Um 1910 - Fritz Kummer
Die Besteigung des Fudschijama
Japan hat bekanntlich zwei Religionen: den Schinto und den Buddhismus. Beide sind so tief miteinander verquickt, daß es schier unmöglich ist, Scheidelinien zu ziehen. Die Zahl der reinen Anhänger der einen oder der anderen muß sehr klein sein. Gewöhnlich wird der Japaner bei der Geburt dem Schinto zugeteilt, die letzte Seilfahrt tritt er unter Beistand buddhistischer Priester an. Der Schinto verlangt herzlich wenig von seinen Anhängern. Mit ein paar kurzen Andachten in seinen Stätten sind seine Gebote erfüllt. Auch sind seine Tempel sehr einfach im Gegensatz zu den buddhistischen, die mit ihrem gleißenden Gepränge Ähnlichkeit mit der katholischen Kirche haben. Der Schinto ist eine Verflechtung von Ahnenverehrung und Naturanbetung. Seine Götter sind Sonne, Wind, Wasser, Feuer, Nahrung, dann gewisse Bäume, Flüsse, Berge, im ganzen „achthundert Myriaden von Göttern“.
Da es der großen Masse des so schwer arbeitenden Volkes nicht gegeben ist, die von den Göttern besonders begnadeten Stätten, wie beispielsweise das japanische Mekka, Ise, zu besuchen, nimmt sie mit geringerem vorlieb. Zum Glück fehlt es daran nicht. Das Mikadoreich hat über 72.000 buddhistische und 162.000 schintoistische Tempel oder Schreine. Daß beim Besuch dieser Andachtsstätten das Opferbringen dem Seelenheil sehr förderlich ist, leuchtet jedem Gläubigen ein.
Es liegt in der Sache der Naturanbetung, daß Naturwunder in vorderster Reihe der verehrungswürdigen Dinge stehen. Mit an erster Stelle steht der Fudschijama, Japans höchster Berg. Die Jikkosekte hält ihn für die „Seele des Weltalls“. Die heilige Scheu, womit die Japaner diesen Bergriesen betrachten, kann man erst ganz würdigen, wenn man ihn mit ihnen bestiegen hat. Dieser erloschene Krater, der sich in weiter Ebene von fünf Seen umsäumt erhebt, kann auch nichts weniger als fromme Gemüter anziehen. Für viele lnselbewohner bildet die Besteigung das Ereignis ihres Lebens.
Die der Besteigung günstigste Zeit liegt zwischen Juni und September. Die Führer sind zum Mitgehen wenig geneigt, solange sie noch Schnee auf der gezackten Schädelfläche des Riesen sehen. Da der beste Zeitpunkt für den Besuch zwischen zwei Ernten liegt, opfern die Bauern ihre Muße und ihre schlanken Häufchen Kupferstücke ihrem frommen Drang. Die eigentlichen Lohnarbeiter kommen selten mit. Es mangelt ihnen an Zeit und Geld. Aber auch die Bauern arten nicht in Spenderei aus. An den Speise und Trank bergenden Rastbuden fleuchen sie vorbei. Selbst die darin vorhandenen Nistplätze irgendeiner Gottheit können sie heute nicht reizen. Ihre Blicke sind sehnsüchtig nach dem zackigen, blauschwarzen Haupte des Bergkönigs gerichtet. Dort oben, zwölftausend Fuß der Göttin Sonne näher, quillt für sie der Urquell göttlicher Gnade und Verheißung. Die stille, kurze Andacht vor dem einfachen Altar hart an der schwindelnd tiefen Kraterwand ist Balsam für das gläubige Herz. Andächtig betrachtet und verehrt der braune Sohn der Scholle die zu seinen Füßen ausgebreitete Landschaft: die Berge mit den Bächen, die Wiesen mit den Seen, die Felder mit dem blühenden Reis; kurz er bewundert und verehrt mit Inbrunst seine Gottheit: Natur.
Schon in aller Frühe strömten weiß gekleidete Pilger dem Tokioer Bahnhof Idamaschi zu. Viele kamen schmunzelnd an mich heran, um ihren (geringen) Körperwuchs mit meiner Länge zu vergleichen. Anstelle der landesüblichen Holztrittchen trugen sie Tuchstrümpfe, Laufsocken, worunter Strohsandalen gebunden waren. Dieses Fußwerk betrachtete ich mit leisem Argwohn; und die großen Haufen verschlissener Strohsandalen, die an allen Raststellen lagen, konnten meine Zweifel nur beleben. Jeder der Pilger hatte ein schweres Bündel von diesem Schuhwerk auf den Rücken geschnallt. Nach Beendigung der Bergreise betrachtete ich diese Strohschuhe allerdings mit günstigerem Auge. Jeden meiner Begleiter kostete der Ausflug ein halbes Dutzend Sandalen oder 24 Sen, mich aber ein Paar Stiefelsohlen oder 210 Sen. Den Kopf der Pilger ziert ein Strohdach von einem halben Meter Durchmesser, worunter ein feuchtes Tuch liegt. Auf dem Rücken baumelt eine Strohdecke, die nachts gegen die Kälte, tags gegen die Hitze schützen soll. Die Frauen sind wie die Männer weiß gekleidet. Die Erklimmung des heiligen Gipfels war ihnen lange Zeit verboten. Jetzt klettern sie gleichfalls hinauf, wenn auch mit Hilfe von ziehenden und stoßenden Kulis.
Die Feldwirtschaft Japans ist ein wahrer Staat. Wo immer ein Fleckchen versprechenden Bodens vorhanden ist, ist es bebaut. Bis weit in die Bergeshöhe ringt der Bauer mit der Scholle. Bei der Anlage der Reisfelder muß die Wasserwaage ständig gehandhabt worden sein, denn sie sind so gerade wie der Wasserspiegel. Der (bessere) Reis fordert viel Bewässerung. Die Äcker sind mit Wassergräben umgeben, die die Fläche leicht und gleichmäßig unter Wasser setzen. An diesen Bewässerungsanlagen klebt der Schweiß ungezählter Geschlechter.
Das Inselreich ist sehr gebirgig. Bloß 17,6 Hundertteile seines Flächenraumes können bebaut werden. Davon sind 45 Hundertteile mit Reis, 38 mit Tee und Maulbeerbäumen bepflanzt. Der Ertrag der Landwirtschaft langt nicht für die Ernährung der Bevölkerung des Landes. Die Erzeugung des hauptsächlichsten Nahrungsmittels, des Reises, wächst langsamer als die Einwohnerschaft. Der Mangel wird durch Einfuhr aus Indien und China gedeckt.
Im alten Japan hatte die ganze Bauernschaft schwer zu fronen, nur um die 270 Daimios (Feudalherren) mit ihren anderthalb Millionen Säbelträgern zu füttern. Im Jahre 1863 ernteten die Bauern Japans 30 Millionen Koku (1 Koku = 1,8 hl) Reis; hiervon hatten sie 22 Millionen Koku als Steuern zu zahlen.
Was damals der Feudalherr erpreßte, holt heute der Steuerbeamte oder der Wucherer. Wie sehr der Bauer auch schuftete, er war und ist arm wie eine Kirchenmaus. Er kann sich weder chemische Dungmittel noch neuzeitliche Geräte anschaffen. Bebaut und geerntet wird mit der Hand; Arbeitstiere sind auf dem Lande selten zu sehen.
Nach der amtlichen Ermittlung gibt es (1909) in Japan 1,55 Millionen Pferde, 1,35 Millionen Hornvieh, 3 411 Schafe, 87000 Ziegen und 287000 Schweine. Das ist ein sehr geringer Viehbestand für einen Staat mit 50 Millionen Menschen, wovon 60 Hundertteile Feldwirtschaft treiben. Sollte die Ursache der Geringfügigkeit des Arbeitstierbestandes in der Billigkeit der Kulis liegen? Jedenfalls sind diese vorderhand noch wohlfeiler und brauchen weniger gepflegt zu werden.
Von der Milchwirtschaft scheinen viele Bauern nichts zu halten. In den ländlichen Gasthäusern ist nur Büchsenmilch amerikanischen oder schweizerischen Ursprungs zu haben. Die gewöhnliche Büchse kostet 40 Sen. In der Nähe der großen Städte sind schon eher „europäische“ Nahrungsmittel, wie Eier, Fleisch, (ranzige) Butter, Kaffee und Kartoffeln aufzutreiben. Weiter im Lande muß schon der ganze Ort umgedreht werden, um schließlich doch nichts zu finden.
Die Bauernhäuser liegen zuweilen in einer Dornröschenherrlichkeit versteckt. Von fern betrachtet, kann das Gehöft mit seinen schattigen Bäumen und plätscherndem Bächlein die poetische Ader schwellen lassen; aber die bewegteste Prosa ist nicht imstande, die Ärmlichkeit zu beschreiben, die das Strohdach deckt. Des Fremdlings Auge sucht in Bauernhöfen gewohnheitsgemäß Wagen, Geschirr, Horn-, Borsten- und Federvieh. Hier vergeblich. Es sucht den ländlichen Krug, wo der Bauer nach des Tages Last bei einem Trunk sich mit seinesgleichen zu müßigem Plausch zusammenfindet. Hier umsonst. Die Leblosigkeit der Gehöfte sowie die Nacktheit der sogenannten Gasthäuser ist allgemein und scheucht den Fremden mit wehen Gefühlen davon.
Fünf Stunden kroch das Züglein durch grüne Fluren, Täler, Schluchten, Tunnels, an Wasserfällen und Dörfern vorüber. Auf jeder Haltestelle wurden noch mehr Menschen in die kleinen Wagen gepreßt. Den pilgernden Bauern mußte die Gegend merkwürdig vorkommen, denn von Zeit zu Zeit zogen sie Büchlein hervor und malten Hühnerfüße hinein. Die braunen Gesichter grinsten freundlich. Meine Pfeife war lange Zeit Gegenstand der Erörterung und des Staunens. Die Unterhaltung konnte schwerlich fröhlicher sein, als der Zug in die Endstelle fuhr. Wer das nötige Kleingeld besaß, den brachte eine Pferdebahn noch fünf Stunden dem Bergriesen näher. In solch ein Wägelchen, gerade groß genug für acht braune Männchen, wurden gleich vierzehn eingeladen, und während der Fahrt gab's noch Zuwachs. Das Rößchen wurde durch Zuruf und Anschub ermuntert. Mitunter sauste das bis zum Platzen vollgepfropfte Wägelchen aus dem Gleise. Das gab dem Gäulchen willkommene Gelegenheit zu turnerischen Übungen. Das Krachen des Wagens, das Bersten der Achsen, das Anschlagen der Hufeisen und das Fluchen des Knechtes hätten höllische Heiterkeit erzwingen können - bei dem, der außerhalb des unglücklichen Gefährtes war. Wer aber im Wagen zusammengepreßt saß, dachte, indem er einen ängstlichen Blick hinunter in die schwindelnde Schlucht warf, an die letzte Stunde.
Die Fahrt geht durch ein wichtiges Gebiet der Seidenindustrie. Überall in der längs der Straße stehenden Häuserreihe wird das feine Erzeugnis des Seidenwurms zu kostbaren Geweben verarbeitet. Unter jedem Dache klappert's, schnurrt's, summt's. Die Naturkraft braust auf allen Seiten hernieder, aber sie fließt ungehemmt, unbenutzt vorbei. Nur zu einem winzigen Teil hat sie der Seidenweber vor seinen Stuhl gespannt. Über den rasenden Bächen auf beiden Seiten der Straße treiben in gemächlichstem Gang Wasserräder. Eine Holzleiste bildet die Transmission, trägt die Kraft auf irgend eine Spule. Im allgemeinen wird die Maschinerie mit Muskelkraft getrieben. An den Stühlen sitzen junge Mädchen oder alte Mütterchen; an den Türen hocken Bübchen, die mehr schlafend als wachend eine Kurbelwelle in stetem Lauf halten, während innen die Schwesterchen mit verantwortungsvollen Blicken den Weg des Seidenfadens über die Spule bewachen. Am Feuerplatz weilt ein junges Weib, das ein Kind auf dem Rücken gebunden, einen trinkenden Säugling in einem Arm hält und mit dem andern Spulen sichtet. Alles schafft, vom zartesten Kindchen bis zum gebrechlichsten Großmütterchen, für trocken Brot, nein für elenden chinesischen Reis. Der tägliche Durchschnittslohn der Seidenspinnerin beträgt 23 Sen oder 46 Pf.
Die Seidenwürmer mußten früher eingeführt werden. Nach vielen Mühen ist die Zucht im Lande gelungen. Auf dem Marsche nach den Kupferminen in Aschlo hatte ich verschiedentlich Gelegenheit zu beobachten, wie groß Geduld und Sorgfalt sein müssen, die Brut ins zeugfähige Alter zu bringen. Auf großen Korbgeflechten lagen die weißen Dingerchen zu Tausenden in molligem Grün. Weit mehr als einen Tag schlafen sie, bis sie vom Hunger geweckt werden. Das Laub, worauf sie gebettet sind, ist ihre Nahrung. Für 100 Pfund Würmer werden sechs bis acht Mark gezahlt. Auf meine Frage, ob denn die Wurmzucht genug zum Leben abwerfe, antwortete eine junge Frau mit traurigem Lächeln: „Es kann schon gehen.“ Was sie wohl unter Leben versteht?
Der Weg zum Kraterloch des Bergriesen ist in zehn unregelmäßige Abschnitte geteilt, die durch Rastbuden bezeichnet sind. Ein ätzender Holzkohlengeruch zeigt dem Unkundigen auch in stockdunkler Nacht ihre Lage an. Wir mochten wohl 3.000 Meter hoch geklommen sein, als der Tag zu grauen begann. Die im Kreise liegenden Bergketten zeigten allmählich eine bräunliche Färbung, die schnell rot, bald goldgelb wurde. Behutsam, leichtfüßig, liefen die ersten Lichtstrahlen über das Nebelmeer. Dann blitzte ein schmaler Streifen der Sonnenscheibe über die Bergspitzen. Mit mächtiger Kraft spaltete der Sonnenstrahl die Nebelmasse, ruckweise, als ob dem Wanderer die herrliche Landschaft nur nach und nach, streifenweise gezeigt werden sollte. Aus dem Nebelmeer trat sachte ein lebendiges Gemälde mit Seen, Bergen und Fluren hervor. Nebelwolken bildeten den Rahmen. Ihr lichtes Grau brachte den Gegensatz der Farben zur höchsten Wirkung.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als das letzte, das beschwerlichste Viertel des Weges vollbracht war. Der Marsch ums Kraterloch, der fast zwei Stunden beansprucht, gibt Gelegenheit, die herrliche Landschaft, ja selbst das Stille Weltmeer zu betrachten. Obwohl der Fudschi jetzt ruhig ist, wird er noch unter die Vulkane gerechnet. Der letzte Ausbruch fand 1707 statt; Dampf und Rauch stößt er auch heute noch aus. Der Durchmesser des Kraterloches mag 300 Meter sein; die Tiefe wird auf 140 bis 190 Meter geschätzt. Das Loch gleicht einer übergroßen Bessemerbirne, an deren Rand mammutartige Schlackenbärte von schwarzblauer Farbe und stählerner Festigkeit überhängen. Der Versuch, bis ganz hinunter auf den Boden des Kraterloches zu dringen, mußte im Interesse eines ungebrochenen Genickes aufgegeben werden. Ehe wir tokiowärts wanderten, handelte ich bei dem auf der Bergspitze weilenden buddhistischen Priester für ein Nickelstück ein Amulett ein. Ihm sollte überirdische Macht gegen alle Gefahren und böse Geister innewohnen. Solch ein Ding tat mir bitter not. Ich wollte es in Tokio neben mich auf die Schlafdecke legen. Das Geld für Insektenpulver konnte fortan gespart werden.
Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Erstausgabe Stuttgart 1913; Nachdruck Leipzig und Weimar 1986