zu nehmen? Ohne Zweifel wird man sagen wollen, daß ersteres den Menschen brutal und fühllos machen würde. Allein, es giebt ja leyder Beyspiele genug, daß Leute von civilisirten Nationen, die, gleich verschiednen unsrer Matrosen, den bloßen Gedanken von Menschenfleisch-Essen nicht ertragen und gleichwohl Barbareyen begehen können, die selbst unter Cannibalen nicht erhört sind! Was ist der Neu-Seeländer, der seinen Feind im Kriege umbringt und frißt, gegen den Europäer, der, zum Zeitvertreib, einer Mutter ihren Säugling, mit kaltem Blut, von der Brust reißen und seinen Hunden vorwerfen! kann? (Der Bischof Las Casas sah diese Abscheulichkeit unter den ersten spanischen Eroberern von Amerika.)
Forster, Georg
Reise um die Welt
Berlin 1784, Nachdruck Frankfurt/M. 1967