Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 1907 - Fritz Kummer
In Shanghai

Schanghai wurde im Jahre 1842 von den Engländern erobert. Im Laufe der Jahrzehnte ist es zum größten Handelsplatz Ostasiens und zur berühmten „Musterkolonie“ der Weißen in China geworden. Politisch wie technisch ist die Gemeinde auf der Höhe der Zeit. Sie steht unter der Oberhoheit der vierzehn Vertragsmächte. Der Landungsbrücke gegenüber liegt die internationale „Konzession“, links davon die kleine französische und rechts, jenseits eines Wassergrabens, die amerikanische. In dieser liegen die Fabriken, Werften und Docks. Die Gemeinde hat Wasserleitung, Gas, elektrisches Licht sowie elektrische Straßenbahn. Die Einwohnerzahl wird auf eine Million geschätzt, wovon in dem europäischen Teil 10.000 Weiße und 100.000 Chinesen wohnen sollen.
   Wir wurden am Bund gelandet. Die prächtige Uferstraße Schanghais war an diesem Herbstnachmittag auffallend stark belebt. Blendend weiß gekleidete Europäer wandelten in großer Zahl auf und nieder; fein aufgeputzte Damen schoben sich von einem Schaufenster zum andern. Die eine Häuserreihe des Bundes bilden hohe Steinbauten von ganz europäischem Aussehen. Ihre Inschriften lassen erkennen, daß sich hier die Vertretungen europäischer und amerikanischer Unternehmungen sowie der Regierungen befinden. Man könnte meinen, auf den Pariser Boulevards oder am Strande einer westlichen Seestadt zu sein, wenn nicht jede Sekunde daran erinnerte, daß man im fernen Osten, in China ist: Zwischen sonntäglich gewendeten Weißen gehen Zopfträger einher, mit langem Kaftan oder weißer Jacke, schwarzer Hose und Filzsocken bekleidet; barfüßige, in Fetzen gehüllte Chinesenfrauen sind nicht selten. Auf dem Fahrdamm schiebt der bezopfte Eingeborene gemächlich seinen altmodischen, mit Waren und Menschen bepackten Schubkarren; an ihm vorbei springen lange Reihen halbnackter Kulis mit der Rikscha, die ihrerseits wieder überholt werden von den mit Rossen bespannten Kutschen der Europäer. Die Seitenstraßen des Bundes könnten nach Bau und Anstrich noch als europäisch gelten, wenn nicht die langen, schmalen Schilder mit den rätselhaften Schriftzeichen, die Fremdartigkeit der dort aufgespeicherten Waren als auch die dort hausenden Menschen zeigten, daß hier das eigentliche China, wenn auch europäisch poliert, schon begonnen hat.
   Auf allen Wegen gehen, oder richtiger stehen uniformierte Gestalten herum. Ihr braunes Gesicht umrahmt ein schwarzer Bart, der mitunter in Stränge gedreht ist. Von Menschen und Getöse scheinen sie nicht berührt zu werden. Mitten im Straßengetümmel bleiben sie regungslos wie Buddhastatuen. Ob sich Gedanken in ihrem Schädel kreuzen, welche Zunge sie reden, mag der Himmel wissen. Eine Anrede bringt sie nicht aus ihrer Schweigsamkeit. Auf die Frage nach einer Straße antworten sie mit einer lässigen Handbewegung nach einer Richtung. Diese sonderbaren Gesellen stammen aus Indien. Die britische Regierung hat sie ausbilden lassen und verwendet sie als Polizisten in ihren Besitzungen. Sie erfreuen sich eines guten Rufes; über ihre Brauchbarkeit als Ordnungswächter hört man viel Lob.
   Der zu Fuß gehende Weiße wird auch hier von Rikschaleuten unausgesetzt angerufen. Am Landungssteg kamen gleich 20 von diesen verwitterten Gesellen auf einmal angestürzt, um mich mit ihrem „Mannkraftwagen“ herumzukarren. Ich nannte einem ein Hotel im französischen Viertel. Beim Einsteigen in das Wägelchen raunte er mir zu: »Nicht weiß, ich ander Haus, gutt Platz, süße Mädel.« Der alte Kniff! Erst als ich Anstalt machte, ihn stehen zu lassen, erinnerte er sich plötzlich des genannten Hauses. In drei Minuten ward ich hingekarrt. Beim Eintritt in das Hotel tönten mir bekannte Stimmen entgegen. Die Rufer waren zwei französische Herren, die ich zuerst in Kioto bei der Besichtigung der Kaiserschlösser und dann wieder in Nagasaki gesehen hatte. Sie segelten wie ich mit dem deutschen Postdampfer. Der eine der Brüder ist ein großer Geigenkünstler vor dem Herrn, der andere verzapft Recht und Paragraphen an der Universität des Herault-Departements. Wir beschlossen, Stadt und Umgebung gemeinsam zu durchstreifen. Da das Schiff bloß einige Tage blieb, mußte die Zeit sorgfältig eingeteilt werden, sollten die bescheidensten Wünsche nicht unerfüllt bleiben. Ein Plan für die paar Tage war bald entworfen.
   Acht Kilometer westlich von Schanghai liegt das berühmte Jesuitenkloster Sikawai mit der Wetterwarte, womit ein von Nonnen geleitetes Waisenhaus für chinesische Mädchen verbunden ist. Der Weg dorthin kann zum besten Teil mit der Straßenbahn zurückgelegt werden. Die Bahn gehört einer französischen Gesellschaft. Das untere Personal besteht aus Chinesen. Man muß unwillkürlich lächeln über die zopftragenden Führer und Schaffner. Unser Schaffner hatte sein Zopfende vorsorglich an der Geldtasche befestigt. Ob er das tat um Schabernack mit seinem Haarstrang zu verhindern oder um den Geldbeutel für alle Möglichkeiten angeseilt zu haben? Unterwegs stieg ein mit Tropenhelm bedachter Herr ein, der uns in schönstem Französisch die Fahrkarten zwecks Besichtigung abverlangte. Er war sehr erfreut, drei Landsleute zu treffen. Der neue Bekannte fuhr mit bis zu unserer Absteige, um uns den Weg zu der großen Niederlassung der Jesuiten zu zeigen.
   Ein Klosterbruder hieß uns freundlich willkommen. Er erzählte, die Anstalt, die im 17. Jahrhundert gegründet worden sei, sammle ausgesetzte und Waisenkinder, taufe sie, erziehe sie in christlicher Demut und lehre sie ein Handwerk. Dadurch fühlten sich die Zöglinge verpflichtet - eigentlich sind sie gezwungen -, zeitlebens im und für das Kloster zu arbeiten. Es sind Werkstätten für Holzschnitzerei, Buchdruck sowie Buchbinderei vorhanden. Es werden Gebetbücher und Kirchenfiguren angefertigt. In Belgien wird eine derartige Anstalt fabrique d'église, das ist Kirchenfabrik, genannt. Im Vorratsraum standen Jesus, die Heilige Jungfrau, ihr Ehemann, viele Propheten und noch mehr Heilige in mannigfaltiger Ausführung ausgestellt. Prächtige Stücke waren darunter. Nach dem Bericht unseres Führers liefert die Anstalt für alle Kirchen auf dem Erdenrund Schnitzereien und Gebetbücher. Durch die lebenslange Tätigkeit in ein und demselben Fach werden die Zöglinge nach und nach zu Meistern in ihrem Beruf, verfertigen Arbeiten von seltener Schönheit, die sehr gut bezahlt werden.
   Die Mönche sind den Zöglingen Meister bei der Arbeit und Fürsprecher beim Vater im Himmel. Also Arbeitsteilung nach dem Grundsatz: Ora et labora. Bete und arbeite: die Mönche beten ihr ganzes Leben, die Zöglinge arbeiten für karges Brot ihr ganzes Leben, und den Gewinn streicht die christlichste aller Kirchen ein. Dieser Grundsatz muß streng durchgeführt sein, denn die uns begegnenden Brüder strotzten vor Gesundheit und Körperfülle, die Mehrzahl der Zöglinge dagegen sah bleich, abgemagert aus; anderthalb Dutzend litten an Berri-Berri. Und dennoch: obgleich die Zöglinge zeitlebens bloß zur höheren Ehre Gottes schanzen müssen, sie mögen es hinter der schützenden Klostermauer immer noch besser haben als Millionen ihrer Landsleute, die draußen dem Hunger und der Krankheit vollständig schutzlos preisgegeben sind.
   Der freundliche Bruder zeigte uns den Eingang des Mädchenwaisenhauses. Beide Häuser dienen dem gleichen Zweck. Da in China die Mädchen ungeheuer niedrig eingeschätzt und sie in wirtschaftlichen Regentagen als erste am Straßenrand ihrem Schicksal überlassen werden, kann die Mädchenanstalt mehr Pfleglinge haben als sie Platz hat. Als wir uns dem Eingang näherten, trat eine Schwester mit zwei Zöglingen heraus. Hätten diese nicht in Anstaltstracht gesteckt, man hätte sie für Besucherinnen einer höheren Töchterschule halten können. In Gebärde, Blick und Sprache stachen sie sehr angenehm von den gewöhnlichen Chinesenmädchen ab. Sie beherrschten das Französische und Englische wie Weltdamen. Während sich die Schwester mit einem meiner Begleiter über den Stand ihres Hauses unterhielt, blickten die zwei Nonnenzöglinge zu mir herüber so schelmisch, so sehnsüchtig, wie es „höhere Töchter“ bei Studenten tun.
   Der Abend fand uns in einem chinesischen Theater. Ein ziemlich geräumiger Saal ohne irgendwelche Galerie. Die Sitzreihen waren dicht gefüllt. Vorn eine Erhöhung, die Bühne. Weder Kulissen noch Vorhang. Irgendwo wurde Musik gemacht. Die Hauptinstrumente mußten zwei Brettchen sein, die gegeneinander geschlagen wurden. Dazu wurde ein wenig geflötet, manchmal auch grell gepfiffen, und von Zeit zu Zeit wurden einem Wimmerholz einige quieksende Töne entlockt. Die Chinesen lauschten dem herrlichen Tonstück - oder auch nicht. Endlich traten die Schauspieler aus einer Seitentür auf die Bühne und setzten sich gleich auf Stühle. Ob sie jung oder alt, schön oder häßlich waren, konnte nicht gesagt werden. Einige trugen greuliche Fratzen mit langen Bärten, die anderen waren dick mit Schminke beschmiert. Die Kleider, die aus Seide, Satin, Gaze oder Leinwand sein konnten, waren schreiend bunt mit Drachen und ähnlichen Figuren bestickt. Nach einer Weile erhoben sich zwei Schauspieler und begannen ein Zwiegespräch, das selten durch Hand- oder Körperbewegung belebt wurde. Bald setzten sie sich wieder. Zwei andere traten dann vor, um das gleiche zu tun. Die Chinesen verfolgten gespannt das Spiel; wir fanden es scheußlich langweilig, weil wir den Sinn der Handlung nicht kannten.
   Im Saal rannte ständig ein halbes Dutzend Kerle mit Tee und dampfenden Lappen herum. Unsere bezopften Nachbarn rieben sich Gesicht, Hals, Achselhöhlen, Brust sowie noch viel tiefer liegende Körperteile mit den heißen Fetzen ab und warfen sie dann beiseite. Die Theaterdiener sammelten sie wieder ein, tauchten sie in heißes Wasser und boten sie gleich wieder an. So fürchterlich auch die Schwüle war, auf diese Art Abkühlung hatten wir zu verzichten; wir sehnten uns nicht nach einer Hautkrankheit made in China. Die Benutzung der Kühlgelegenheit mußte die löbliche Theaterleitung bei allen Besuchern als selbstverständlich voraussetzen, denn jeder hatte dafür beim Ausgang einen kleinen Betrag zu entrichten, ganz gleich, ob er die Lappen benutzt hatte oder nicht. Wie das Theaterspiel endete, vermag ich nicht zu sagen. Hitze und Langeweile trieben uns vorzeitig von dannen.
   Vor dem Hotel lungerten Dutzende von Eingeborenen herum, die sich als Führer aufdrängten. Wir heuerten den am klügsten aussehenden an. Für einen (mexikanischen) Dollar oder 1,90 Mark wollte er uns einen Tag in der Chinesenstadt herumfahren. Er sprach ein so wunderbares Pidschin-Englisch, das alle schweizerischen Kühe hätte erheitern können. Zu viert zogen wir nach der Chinesenstadt. Sie ist mit einer teilweise verfallenen Mauer umgeben. Am Eingang hockten Krüppel, Bettler und Kranke am Boden. Ich hatte eine Handvoll Käschstücke, wovon fünf auf einen Pfennig gehen, eingewechselt, um Spenden für die Stiefkinder des Glücks zu haben.
   Die Straßen dieser chinesischen Großstadt sind, wie übrigens die aller anderen, furchtbar schmierig und stinkig. Die japanischen Gassen haben auch verdammt wenig Angenehmes, aber sie deuchten mich jetzt wahrhaftige Lustwandelgänge. Ob Sommer- oder Regenzeit, die Straßen sind immer kotig. Pfützen entstehen fortwährend durch das Ausgießen des Spülichts und noch übler riechenden Wassers. Dieses verbindet die aus den Häusern geworfenen Gemüseteile, Tiergedärme und sonstigen Abfälle zu einem klebrigen Brei, den die Fußgänger mit ihren Schuhen feststampfen. Wird dieser Straßenbelag einmal trocken, entströmt ihm ein entsetzlicher Geruch, der die Europäer davontreibt.
   Die Gassen sind selten mehr, zumeist aber weniger als zwei Meter breit, und sie werden noch beträchtlich verengt durch vorstehende Geschäftsschilder, aufgestapeltes Gerümpel und arbeitende Handwerker. An allen Häusern flattern lange, schmale Lappen, worauf Name und Beruf des Besitzers ausgemalt sind.
   Der chinesische Rasierer stellt die Schemel vor die Bude, um seine Opfer in aller Öffentlichkeit zu behandeln. Obwohl er zu den verachteten Klassen gehört, ist er ein vielbesuchter Mann. Er „seift“ seine Patienten mit heißem Wasser ein, kratzt ihnen mit einem Schabeisen Gesicht und Vorderschädel ab, flicht das Haarseil, reinigt schließlich die Ohren mit langen Schäufelchen und Pinseln. Um einen solchen Eingriff in das Ohr ohne zu schreien auszuhalten, muß man eben Chinese sein. Übrigens verrichten auch Handwerker und Händler ihre Arbeit auf der Straße. Hier flickt einer Holzschuhe, dort leimt einer alte Töpfe zusammen, drüben heftet eine Näherin Kleider. Der „Rauchverkäufer“ zieht gaßauf gaßab und läßt Vorübergehende für ein Käschstück (= 0,2 Pf.) einen Zug aus seiner Pfeife tun.
   Wie auf den Gassen, so wird auch in den Häusern fleißig gearbeitet. Gewöhnlich ist der Laden zugleich Werkstatt. Die offenen Türen gestatten Blicke ins Innere. Man sieht halb- und fast ganz nackte Gesellen fleißig arbeiten. Die chinesischen Wohnungen bergen zwar mehr Möbel als die japanischen, dafür sind sie auch enger, schmutziger, muffliger. Nicht selten sollen selbst Tote, in Kisten eingesargt, im Hause behalten werden, bis der Wahrsager einen den Göttern wohlgefälligen Begräbnisplatz angeben kann.
   Sitte und Enge der Wohnung treiben die Chinesen auf die Straßen. Sie sind ständig mit Menschen stark gefüllt; nur Frauen sieht man selten. Man hat den Rat der Heilsarmee zu befolgen: Folgt der Menge! Zurückbleiben oder Vorauseilen hat seine Schwierigkeit. Langsam, ruhig, schiebt sich der Menschenhaufen zwischen den beiden Häuserreihen entlang. Dank der Geduld und Anpassungsfähigkeit der Chinesen gibt es selten Stockungen. Nur wenn laute Rufe oder Kupfertrommelschläge das Herannahen einer Sänfte anzeigen, gibt es eine Bewegung. Die Fußgänger pressen sich hart an die Wände oder springen in die Häuser, vielleicht gerade in eine Kiste mit Fischen oder Reis hinein, um den „großen Mann“ vorbeizulassen. Schlimmer ist es schon, wenn sich zwei Sänften in einer schmalen Gasse begegnen, denn dann werden Geduld und Balancierkunst der Träger vor eine schwere Aufgabe gestellt.
   Wenn eine so hohe Persönlichkeit wie ein Mandarin (Beamter) sein Amtsgebäude verläßt, um einen Besuch zu machen, rennen ihm zwei Vorläufer voraus, die Ankunft des „großen Mannes“ ausschreiend. Diesen folgen zwei Gongschläger, die in kurzen Abständen eine bestimmte Zahl mächtiger Schläge auf die Gong, die Kupfertrommel, tun, damit die Stellung des Beamten anzeigend. Ihnen folgt der „große Mann“ in einer Sänfte, die, je nach Stellung, von zwei, vier oder acht Leuten geschleppt wird. Unmittelbar vor der Sänfte wird ein riesiger Staatsfächer getragen, zur Seite gehen Boten und Gehilfen.
   Wir steuerten zuerst nach dem Gerichtsgebäude, weil wir hofften, in den Morgenstunden einer Verhandlung beiwohnen zu können; wenigstens hatte es uns der Führer in sichere Aussicht gestellt. Durch eine unscheinbare Maueröffnung gelangten wir zum Hinterhof des Gerichtes. Zu unserem großen Erstaunen fanden wir statt eines wilden Durcheinanders einen prachtvollen, von orientalischer Künstlerhand gepflegten Garten. Dieses Meisterwerk chinesischer Gärtnerkunst ist von einer schlangenartig gewundenen Mauer beschützt, deren Kamm ein mächtiger Drachen aus blauem Stein oder Ton bildet. Niemand störte uns bei der Betrachtung des Gartens, noch vermehrte jemand den Eintritt in die Gerichtssäle. Da der Richter, wie wir jetzt erfuhren, verreist war, fand keine Verhandlung statt. So schlenderten wir durch Türen, Gänge und Höfe nach dem Gefängnis. Anstatt der erwarteten starken Mauern, Steinbauten und eisernen Tore fanden wir ein niedriges, halb zerfallenes Gebäude, das so mit den Nachbarhäusern zusammenhängt, daß nicht gesagt werden kann, wo es anfängt oder aufhört. Zwei Soldaten bewachten eine schmale, dunkle Öffnung. Von innen heraus drang dumpfes Stimmengewirr. Für ein Nickelstück drehten die Posten ihre Gesichter nach der andern Seite, so daß wir ungesehen eintreten konnten.
   In der rechten Wand, hinter einem Bretterverschlag, wie man ihn an Feldscheunen oder Schweineställen sieht, gewahrten wir an die zwei Dutzend Menschen. Sie lagen, hockten oder standen in dem düsteren Raum. Mehrere Hände streckten sich uns durch die Spalten des Verschlages entgegen. Plötzlich tönte aus dem Hintergrund: »Bon jour, messieurs!« Der so grüßende Gefangene war, wie er berichtete, seit dem Boxeraufstand Bursche eines französischen Offiziers gewesen. Durch den langen Umgang mit Franzosen hatte er deren Sprache gelernt. Die meisten Gefangenen seien wegen kleiner Vergehen, wie Diebstahl, Rauferei, Schuldenmachen inhaftiert. Er selber habe vor einigen Tagen eines Mädchens halber Streit bekommen, weshalb er eingesperrt worden sei und nun die Gerichtsverhandlung erwarte. Damit habe es aber noch gute Weile, da der Richter wegen einiger Todesurteile zum Statthalter gereist sei, ohne hinterlassen zu haben, wann er zurückkehre. Wir bemitleideten ihn. Als Lohn für seine Auskunft erhielt er einige Silberstücke. Was wir von ihm in der halbstündigen Unterhaltung über das chinesische Gerichts- und Gefängniswesen gehört hatten, war das Geld wert.

Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Erstausgabe Stuttgart 1913; Nachdruck Leipzig und Weimar 1986

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!