1851 - Ida Pfeiffer
Auf Java beim Tempel Borobodur
In Magelang wurde mir das große Vergnügen zuteil, meinen lieben Landsmann Herrn Wilson kennenzulernen, dessen Arbeiten ich in Batavia gesehen und bewundert hatte.
Herr Wilson war von der holländischen Regierung beauftragt worden, die Hindudenkmäler und ganz besonders den Tempel Boro-Budoo von innen und außen auf das genaueste aufzunehmen. Diese kolossale Aufgabe hatte er soeben beendet, und in wenig Tagen sollte er nach Batavia zurückkehren.
Wir blieben einen Tag in Magelang; den nächsten Morgen begleitete uns Herr Wilson nach dem zwölf Paal entfernten Tempel Boro-Budoo und war so gefällig, unsere Führer und Erklärer abzugeben.
Der Tempel, als Gebäude betrachtet, hat gar nichts Kunstvolles oder Schönes an sich. Er besteht aus zehn bis zwölf Fuß hohen Steinwänden, die an einem kleinen Hügel, den sie ganz einnehmen, stufenweise aufgeführt sind und ein regelmäßiges Viereck von 362 Fuß Durchmesser bilden. In fünf Galerien erheben sich die Wände eine über der andern bis zu einer kleinen Fläche, von welcher wieder drei Terrassen aufsteigen; den Schluß bildet das Sanktuarium, eine große Glocke (leider schon größtenteils eingestürzt), unter welcher ein Buddha sitzt, der vorsätzlich unvollendet blieb, denn die Hindu sagen, daß das Allerheiligste von Menschenhänden nicht vollendet werden kann.
Die Höhe der ersten fünf aufsteigenden Terrassen beträgt 90 Fuß, des ganzen Tempels mit den letzten drei Terrassen und der obersten Glocke 120 Fuß. Auf der obersten Terrasse stehen 24 durchbrochen gebaute Glocken, auf der zweiten 28, auf der dritten 32, jede mit einem sitzenden Buddha. Im ganzen enthält der Tempel 505 große Statuen des Buddha und 4.000 Basreliefs, die an den Innen- und Außenseiten der Galerien ausgehauen sind. Kein leeres Plätzchen zeigt sich an den Wänden; alles ist mit menschlichen Figuren, Arabesken usw. bedeckt.
Zu dem Zeichnen dieser ungeheuren Menge von Statuen, Basreliefs, Figuren und Arabesken hat Herr Wilson nur vier Jahre verwendet. Der ganze Tempel ist mit seinen unzähligen Einzelheiten auf 400 große Velinbogen (pergamentartiges Papier) mit der Feder gezeichnet und auf diese Weise für die Nachwelt bewahrt, wenn er selbst schon lange in Schutt gefallen sein wird.
Aus den Basreliefs kann man die ganze Schöpfungsgeschichte der Inder, die Erschaffung des ersten Menschen, die nach und nach sich vervollkommnende Heiligkeit des Buddha usw. ersehen. Diese Schöpfungsgeschichte hat sehr viel Ähnlichkeit mit der unsrigen.
Die Figuren und Gruppen auf den Basreliefs kommen mir hier viel richtiger, geschmackvoller und kunstreicher in Ausführung und Zusammenstellung vor, als ich sie an den Tempeln zu Elora, Adjunta und anderen in Britisch-Indien gesehen habe; dagegen fand ich dort die Arabesken ungleich zierlicher, die Glocken und Figuren bei weitem kolossaler. Was den Tempel als Gebäude anbelangt, kann man ihn natürlich mit den großartigen hindostanischen Tempeln nicht vergleichen, da er, wie gesagt, nur aus parallel laufenden Steinwänden besteht. Die Bauart ohne Mörtel, die Wölbung durch Vorschiebung der übereinandergelegten Steine ist hier wie dort dieselbe.
Man vermutet, daß der Tempel Boro-Budoo, wie auch die übrigen Hindutempel auf Java, im achten Jahrhundert nach Christi Geburt erbaut worden seien. Welche Unzahl von Künstlern muß es zu jener Zeit gegeben haben, um solche Riesenkunstwerke zustande zu bringen!
Obwohl der Hindugottesdienst schon im 15. Jahrhundert von dem Mohammedanismus verdrängt und ausgerottet wurde und ganz Java seit dieser Zeit mohammedanisch ist, so kommen doch Tausende von Javanesen zu gewissen Zeiten im Jahr nach den Tempeln, um Gebete zu verrichten. Die Buddhas in dem Tempel Boro-Budoo werden besonders von dem weiblichen Geschlecht hoch verehrt. Viele Mütter pilgern hierher, um vor ihrer Niederkunft zu bitten, nach derselben zu danken; Bräute tragen ihre geheimen Anliegen vor. Ein Teil des alten Gottesdienstes ist auf diese Art in den neuen übergegangen und hat sich mit ihm verschmolzen.
Der Tempel Boro-Budoo ist leider schon ziemlich in Verfall; ein starker Erdstoß - und das Ganze kann ein Schutthaufen werden. Viele Wände und Steine hängen in so losen Fugen und Geschieben über- und aneinander, daß man mit Angst bei denselben stehenbleibt oder vorübergeht - ein Luftzug scheint hinlänglich zu sein, sie umzuwerfen. Nur der begeisterte Künstler konnte die Gefahr vergessen und jahrelang hier verweilen. Häufig fielen Steine aus ihren Fugen neben ihm zu Boden, ja kürzlich bei einer schwachen Erderschütterung eine ganze Nische. Auch hatte Herr Wilson von der glühenden Hitze viel zu leiden, die sich zwischen den engen Wänden bildete und von keinem Lufthauch gemildert wurde.
In der Entfernung von nur einem Paal steht der zierliche Tempel Mendut. Er mag zwanzig Fuß im Durchmesser und fünfzig in der Höhe haben und geht in einer Kuppel aus; die Steine halten sich durch ihre eigene Schwere, wie in den Glocken zu Boro-Budoo. Sachverständige erteilen diesem Tempelchen ein besonders großes Lob; sie bewundern die Wölbung, die Zierlichkeit der Arabesken, die drei darin sitzenden Figuren, welche, wenn in aufrechter Stellung, sechzehn Fuß hoch wären. Die Rundung der Formen, das höchst richtige Ebenmaß der Glieder, die edlen Gesichtsbildungen dieser Statuen sollen das Vollendetste sein, was man bisher von der Bildhauerarbeit der Hindu gesehen hat. Die mittlere Figur stellt einen Buddha, die beiden anderen stellen Könige vor.
An diesem Kleinod der Kunst nahmen wir Abschied von Herrn Wilson und fuhren noch 18 Paal weiter nach Djogokarta, der Hauptstadt des freien Fürstentums gleichen Namens.
Pfeiffer, Ida
Die Reise 1851 durch Borneo, Sumatra und Java
hrg. von Gabriele Habinger, Wien 1993
Titel der Originalausgabe: Meine Zweite Weltreise, Wien 1856