Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1895 - Eugenie Rosenberger, Kapitänsfrau
In Rangun
Myanmar

Rangoon, 13. April. Die Ankunft in Rangoon ist nicht vielversprechend. Die Ufer sind flach mit niedriger Sumpfvegetation, nur bei Elephant Point erheben sich einige Baumgruppen mit Palmen. Langsam windet sich das Schiff, von dem kleinen Schlepper gezogen, die weite Wasserstraße hinauf. Schon von ferne erblickt man auf dem einzigen Hügel der Gegend die goldene Spitze der Shway Dagone-Pagode, die größte der Welt, das Nationalheiligtum der Birmanen. Zu ihren Füßen, weit ins Land hinein, breitet sich, von schmalen Flussläufen und Kanälen durchschnitten, die Stadt aus, die auf mehr als 180.000 Einwohner geschätzt wird. Sie liegt indessen so tief, dass man den Eindruck einer so großen Stadt erst nach und nach bekommt. Am linken Ufer des Stromes, also dem Hereinsegelnden zur Rechten, sieht man nur die Hafengebäude. die zunächst liegenden, europäisch gebauten Straßen, Speicher, mächtige schwimmende Holzwerften, Zimmerplätze, auf denen Elefanten arbeiten, weiterhin zerstreut liegende Wohnungen in dichtem Gehölz.
    Auf dem rechten Ufer, der Dalla-Seite, ziehen sich Reismühlen mit rauchenden Schloten und godowns weit den Fluß hinauf, tiefer im Lande ragt hier und da zwischen staubigen Feldern und verdorrten Wiesen eine kleine Pagode aus schattigem Grün hervor. Der Verkehr auf dem Strome ist lebhaft; in Reihen ankern Schiffe, von Leichtern umgeben, in denen Kulis, lärmend und schreiend, mit dem Löschen oder Einbringen der Ladung beschäftigt sind. Schwer beladen gleiten die pittoresken, schön geschnitzten Reisboote den Fluss zur Stadt herab, der hohe Flussdampfer, seine drei offenen Galerien besetzt mit braunem Volk in farbiger Tracht, tritt seine Fahrt durch die verschlungenen Wasserstraßen des Deltas an; zwischen den Ufern und den Schiffen schießen kleine Dampfboote und Sampans hin und her.
    Der Rangoon-Arm des Irawadi ist so breit, dass man voraus keine Uferlinie wahrnimmt. Er kommt von Westen, die Sonne versinkt daher im Strom, Wasser und Himmel verschwimmen dann in goldener Glut, in der die Fahrzeuge sich wiegen, die Ufer leuchten im Abendschein, braunrot glänzen Segel und Tauwerk, und wenn die einbrechende Dunkelheit schon alles in violette Schatten getaucht hat, blitzt noch ein letzter Strahl auf der Spitze der großen Pagode.
    Das war der Eindruck unseres ersten Abends in Rangoon. So sah ich es seitdem mit immer neuem Entzücken viele, viele Male.
    15. April. Die Sonne brennt uns auf den Scheitel, dass wir durch Hut und Sonnensegel hindurch fühlen, wo sie steht. Heute früh wurde ein zweites großes Sonnensegel über die ganze Kajüte und das Hinterdeck gespannt, eine große Annehmlichkeit, da man nun das Oberlicht immer offen haben kann, auch bei Regen. Eben kommt ein Schauer und wird durch eine gelbe Staubwolke eingeleitet, die Strom und Stadt verhüllt.
    Der gestrige Tag war voll wie ein Ei. Um fünf Uhr standen wir auf und fuhren zu der großen Pagode, denn es war birmanisches Neujahr, und wir wollten sie im Festschmuck sehen. Es lohnte sich. Herrlich war schon die Fahrt in der Morgenkühle unter den mächtigen Bäumen der Hauptstraße, die nach der Pagode führt und die bereits belebt war mit hineilenden und zurückkehrenden Festgenossen, Händlern mit Gemüsen und Früchten, ungefügen kleinen Wagen mit Zugochsen bespannt, unter deren schützender Plane eine Menge hübscher, junger Gesichter hervorsahen.
    Die Pagode steht auf einem großen, zum Teil mit Steinfliesen belegten Platze auf einem Hügel, der von unten auf wie eine Festung mit weiten Gräben und starken Mauern umgeben ist. Vier breite Aufgänge in den Himmelsrichtungen führen hinauf, von denen zwei nicht mehr gangbar sind. Der Nordaufgang, durch den wir kamen, ist der schönste und am meisten benutzte. Man hat hier die Kunst der Bogengänge und gewölbten Dächer nicht erreicht, daher führen breite, tief ausgetretene Marmortreppen in Absätzen aufwärts unter reich geschnitzten Holzdächern, die sich siebenfach übereinander erheben und auf roten Holzsäulen ruhen. Treppe nach Treppe zieht sich unter solchen Dächern den Hügel hinauf, zwischen jeder ein schmaler, offener Raum. Steht man nun oben, so erblickt man zwischen dem Dämmerlicht der Treppen die sonnenhellen Übergangsstreifen, und die bunte Menge in Festkleidern, Blumen im Haar, blühende Zweige in den Händen, wogt bald in scharfen hellen, bald dunkleren Flecken auf und ab. Bei uns erinnert ein Menschengewimmel meist an schwarze Ameisen, hier ist es ein Durcheinander von leuchtenden Farben.
    Zu beiden Seiten der Stufen - den Mittelweg dürfen sie nicht betreten - kauern Aussätzige und Krüppel, strecken flehend die verstümmelten Glieder aus, und wenige gehen vorüber, ohne ihren Anna in die hingehaltene Bettlerschale zu werfen.
    Oben ist es herrlich. Die vergoldete große Pagode nimmt den Mittelpunkt ein. Den weiten Platz bedecken im Schatten der prachtvollsten Bäume zahllose offene Hallen, Tempel, Kapellen, Schreine, kleine Pagoden. Überall und in allen Größen Buddhastatuen, liegende und sitzende, alte und neue, aus Zement oder Alabaster, manche im frischen Glanze bunter Zinnfolie, edler Steine und Perlen; davor stehen Blumen, hängen Kränze, sind bunte Sonnenschirme aufgesteckt. Neben niedrig hängenden Glocken liegen Geweihe, um sie anzuschlagen; kauernde Priester lassen Gongs ertönen; überall liegen Beter; einige unter freiem Himmel auf den Höfen, andere vor den Altären in den Kapellen. Zahllose Lichtchen brannten im Hintergrunde der Tempel. Ich sah Frauen Päckchen Lichter halten, die ihnen ein Mann abnahm, um sie aufzustecken und anzuzünden; Kinder liefen fröhlich dazwischen; ein ganz kleines schrie; die Mutter, die auf den Knien lag, knöpfte ruhig ihre Jacke auf und gab ihm die Brust. Als sie dabei den Kopf drehte, sah ich, dass sie selbst ein ganz junges Geschöpf war; sie konnte kaum zwölf Jahre zählen, und ihr rundes Gesicht hatte den kindlichsten Ausdruck. Ein Kind hatte das ganze Gesicht mit kleinen gelben Blumen beklebt, und ein anderes kam und drückte ihm ein paar abgefallene eifrig wieder an. Einem kleinen Jungen, der mir Rosen gebracht hatte, gab Jürgen eine Rupie. Gleich darauf forderte er Schwefelhölzer. Der Kleine sprang mit lautem »Mama! Matches!« zu seiner Mutter, die allerhand feil hatte, und brachte Jürgen eine Schachtel, sichtlich, um für das fürstliche Geschenk zu danken.
    Ein junger Birmane führte uns und zeigte uns die berühmte große alte Glocke. Sie soll silbern sein, ist gut einen halben Fuß dick, etwa 15 Fuß hoch und 5 Fuß im Durchmesser. Ich schlug sie natürlich auch an. Dann zeigte uns der Birmane den chinesischen Tempel und »Berg«, den Mandaley-Berg, den Berg der japanischen Buddhisten usw. Diese »Berge« waren in Seitenkapellen, etwa sechs Fuß hoch, voll kleiner, kaum spannenlanger Figuren, die offenbar Legenden des betreffenden Volksstammes darstellten,. z.B. einen Zweikampf auf Elefanten, wobei der eine Elefant auch ein Schwert mit dem Rüssel schwang. Auf einem anderen »Berg« war ein indisches Dornröschen zu sehen - zwei schön gekleidete Damen lagen schlafend vor einer gleichfalls auf einem Ruhebett schlummernden Schönheit, und ein junger Held mit einem Schwerte unter dem Arm schlug einen Vorhang aus weißem Mull zurück und erblickte die Prinzessin mit Staunen und Wohlgefallen.
    Jürgen machte mich darauf aufmerksam, wie frei und fröhlich der Verkehr war, Beten, Verkaufen, Lagern und Essen im Schatten, Kinder überall, ohne dass man ein rohes Wort, Schelten, Zank oder auch nur störenden Lärm gehört hätte. Ich konnte mich kaum losreißen, doch vertrieb uns endlich die zunehmende Hitze.
    Sonntag früh um sechs waren wir nochmals auf der großen Pagode; Herr Pauly wollte hinauf und der Impuls teilte sich uns mit. Alle Tage könnte ich auf die Pagode gehen, während mir heute eine Dame sagte: »Wenn man sie einmal gesehen hat, ist man befriedigt.« Wir finden sie unerschöpflich, es ist dort alles, Uraltes und Neues, Schönheit, Kunst, Ungeschmack durcheinander. Der Kultus hat viel Ähnlichkeit mit dem katholischen, die bunten Schreine, die Beter, der Rosenkranz, die brennenden Lichter, der Ausputz, aber eigenartig ist natürlich die Form der Pagode, die wundervollen Bäume, das Bewachsen und Begrünen von frisch vergoldeten Dächern und Spitzen, die Flut von Licht und Farbe, das Fremdartige und Malerische der braunen Menschheit. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass man selbst nur eine Zufallserscheinung ist, dass die Pagode ihre feine, glänzende Goldkrone, die in der Höhe der Paulskirche mit Diamanten und Rubinen geschmückt ist, vor vielleicht 2.000 Jahren ebenso wie heute trug, dass sie Hunderte von Malen frisch vergoldet ist, dass die Beter ebenso ihre Blumen in die Höhe gehalten haben, lange, ehe ein Europäer den Fuß auf diesen Strand setzte. Es ist deshalb schwer, sich das zu denken, weil das Volk einen so zivilisierten und wohl erzogenen Eindruck macht. Wir hörten Musik und fanden einen Blinden, der mit unbegreiflicher Präzision mit Stäbchen aus hartem Holz auf einer Art Harmonika mit gewölbtem Resonanzboden spielte, dazu sang er und es war wirklich Melodie und Takt darin, ebenso ein anderer Blinder, der sich auf einem Streichinstrument begleitete; er riss seinen großen Mund auf und sang nach den Mienen der Hörer zu urteilen mit viel Ausdruck und Humor. An einer stillen abgelegenen Stelle der Mauer fanden wir die eingefriedigten Gräber der englischen Offiziere, die auf der Stelle, wo sie beim Sturm dieser Pagode fielen, begraben worden sind. Es muss ein entsetzliches Gemetzel gewesen sein, ich versuchte mir das Bild vorzustellen, die Wut und Verzweiflung, mit der die Birmanen ihr Heiligtum und zugleich ihre Freiheit und ihr Vaterland verteidigten, wie die Kugeln in die alten Heiligtümer schlugen und die weiten Höfe voll Toter und Verwundeter lagen. Und dann dachte ich des Jammers in den stillen traulichen Heimstätten im fernen England, deren Stolz und Freude hier im Schatten dieser Brotfruchtbäume gebettet ist.
    Von der Mauer dort oben hat man einen herrlichen Rundblick, meilenweit erstreckt sich der Wald und wechselt mit Anpflanzungen, Gärten und künstlichen Seen.
    Gestern morgen sah ich im Vorüberfahren einen Birmanen mit erhobenen Händen auf den Knien liegen und beten, an einer Stelle, wo man gerade gegenüber die große Pagode in der Morgensonne glänzen sah; so heilig ist der Boden, dass viele schon auf dem Wege dorthin die Schuhe in den Händen tragen. Eine vornehme Familie beobachteten wir. Die Mama hatte Diamantringe von unglaublicher Größe an Ohren und Fingern, abgesehen von so vielen goldenen Ketten, als überhaupt anzubringen waren: Töchter und Söhne, schön geputzt in Gold und Seide, mit Blumen im Haar, begleiteten sie, ein kleines Mädchen schritt mit der eigentümlichen Grandezza und der etwas schnörkligen Anmut, die das Kostüm mit sich bringt, über den Platz, es ist ein erfreulich zu beobachtendes Volk, das etwas Edles, Stolzes und Wohlerzogenes hat.
    Herr Pauly sagte, wie schön müsste es gewesen sein, als es alles frisch und fertig war, aber das ist es nie gewesen. Diese Sonne, der Staub und die sechs Monate tropischer Regen machen beständige Ausbesserungen nötig. Wir sahen einen Maler bei seiner Hantierung und eine ganze Schnitzwerkstatt, die Arbeit war von den alten Mustern nicht zu unterscheiden. Diese Marmorfliesen und Granitstufen jedoch können nur in Jahrhunderten so ausgetreten sein. Es ist ein Gefühl, wie es mich am Handeck-Fall überkam: so tost das Wasser über die Felsen, so spielen die Regenbogen ineinander, immerfort, ob ein menschliches Auge es sieht oder nicht. Die Bettler erheben die verstümmelten Hände, die Leute halten betend ihre Blumen empor und die goldene Krone der Pagode funkelt im blauen Himmel wie jetzt, wenn wir längst verweht und vergessen sind.

Rosenberger, Eugenie
Auf großer Fahrt
Tagebuchblätter einer Kapitänsfrau aus der großen Zeit der Segelschiffahrt
Erstausgabe 1899, Nachdruck 1997

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