Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1897 - Georg Wegener
Am Ende der Welt
World’s End, Ceylon / Sri Lanka

Die Bahn von Nanu Oya im höchsten Teil des ceylonesischen Hochlandes bis nach Banderawela war erst vor kurzem eröffnet; in Murray’s Handbuch stand sie noch gar nicht. Keuchend, wie noch ungewohnt dieser Arbeit, klettert der kleine Zug aufwärts an der Wand des herrlichen Tals, das, vom Teeanbau noch unberührt, in mächtigen Urwald-Baumschlag von krauser Phantastik gehüllt ist. Die roten Blattschösslinge des Kalophyllum geben dem Wald einen für uns herbstlich erscheinenden Farbenschimmer, der in Wirklichkeit aber Frühlingswuchs ist. Rasch steigen wir höher und höher, die Temperatur, 16 °C, erscheint uns empfindlich kühl. Die Höhenlage prägt sich auch deutlich und deutlicher im Charakter der Vegetation aus. Der Baumwuchs neben uns wird niedrig, knorrig und seltsam verästelt und mit dicken Flechten überhangen, wie in der Wolkenregion des Pidurotalegalle, des höchsten Berges von Ceylon, den wir gestern bestiegen. Lange Flechtenbärte hängen an den Zweigen herab und Feuchtigkeit tropft aus den dicken Moospolstern, von den ewigen Nebeln. Hier und da unterbrechen den Wald hochmoorartige Bildungen, sumpfige Flächen mit starrem, büschelförmig wachsendem Gras. Endlich wird der höchste Punkt der Bahn erreicht; eine Tafel (6224 Fuß) kennzeichnet ihn. Das Tal vor uns scheint sich zu verengen, zu schließen. Jetzt ein Tunnel – und ein »Ah« entringt sich unseren Lippen.
    Wir haben mit diesem Tunnel die große Wetterscheide Ceylons überschritten. Der landschaftliche Charakter der West- und Ostseite der Insel ist ganz verschieden. Lediglich die Westseite ist es, die jenes üppige Tropenparadies bildet, das alle Reisenden mit solchem Entzücken erfüllt. Auf dieser haben wir die Region der Feuchtigkeit; der Südwestmonsun, der dampfbeladen über das Indische Meer herüberströmt, schlägt hier seine gewaltigen Regenmassen nieder, das innerceylonesische Hochland ist die große Wand, die ihn zur Verdichtung seiner warmen Dämpfe zwingt. Der Osten der Insel dagegen liegt hinter dieser im Regenschatten. Dürre herrscht dort zu der Zeit, wo die Westseite in Leben spendender Feuchtigkeit schwimmt. Zwar empfängt der Osten während der anderen Hälfte des Jahres, der Herrschaft des Nordostmonsuns, seinerseits den Wind zuerst. Aber dieser Monsun ist ein sehr trockener Wind, und so ist die Ostseite der Insel in jeder Hinsicht ungünstiger gestellt als die Westseite. Viel spärlicher ist dort die Besiedlung, viel unergiebiger der Boden, unvergleichlich viel einförmiger die Landschaft. Während die Westseite bis zu den höchsten Berghöhen hinauf in dichtem Waldkleide, eben dem überschwänglich gepriesenen Urwald Ceylons, prangt, ist die Ostseite größtenteils kahl und mit endlosen Grasfluren, den so genannten Patenas, überzogen.
    Ich hatte schon von der wetterscheidenden Bedeutung des Hochlandes gehört und war darauf vorbereitet worden, dass auf der Höhe der Wasserscheide die beiden Landschaftscharaktere hart aneinander grenzten. Allein, ich hätte doch nicht gedacht, dass dieser Gegensatz ein so scharfer, so gewaltsam ins Auge springender sei, wie es sich jetzt zeigt. Jener Tunnel hatte uns unter dem scheidenden Kamm hindurchgeführt, und an Stelle des Waldlandes lag plötzlich die Patena-Landschaft zu unseren Füßen. Ein weites, welliges Bergland von unregelmäßiger, vielgestaltiger Oberfläche. Alle seine Hänge, alle Rücken und Kuppen waren, so weit das Auge reichte, mit einem ununterbrochenen Grasteppich überzogen, als seien sie mit grünen Billardtuch beschlagen. Der gesamte Waldwuchs, der auf der anderen Seite das Charakteristischte an der Landschaft bildet, schien wie auf einen Zauberschlag verschwunden. Erst allmählich bemerkte man, dass in den schützenden Gründen doch noch kleine Waldkomplexe erhielten.
    Bei der Station Haputale ist der Wetterscheiderücken ganz schmal und scharf. Man schaut hier von der beherrschenden Höhe des Kammes nach beiden Seiten hinab: nach Nordosten in die Gras-, nach Südwesten in die Waldlandschaft.
    Im Osten breitete sich das kahle, vielbuckelige Bergland, dessen Ferne sich unter nebliger Wolkendecke verlor. Was aber von ihm sichtbar war, lag klar in seiner Modellierung wie in künstliches Relief vor Augen. Wolkenstreifen, tiefer als unser Standpunkt segelnd, kamen mit dem Nordostwind heran und stießen gegen die in mächtigem Bogen geschwungene Wand des scheidenden Kammes. Hier krochen sie dann mit dem an der Wand anprallenden und aufsteigendem Winde wie lebendige Wesen aufwärts bis zum Kamm und leckten mit langen Zungen über diesen hinweg. Es sah aus wie eine ins Riesenhafte vergrößerte Meeresbrandung, die gegen eine Mole fegt und lange horizontale Schaumstreifen darüber hinweg sendet. Unmittelbar neben unseren Füßen trieben die weißen Wolkenfetzen über den Kamm hinweg, um jenseits in der freien Luft zu verflattern, sich aufzulösen, wie Nebelballen zu tun pflegen, wenn die Luft jenseits einer zur Kondensation zwingenden Bergwand sich wieder freier ausdehnen kann.
    War schon der Blick nach dieser Seite eigenartig reizvoll, so versagt doch fast die Feder, um die überwältigende Schönheit des Bildes auf der anderen Seite zu schildern. Während das Bergland im Osten nur ganz allmählich zu größeren Tiefen herabsinkt, so schien es hier nach Süden und Südwesten mit einem einzigen, ungeheuren Riesensturz bis zur Tiefebene herniederzufallen. War das vielleicht auch eine Täuschung, indem die tief unter uns liegenden Vorberge, die wir beinahe wie vom Luftballon aus sahen, in ihrem Relief mit der wirklichen Ebene verschwimmen mochten, so war doch der landschaftliche Eindruck eine beinahe Schwindel erregend adlerartige Vogelschau. Wir schienen ganz hart am Rande eines riesigen Abgrundes zu stehen, unter dem etwa viertausend Fuß tiefer eine einzige unabsehbare Ebene sich hinzog. Die Engländer haben dem Hochlandrand hier den Namen World’s End, Weltende, gegeben. Und wirklich, man bebt fast schaudernd zurück, als könnte ein Schritt weiter Vernichtung bedeuten. Die Tiefe zu unseren Füßen war uns so fern, dass sie mit den bläulichen Schleiern der Luftperspektive überwoben war, ihre Grundfarbe war ein tiefdunkles, wundervolles Blau. Die Grasländer im Osten hatten einen gelblichgrünen Grundton gehabt, hier im Westen trat dafür das wunderbare ceylonesischen Blau der Ferne ein, das dem Waldwuchs entstammt; die ganze Ebene schien der Farbe nach mit einem einzigen Urwald überzogen. Nach Westen dagegen zog sich der Steilrand, auf dem wir standen, weiter fort, und andere Wälle gleicher Art sprangen von dem Hochland aus gegen die Ebene vor wie die trotzigen Vorwerke eines Riesenkastells. Düster, fast schwarz war ihre Farbe, brauende Höhennebel lagen finster auf ihren Gipfeln.
    Was aber das Gefühl des adlerartigen Schwebens über dieser Tiefe noch erhöhte, was zugleich die wundersame ästhetische Schönheit des Bildes noch unendlich vermehrte, war der Umstand, dass tief unter uns, der Schätzung nach mindestens zweitausend Fuß tiefer, andere weiße Wolken über die Ebene verstreut waren. Wie Flocken von Watte auf schwarzblauem Samt, wie Hermelin auf einen Kaisermantel lagen sie da; hier in feinen Streifen, dort zu Schäfchenherden geordnet. Ich habe nie etwas Schöneres gesehen.

Wegener, Georg
Das Gastgeschenk
Leipzig 1938

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!