1861 - Reinhold Werner
Über das chinesische Essen
Die chinesische Mahlzeit beginnt mit dem unumgänglichen Tee, der auch ebenso regelmäßig den Schluss bildet. Vierzig bis fünfzig Gerichte sind das Minimum bei einem anständigen chinesischen Diner, was jedoch nicht zu viel ist, da jede Schüssel nur sehr klein und lediglich für jeden Gast zwei bis vier Bissen enthält. Mit fünf oder sechs Schüsseln wird gewöhnlich angefangen. Sie werden in die Mitte des Tisches gestellt, der stets nur so groß ist, dass die Gäste ohne weitere Unbequemlichkeiten die Speisen erreichen können. Um jene ersten Schüsseln gruppieren sich allmählich die folgenden Gerichte. Alles schwimmt in einer reichen und gewöhnlich mit Knoblauch gewürzten Sauce. Sämtliche Fleischspeisen sind in mundgerechte Stücke geschnitten, um sie ohne Hilfe von Messer und Gabel, die der Chinese bei Tisch nicht gebraucht, mit den Essstäbchen fassen und in den Mund bringen zu können. Die Stäbchen sind von Elfenbein oder Ebenholz, rund, so dick wie ein Bleistift und etwa 6 Zoll lang. Auf den anständigen Tischen stehen immer einige Becher damit angefüllt zum Wechseln für die Gäste. Natürlich sind diese ganz neu und ungebraucht. So prächtig die Chinesen damit umzugehen wissen, so unbequem sind sie für den nicht daran gewöhnten Europäer. Ihre ungeschickte Handhabung verursacht regelmäßig große Heiterkeit bei den übrigen Tischgenossen. Wenn nicht der Hausherr den Gästen mitleidig zu Hilfe käme und ihnen mit großer Geduld stets etwas auf ihren Teller legte, würden diese häufig hungrig von der Tafel aufstehen müssen. Die Suppe wird aus Porzellanschalen mit kleinen Porzellanlöffeln gegessen.
Neben jedem Couvert steht eine kleine, geschmackvoll verzierte Teekanne mit Samtschu, dem aus Reis bereiteten chinesischen Branntwein, der aus kleinen Porzellanschalen, nicht viel größer als ein Fingerhut, getrunken wird, da er sehr stark ist und namentlich auf europäische Naturen eine sehr nachteilige Wirkung äußert. Es kommt häufig vor, dass europäische Matrosen, welche sich damit betrinken, in vollständige Tollwut verfallen und sich die Schädel gegen Mauern einrennen. Die Chinesen sind jedoch daran gewöhnt, sie trinken sehr viel davon, und man kann sie durchaus nicht mäßig nennen. In den Küstenstädten gibt es auch schon europäische Weine. Bei einem Gastmahl erhielten wir Rotwein, Sherry und Champagner, obwohl unsere Wirte nur kurz davon nippten.
Es ist Sitte, einander zuzutrinken, und zwar fast genau auf die englische Weise. Der Hausherr beginnt damit, indem er sein Glas erhebt, dem vorher durch einen Bedienten aufmerksam gemachten Gast zunickt und darauf sein Trinkschälchen leert. Dies geht dem Range nach herum, und bei großen Gastmählern sind schon deshalb unsere Gläser unzulässig. Trotzdem ist es fast regelmäßig der Fall, dass die meisten Gäste von ihren Dienern abends im Schutz der Dunkelheit und unter dem schirmenden Dache einer verschlossenen Sänfte bewusstlos nach Haus gebracht werden müssen. Ein Trinkspiel, ähnlich dem italienischen Morra, bei dem ein Gast Finger in die Höhe hält, deren Zahl ein zweiter gleichzeitig sagen muss, trägt hierbei hauptsächlich die Schuld, da jeder Fehler mit dem Trinken eines Schälchens bestraft wird.
Ist der Tisch von Speisen zu sehr angefüllt, so tritt eine Pause ein, alles wird abgenommen, jedem Gast ein in heißes Wasser getauchtes und ausgewrungenes Handtuch zum Abwischen der Hände des Mundes dargereicht, und ein Gang ist beendigt. Bald darauf beginnt die Arbeit von neuem, und gewöhnlich dauert eine solche Tafel vier bis fünf Stunden. Den Schluss bildet regelmäßig eine Schüssel mit Reis, und nach ihr kommt das Dessert, aus Früchten, Eingemachtem und Backwaren aller Art bestehend. Große Diners werden gewöhnlich von musikalischen und theatralischen Darstellungen begleitet, die jedoch die unangenehmste Zugabe von allem sind und die Europäer nervenkrank machen können. Sie sind weniger häufig im eigenen Haus als in Restaurationen gegeben, wahrscheinlich, um die damit verbundene Unruhe zu vermeiden. Für das niedere Volk bestehen dergleichen Restaurationen in großer Zahl, und zu ihnen gesellen sich noch unzählige ambulante Küchen, in denen für wenige Kupfermünzen warme und kalte Speisen verabreicht werden.
Werner, Reinhold
Die preußische Expedition nach China, Japan und Siam in den Jahren 1860, 1861 und 1862
Band 1, Leipzig 1863