Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1859 - Jane Edkins
Ein Brief aus Shanghai

Unser Schiff landete am vergangenen Dienstag um zwei Uhr vor Wusong, und um vier Uhr fuhren wir alle in einem niedlichen Boot nach Schanghai weiter. Wir erfreuten uns sehr an dem frischen grünen Rasen und den herrlichen Bäumen zu beiden Seiten des Wassers. Die Gegend, obwohl nicht so schön wie die von Anger, schien uns den heimatlichen Landschaften verwandter zu sein. Der Wusong ist ein breiter Strom mit vielen Krümmungen, belebt durch eine zahllose Menge von Dschunken von dem wunderlichsten Bau und viele englische Fahrzeuge. Es ist ein lebendiger, sehr heiterer Anblick. Erhöht wird das Malerische desselben durch die Chinesen, die in ihren reinlichen, leichten Gewändern an beiden Ufern ab und zu gehen oder lustig in ihren kleinen Booten, „Sampans" genannt, umherrudern. Als wir um eine scharfe Biegung kamen, stießen wir auf eine starke Gegenströmung. Obwohl der Wind günstig war, konnten wir nicht von der Stelle, so daß wir wendeten und in einer kleinen Bucht ankerten. Wir berieten, ob wir unsern Weg in Sänften fortsetzen oder die Rückkehr der Flut abwarten sollten, und entschieden uns für das letzte, besonders deshalb, weil die Sänften so entsetzlich teuer sind. Wir mieteten einen Sampan und ließen uns mittlerweile in die Stadt Wusong rudern. Das Boot, in welchem wir nach Schanghai fuhren, gehörte einem Kaufmann, der unserer Kapelle mit vorstand, so erzählte uns der junge Mann, der den Befehl hatte, in einer Stunde etwa den Tee für uns bereit zu halten. Wir waren in wenigen Minuten am Ufer, und nachdem wir einen halbverfallenen Damm erstiegen und ein großes Tor hinter uns hatten, befanden wir uns in der Stadt, auf allen Seiten von kaufenden, verkaufenden, schwatzenden, Tee trinkenden, rasierenden, kurz, alles nur mögliche auf offener Straße treibenden Chinesen umgeben. Die Laden haben keine Fenster und Türen; alles liegt auf Tischen ausgebreitet frei da. Hier näht ein halbes Dutzend Schneider emsig drauf los, die nächste Bude gehört einem Fleischer, in der folgenden sind Früchte zu kaufen. Die Straßen in Wusong sind ungefähr so breit wie die Fenster in Deinem Visitenzimmer, es können nur eben zwei Leute nebeneinander gehen. Wir waren nach der langen Reise recht in der Stimmung, uns über alles zu freuen, und so ergötzten wir uns nicht wenig an diesem bunten Leben. Die engen Straßen ausgenommen fand ich alles viel reinlicher, anziehender und freundlicher, als ich nur je von den Chinesen gedacht. Durch die Stadt gelangten wir endlich ins Freie und brachten eine schöne halbe Stunde zwischen Reisfeldern und unter den grünen Bäumen zu. Allein aber waren wir auch hier nicht, denn ein Haufen Volkes, alt und jung, kam wie eine Leibgarde hinter uns her. Wir Frauen waren der Gegenstand ihrer Neugierde und angelegentlichen Unterhaltung. Eine alte Chinesin beschaute mich recht genau und fragte dann Edkins, ob ich seine Frau sei und wie alt ich wäre. Er antwortete ihr freundlich, die fremden Damen lassen ihr Alter nicht gern wissen, das sei so ihre Art.
   Wir kehrten nun zu unserem Boot zurück, wo uns ein köstlicher Tee erwartete mit frischen Eiern, Brot und Obst. Wir ließen es uns herrlich schmecken, dann gingen wir aufs Verdeck, wo wir uns auf orientalische Weise niederließen und eine schöne Stunde zubrachten, indem wir die ersten sehr freundlichen Eindrücke, die China und seine Bewohner auf uns machten, miteinander besprachen.
  Wir segelten etwa um neun Uhr von Wusong ab und hatten eine schone mondhelle Fahrt auf dem Flusse. Die Sterne schauten in ihrer reinsten Pracht vom Himmel auf uns nieder, als wollten sie uns willkommen heißen. Wir erreichten Schanghai um Mitternacht. Es ist herrlich, so in der Stille der Nacht zu landen, wenigstens mir war es unendlich schön, und ich war so glücklich, als meine Füße den vielbekannten Hafendamm von Schanghai betraten mit dem schönen Anblick vor uns.
    Da stehen zunächst, von reizenden Gärten umgeben, die Häuser der Kaufleute. Sie sehen mit ihren endlosen Fenstern, Toren und Verandas mehr wie Paläste aus und nicht wie Häuser. Hier im Fremdenquartier der Stadt sind auch die Straßen breit und luftig. Wir hatten einen tüchtigen Weg zu gehen, bis unser Zug, mein Mann an der Spitze und vier Träger mit unserm Gepäck als Nachtrab, vor dem Missionsgehöfte ankam. Eigentümlich friedvoll lag es vor uns im scheinen Mondlicht da, und die Bäume rauschten, als wollten sie uns willkommen heißen, als wir uns dem Eingang zu Missionar Muirheads Wohnung näherten. Wir zogen die Glocke, und im Augenblick empfing uns Mr. Muirhead auf das herzlichste. Auf der Treppe empfing uns Mrs. Muirhead mit offenen Armen. Alles ward wach, und du würdest gelächelt haben über diese Versammlung von Schlafröcken und Morgenkleidern in Mrs. Muirheads Wohnzimmer. Alle waren so glücklich, uns dort zu haben. Am nächsten Morgen war eine vollständige Versammlung von allen Freunden aus der Stadt zu unserer Begrüßung. Abends tranken wir Tee bei Missionar John und trafen dort außer allen Missionaren von der Londoner Gesellschaft auch Missionar Burdon von der kirchlichen Mission. Der letztere war außerordentlich erfreut, mich zu sehen, da er bei uns im Pfarrhause von Stromness war und Dich und Papa kennt. Es war ein köstlicher Abend mit einem Worte, und ich fühlte mich so erfrischt in diesem innigen Missionskreise. Seitdem bin ich auch mit so lieben anderen Leuten zusammengekommen und bin in Wahrheit glücklich in Schanghai und froh, nun auch in kurzem Hand ans Werk legen zu können und für die Mission zu arbeiten.
Ich hoffe, teure Mama! Du machst Dir hiernach in keiner Weise Sorge um mich.

Edkins, Jane
Ein Missionsleben in einer Reihe von Briefen
Gütersloh 1871

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