1908 - Gerhard von Mutius
Empfang bei der Kaiserin
Beijing
Die Zeremonien der größten Höfe können sich an Würde nicht messen mit der Feierlichkeit, die die Kaiserin von China umgibt. In einer hohen, von roten Säulen getragenen Halle, in der das grelle Tageslicht durch blaue Tücher abgeblendet ist, vor der bronzene Vasen, Phönixe und Löwen stehen, empfängt der Hof das diplomatische Korps. In dem dämmerigen Raum thront unbeweglich, wie ein Götzenbild auf einem Altar, die Kaiserin-Mutter. Zu ihren Füßen an der Seite der knabenhafte Kaiser. Große Pfauenwedel stehen zu ihren Häupten, allerhand Wundertiere, auch Vasen aus Cloisonne, umgeben ihren Thron. Große Schalen mit Äpfeln sind wie Opfergaben vor ihr aufgestellt und verbreiten frischen Duft. Der Eindruck ist so fremdartig, daß man die große Schar der Höflinge und Prinzen im Hintergrunde vergißt. Mehr aber als der Pomp, der sie umgibt, wirkt die Kaiserin selbst. Das Gewand ist schlicht, das Haupt nur im Schmucke der mandschurischen Haartracht, vor ihr hegt ein Zepter aus Korallen. Aber aus den unbeweglichen Zügen — die an sich gewöhnlich sind und einer unserer alten Bauernfrauen gehören könnten — blitzt ein Drachenauge, das man nicht wieder vergißt. Ein halbgottähnliches asiatisches Herrschergefühl liegt in dem versteinerten Ausdruck. Die große und grausame Frau würde vor nichts zurückschrecken. Ich glaube gern, daß es 1900 ihre Absicht war, die fremden Diplomaten aus Peking herauszulocken und draußen ermorden zu lassen. Vor den Winken dieser alten, zweiundsiebzigjährigen Frau zittert noch heute das weltweite China. Man hat das Gefühl, in ihr einer geschichtlichen Macht gegenüberzustehen, dem alten China mit der ganzen Wucht seiner tausendjährigen Tradition. Der Blick, mit dem sie die sich drängenden Diplomaten musterte, war verächtlich. Dieses zudringliche europäische Eintagsgeschlecht! Und wirklich, die Vertreter der Großmächte im schwarzen Rock wirkten recht klein gegenüber dieser in Geheimnis und Unnahbarkeit thronenden Frau. China wird von der westlichen Zivilisation nicht verschlungen werden, dafür bürgt diese Inkarnation aller uralten Mächte des Beharrens.
Mutius, Gerhard von
Ostasiatische Pilgerfahrt
Berlin 1921