Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1254 - Wilhelm von Rubruk
Der Silberbrunnen im Palast des Khans
Karakorum, Mongolei

Mangu [Möngke Khan] besitzt bei Karakorum einen großen Palast, der nicht weit von der Stadtmauer entfernt ist. Dieser Palast ist von einer Ziegelmauer umgeben, so wie bei uns die Mönchsklöster von einer Mauer eingeschlossen sind. Daselbst befindet sich ein großes Schloß, in dem der Khan zweimal im Jahre ein Trinkgelage abhält, einmal um Ostern herum, wenn er dort durchzieht, und das andere Mal im Sommer auf der Rückreise. Und dies letztere ist das größere Fest. Denn dann versammeln sich dort an seinem Hof all die Vornehmen, die sich sonst irgendwo weit entfernt aufhalten und zwei Monate manchmal zu dieser Reise gebrauchen. Dann verteilt er an sie Kleider und Geschenke und zeigt seine reiche Pracht. Daselbst befinden sich viele Baulichkeiten von länglicher Gestalt wie Scheunen, in denen seine Lebensmittelvorräte und Reichtümer aufgespeichert werden.
   Im Eingang dieses großen Schlosses errichtete Meister Wilhelm aus Paris, da es wenig schön aussah, dorthinein Schläuche mit Milch und anderen Getränken zu tragen, einen großen Baum aus Silber, zu dessen Wurzeln vier Löwen aus Silber liegen. Sie haben im Innern eine Röhre und speien alle weiße Stutenmilch. Im Innern des Baumes sind vier Röhren emporgeführt bis oben zur Spitze, und ihre äußersten Enden sind von oben wieder etwas nach außen herabgebogen, und um jedes dieser Röhrenenden windet sich in gleicher Weise eine goldene Schlange, deren Schwanz sich um den Stamm des Baumes schlingt. Aus einer dieser Röhren strömt Wein, aus einer anderen Karakosmos, d. i. gereinigte Stutenmilch, aus einer dritten Ball, das ist ein aus Honig bereitetes Getränk, und aus der vierten Röhre kommt ein aus Reis zubereiteter Wein, der Terracina genannt wird. Für jedes Getränk steht am Fuße des Baumes ein silbernes Gefäß bereit zur Aufnahme. Oben auf der Spitze des Baumes zwischen den vier Röhren hatte der Künstler eine Engelstatue errichtet, die eine Trompete hält. Und unter dem Baume brachte er eine Höhlung an, in der ein Mann verborgen werden kann, und durch das Innere des Baumes führte eine Röhre bis nach oben zu dem Engel. Anfangs hatte der Künstler Blasebälge angebracht, aber sie gaben nicht genug Wind. Außerhalb des Schlosses befindet sich ein Raum, wo sich die Getränke befinden, und dort stehen die Diener, die zum Eingießen bereit sind, sobald sie den Engel blasen hören. Die Zweige des Baumes bestehen aus Silber, wie auch die Blätter und die Früchte.
   Sobald der Schenkmeister eines Getränkes bedarf, ruft er nach dem Engel hin, auf daß die Trompete bläst. Dies hört der in der Höhlung versteckte Mann, er bläst kräftig in das in den Engel führende Rohr, der Engel setzt die Trompete an den Mund, und ziemlich laut ertönt die Trompete. Dies hören dann die in dem Raum befindlichen Diener, und jeder gießt sein Getränk in die dafür bestimmte Röhre. Durch die Röhren wird es nach aufwärts geführt und dann wieder nach unten in die dazu bereitgestellten Schalen. Daraus schöpfen es die Schenken und bringen es in das Schloß zu den Männern und Frauen.
   Dieser Palast ist wie eine Kirche gebaut; er hat ein Mittelschiff und zwei Seitenschiffe hinter zwei Säulenreihen und drei Türen nach Süden zu, und vor dem mittleren Eingang im Innern befindet sich der Baum. Der Khan sitzt am Nordende auf einem erhöhten Platz, so daß er von allen gesehen werden kann. Zwei Treppen führen zu ihm hinauf. Auf der einen steigt der Becherträger hinauf, auf der anderen geht er wieder herunter. Der Raum, der sich zwischen dem Baum und der Aufgangstreppe befindet, ist leer. Denn dort steht sein Schenk und auch Gesandte, die Geschenke herbeibringen, und der Khan sitzt dort oben gleich wie ein Gott. Zu seiner Rechten, d. h. nach Westen zu, sitzen die Männer, zu seiner Linken die Frauen. Denn der Palast ist von Norden nach Süden gerichtet. Längs der Säulenreihe auf der rechten Seite sind erhöhte Plätze nach Art einer Terrasse, auf denen sein Sohn und seine Brüder sitzen. Ebenso ist es auf der linken Seite, wo seine Frauen und Töchter sitzen. Eine Frau nur sitzt dort oben neben ihm selbst, aber nicht ebenso hoch wie er.

Herbst, Hermann (Übersetzer und Herausgeber)
Der Bericht des Franziskaners Wilhelm von Rubruk über seine Reise in das Innere Asiens in den Jahren 1253-1254
Leipzig 1925

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!