1898 - Kurt Boeck
Mit dem Fotoapparat zu Fuß nach Kathmandu
Ich hatte meinen Tragstuhl zu einer kleinen Reparatur in Marku zurücklassen müssen, und wie gewöhnlich zogen es die Kulis vor, zusammen ebenfalls zurückzubleiben, statt mich mit dem Gepäck zu begleiten; gegen solche Eigenmächtigkeiten ist in Nepal nichts auszurichten, man muß zufrieden sein, wenn die Leute schließlich am Ziel erscheinen.
Wie ich nun so einsam meinen Weg durch die dürftigen Reisfelder verfolgte, sah ich von einer hochgelegenen Stelle aus einen Menschenknäuel nach dem anderen aus einer fernen Schlucht des sich weiterhin wieder senkenden Weges heraus- und mir entgegenkommen. Ich trat etwas zur Seite und verbarg mich ein wenig hinter einem stattlichen Felsblock; mit Freudebeben wurde mir klar, daß dieser rätselhafte Zug gar nichts Geringeres vorstellte als die Haremsdamen der in das Jagdlager ziehenden hohen Herrn des Landes!
Die zarten, lieblichen Wesen, die an mir vorbeigetragen wurden, konnten mich in meinem Versteck nicht gleich gewahren, und so vermochte ich mich an den reizenden Gesichtern ganz nach Herzenslust sattzusehen, da sie fast durchweg im offenen Tragstuhl und nur etwa acht oder neun vergoldeten Palankins mit siebartig durchbrochenen Wänden befördert wurden. Die jungen Frauen schienen eben erst dem Mädchenalter entwachsen zu sein, und ich kann mich nicht entsinnen, weder in Birma noch in Japan liebreizendere Geschöpfchen gesehen zu haben. Sie saßen in ihren Dändis so munter wie in einer Wanne voll Schlagsahne, denn die zahllosen Lagen von feinstem, buschig gewelltem Seidentüll, die sich jede vornehme nepalesische Dame um die Taille zu wickeln pflegt, bis sie aussieht wie eine Primaballerina, deren Röckchen bis zum Fußboden verlängert sind, machen beim Niedersetzen der Damen tatsächlich den Eindruck von Schlagrahm oder Seifenschaum. Um die Freuden der Jagd recht vielseitig werden zu lassen, schienen die hohen Herren Nepals dem Grundsatz "Kein Vergnügen ohne Damen!" recht ausgiebig huldigen zu wollen, wenigstens nahm der Zug gar kein Ende, so daß ich schließlich der Versuchung nicht widerstehen konnte, meinen photographischen Handapparat in Bewegung zu setzen, aus dem Hinterhalt auf die lieblichen Opferlämmer zu zielen und meuchlings Feuer zu geben.
Ich muß gestehen, daß ich mich meiner Handlungsweise schämte und wahrscheinlich fürchterlich räsonieren würde, wenn jemand meine Herzallerliebste heimlich auf die Platte brächte. Aber erstens: "Verbiete dem Seidenwurm zu spinnen, wenn er sich gleich dem Tode näher spinnt!" heißt es ja wohl im Tasso, und dann sind schließlich photographische Negative für einen Reisenden, noch dazu für einen, der naturgemäß vom Neid nicht verschont bleiben kann, oft wirksamere Belege als die heiligsten Eide.
Leider lenkte mein blitzender Kodakapparat die Aufmerksamkeit der Haremsdamen und ihrer Eunuchenumgebung auf mein Versteck. Blitzschnell hielten sich die Schönen ihren Sonnenschirm vor die Augen oder ließen die Vorhänge ihrer Tragstühle herunter, doch zum Glück so, daß wenigstens die reizenden kleinen Händchen draußen blieben, über die sie Handschuhe aus schwarzen Seidenfäden gezogen hatten, deren Kreuz- und Knotenpunkte mit blitzenden Steinen verziert waren. Gleichzeitig kam der Wächter ganz entrüstet auf mich zugeeilt, der bisher auf einem erhöhten Platz gestanden hatte, um jede Annäherung fremder Männer fernzuhalten. Mit höflichem Lächeln hielt ich ihm meinen Paß entgegen, aber wütend erklärte er, daß ich mich solchen Bildermachens in Nepal zu enthalten und vor allen Dingen das aufgenommene Bild herauszurücken hätte. Ich bedauerte unendlich, daß er zu früh käme, da das Bild wirklich noch nicht fertig sei, versprach auch, diesen Apparat nie wieder in Nepal zu gebrauchen, schwieg aber behutsam von meiner sonstigen photographischen Ausrüstung. Mit wachsender Keckheit fügte ich dann hinzu, daß ich, sobald ich nach Kathmandu käme, mich beim Durbar über sein unhöfliches Benehmen beschweren würde. Ganz verblüfft über meine Zuversicht zog der oberste Wächter der holden Weiblichkeit ab, während mir keineswegs sehr wohl zu Mute war. Wenn in dem verschlossenen Lande Nepal meine photographischen Versuche ferner soviel Widerstand fanden, hatte alle meine Vorrichtungen, die ich auf der Reise mit mir schleppte, herzlich wenig Wert für mich. So hatte ich an einem einzigen Tage zwei für mich denkwürdige Begegnungen mit der sonst so unnahbaren indischen Damenwelt, für die ich, weil sie voll so viel rührender Weiblichkeit ist, sehr beträchtliche Sympathien übrig habe.
Meinen Schirm und Sonnenhelm hatten die Kulis in Verwahrung genommen, als aber die Sonne am schärfsten stach und blendete, waren sie natürlich damit nicht zur Stelle, so daß mir nichts übrig blieb, als einem Bauernjungen einen Korb voll Rettiche abzuhandeln, nur um mir den dichtgeflochtenen Bambuskorb als Schattenspender über den Kopf zu stülpen, weil ich bereits ganz schauderhafte Kopfschmerzen und jenes unheimliche Schwarzwerden vor Augen verspürte, das einem Sonnenstich voranzugehen pflegt. Mit Ingrimm dachte ich auch an die köstlichen Orangen, die mit meinem Tragstuhl zurückgeblieben waren, während ich nichts anderes bei mir hatte, um meinen brennenden Durst zu stillen, denn meine Rettiche wären mir wohl im Münchner Hofbräu, aber nicht hier von Nutzen gewesen.
In Tschitlong traf ich ein ungeheures Getümmel. Auf die bereits von mir getroffenen vorausgeschickten Haremsdamen, Treiber und Elefanten folgte hier die Meute mit den Hundewärtern und Büchsenspannern, die in Tschitlong ihr Nachtlager beziehen sollten. Meine Augen waren aber von der blendenden Sonne so entzündet, daß sie schmerzten und ich schleunigst das Rasthaus aufsuchen mußte.
Ich kletterte die Stiege zu dem unsauberen, durch Fensterladen verdunkelten oberen Stockwerk empor und setzte mich erschöpft in einen Wandnische, um die Ankunft der Kulis abzuwarten, die mich nun schon so oft durch ihr Zurückbleiben verstimmt und geschädigt hatten; ich fühlte mich ernstlich unwohl und wußte, wie wenig mit solchen Zuständen in diesem Klima zu spaßen ist. Plötzlich klirrten Ketten in dem unteren Treppenraum, Hunde kläfften, und ich hörte, wie ein paar auf der Treppe zurückbleibenden Schikare, die mich in dem herrschenden Dämmerlicht nicht bemerkten, ihren auf Leoparden dressierten Bluthunden die Ketten lösten; sofort stürmten die Köter die Treppe vollends herauf und auf mich los. Die Hundewärter kreischten entsetzt auf, als sie durch meinen Zuruf meine Anwesenheit erfuhren und sprangen auch sogleich an meine Seite, um mit ihren Drahtpeitschen wie unsinnig auf die Rüden loszudreschen, die sie auch glücklich in eine Ecke zu prügeln und wieder an die Kette zu legen vermochten. Ich hatte schon früher einmal genug von Wolfshunden in den siebenbürgischen Karpaten zu leiden gehabt und war gar nicht begierig, mit Kötern, die mit Tigern und Rhinozerossen verkehrten, in nähere Berührung zu kommen. Die gewaltige Aufregung aber hatte wenigstens das Gute gehabt, mich gründlich in Schweiß zu bringen, worauf ich mich wesentlich wohler fühlte und auf einem Tscharpeu, den die Hundewächter herbeischleppten, in Schlaf sank. Als ich aufwachte, stand mein Tragstuhl neben meinem Lager, und gierig fiel ich über die Orangen her, während ein Oxtailragout und andere Leckerbissen aus meinem Proviantkorbe warm gemacht wurden.
In der Hoffnung, daß ich in der staubigen Paua voll Spinngeweben und Ungeziefer die Nacht zubringen würde, schleppten die Kulis mein ganzes Gepäck die Treppen herauf, erschraken aber nicht wenig, als ich ihnen rundweg erklärte, daß ich ihr beständiges Zurückbleiben mit den für mich nötigsten Sachen satt hätte und noch am selben Abend über den Tschandragiripaß bis nach Thankot wollte. Ganz abgesehen von der Unsauberkeit des Ortes hätte mir auch das unaufhörliche Gekläff aus Hunderten von Hundekehlen keine angenehme Nachtruhe vergönnt; deshalb bat ich den Hauptmann, der die Meute befehligte, um Beistand und brachte mit dessen Hilfe auch eine neue Kulikolonne auf die Beine, nachdem die Mehrzahl meiner Träger erklärt hatte, nicht mehr weiter gehen zu können. Ich zog es diesmal vor, mich behaglich in meinen in allen Fugen ächzenden Tragstuhl zu setzen, doch hatten es die Kahars nicht leicht, gegen den uns begegnenden Strom von Jagdhelfern anzuschwimmen, die wie ein Heerwurm von der Höhe des Tschandragiripasses auf einem überaus bösartigen, steinigen Pfad nach Tschitlong hinunterstiegen. Immer neue Mengen von Hunden und Jagdfalken wurden an mir vorbeigeführt, immer seltsamere Gestalten hoher und höchster Würdenträger an mir vorbeigetragen. Die meisten dieser Generäle und Hofbeamten schienen es nämlich für das Bequemste zu halten, sich nicht in einem Stuhl, sondern gleich in einer an einer dicken Stange festgebundenen Wolldecke wie ein Paket über Berg und Tal transportieren zu lassen. Bisher hatte ich immer geglaubt, bei dem von mir erwähnten Durbar des Maharadscha von Gwalior die wunderlichsten Gestalten Indiens versammelt gesehen zu haben, hier aber kam mir das meiste von dem, was Nepal an martialischen Prachtgestalten aufzuweisen vermag, wie auf einem Präsentierteller, oder richtiger in Hängematten, entgegen.
Es war ein Glück, daß die schweren Nachmittagsschatten überhaupt keine Momentp. mehr zugelassen hätten, sonst hätte mich doch das Verbot des P. unsäglich geärgert. Die bunteste Augenweide, die Indien bieten kann, zog hart an mir vorüber, der ganze ungeheure Schwarm von Menschen, all die seltsamsten Geräte und die Berge von Lebensmitteln, die zu einem Zeltlager so vieler an glänzenden Prunk und üppiges Wohlleben gewöhnter Damen und Herren gehören. Ich mußte staunen, wie viel Kräfte allein zum Fortbewegen der zahllosen Ballen und Leinwand und des Waldes von riesigen Zeltstangen erforderlich waren, aus denen solche Zeltstadt entsteht.
Das größte Vergnügen machte mir die Begegnung mit dem zu einer solchen Jagd und Zelthofhaltung erforderlichen Kleingelde. Je tausend Rupien in verschiedenen Münzsorten waren in einen gewaltigen Sack eingenäht, der dann wie ein Heiligtum in einer Hängematte transportiert wurde. Es schienen mehr als hundert derartige vollgepfropfte Portemonnaies zu sein, deren Inhalt bei dieser Gelegenheit unter die Leute gebracht werden sollte. Hin und wieder wurde auch einem in seiner Hängematte schaukelnden Großen des Reiches ein Jagdpferd nachgezerrt, das zitternd und schaumbedeckt nur durch Anwendung von brutaler Gewalt schrittweise auf diesem abscheulichen Wege vorwärts zu bringen war; wertvollere Pferde wurden dagegen, in Sänften oder riesigen Dändis verpackt, von einer Anzahl Kulis über die Paßhöhe geschafft.
So löste ein merkwürdiger Anblick den anderen ab. Ich glaube jedes Gewehr und jede Badewanne, jeden Musikanten und jede Tänzerin, kurz all und jedes gesehen zu haben, was zu dem Jagdlager über die Berge geschafft wurde. Ich konnte wirklich nicht zählen, wie viele hundert Körbe voll Orangen, Ananas und Rettiche, wieviel Hunderte von Säcken mit Reis und Käfigen voll Enten und Hühnern, oder wieviel Ziegen- und Hammelherden an mir vorbeigeschafft wurden, aber jedenfalls übertraf dieses Übermaß alle Vorstellungen, dich ich mir bis dahin von einer solchen asiatischen Jagdveranstaltung gemacht hatte. Man zeigte mir zum Beispiel allein fünfzig Körbe mit Fasaneneiern, deren Gelbes die Damen des Hofes zur Pflege ihres schönen schwarzen Haares zu benutzen gedachten!
Auf der Paßhöhe angelangt, kletterte ich aus meinem Dändi heraus, um meinen Abstieg zwischen den dichten Scharen der Heraufkommenden lieber zu Fuß zu versuchen. Ich setzte mich, um meine Schuhe wieder gegen derbere Bergstiefel zu vertauschen, auf einen Felsblock, und hatte bald eine Unzahl von mich anstaunenden Bergsoldaten um mich versammelt; die Aussicht nach Süden, auf den zurückgelegten Weg, lag unbeschränkt vor mir, die nach Norden war aber zu meinem Leidwesen durch dichtes Buschwerk vollständig versperrt, und ich blickte ziemlich verdrießlich auf diese üppig grünende Wand.
Während meines Schuhwechsels trat ein höherer Offizier an mich heran und gab, nachdem er gehört hatte, daß ich nur aus Wissensdrang nach Nepal gekommen sei, um die Merkwürdigkeiten des schönen Landes kennen zu lernen, einigen Gorkhasoldaten einen leisen Befehl, den diese ihren noch emporsteigenden Kameraden übermittelten. Mit wunderbarer Schnelligkeit sanken unter den wuchtigen Hieben ihrer krummen Kukrimesser die Bäume und Sträucher hinter meinem Sitz und enthüllten dort wie mit einem Zauberschlage ein Bild, das man so märchenhaft schön nirgends in der Welt zum zweiten Mal finden kann.
Allerdings hatte ich ja bereits früher in den Gletscherwildnissen des eigentlichen Himalaja aus allernächster Nähe viel erschütterndere Eindrücke der Hochgebirgslandschaft empfangen, hier aber sah ich, wenn auch aus viel größerer Ferne, dafür aber um so umfassender, die großartigsten Berggestalten unserer Erde, den Gaurisankar, Kandschendschunga und Dhaulagiri als denkbar erhabensten irdischen Hintergrund, vor dem nun Groß-Nepal, das fruchtbare Tal des Bagmatistromes mit der Landeshauptstadt Kathmandu, zu meinen Füßen lag. Diese blendend weiße Alpenkette am Horizont begann bereits in den letzten Strahlender sinkenden Sonne zu glühen, und goldschimmernde Tempelspitzen lenkten meinen Blick in die Tiefe zu zahlreichen Städten und Dörfern inmitten wohlbebauter Felder, zwischen denen die Wasserläufe des Bagmati und Wishunmati und ihrer Zuflüsse blinkten. Die ganze Landschaft war von vollendetster, wahrhaft idealer Schönheit, verblaßte aber bald in Nebel und Dämmerung. Nur der Firngipfel des Everest-Gaurisankar strahlte noch geraume Zeit in rötlichem Lichte und rechtfertigte den Glauben der Nepaler, daß der furchtbare Gott Mahadeo mit besonderer Vorliebe auf diesem Berggipfel throne. Ohne die hilfreiche Pionierarbeit der Gorkhas hätte ich freilich nichts von diesem unvergleichlichen Bilde sehen können, und es war eine wahre Herzensfreude für mich, unter so günstigen Vorbedeutungen in das sagenhafte Land zu gelangen.
Der Abstieg nach dem 2.500 Fuß tiefer gelegenen Thankot war in der Dunkelheit recht beschwerlich. Schlimmer aber war es, daß auch rund um Thankot jedes Fleckchen Land mit Zelten und Bambushütten des Jagdgefolges gespickt und die Luft so durch Fackelqualm verdorben war, daß auch hier ein Nachtlager kein Vergnügen für mich geworden wäre.
Durch verschwenderische Anwendung von Bakschisch glückte es mir, auch hier neue Träger zu gewinnen und mit diesen in tiefer Mitternacht vor meinem Standquartier in Nepal, dem Dak-Bungalow in Kathmandu, einzutreffen. Allerdings zog ich mir, warm von dem strapaziösen Abstieg, in der bitterkalt werdenden Nacht während des Transports im Tragstuhl einen bösen Rheumatismus zu, aber ich erkannte doch schon bei dem mitternächtlichen Zuge durch die Straßen Kathmandus, daß ich in einem überaus merkwürdigen Lande reiste, dessen Besuch die darauf verwendete Mühe in reichem Maße zu lohnen versprach.
Boeck, Kurt
Durch Indien ins verschlossenen Land Nepal
Leipzig 1903