Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 1907 - Fritz Kummer
In Hongkong

Von der chinesischen Küste war erst wieder etwas zu erspähen, als wir uns Hongkong näherten. Bei der Durchfahrt durch die Meeresenge lag der Morgennebel noch dicht auf der Erde. Die ersten Sonnenstrahlen ließen erkennen, daß wir uns in einem der schönsten Häfen der Welt befanden. Merkwürdig, in den Berichten über Hongkong wird sehr wenig, nein gar nichts von der Pracht dieser Insellandschaft erwähnt. Der Hafenraum ist steil, bergig, mit dichtem Pflanzenwuchs bedeckt. Der an der nordchinesisehen Küste stark geschwächte Schönheitssinn des Auges kann sich wieder frisch betätigen. Durch das Felsentor laufen alljährlich 30.000 Schiffe und Dschonken. Bei der Betrachtung Hongkongs wird es einem erst eigentlich verständlich, warum die Engländer jahrelang mit Gut und Blut um den „duftenden Hafen“ gestritten haben. Einen günstigeren Stützpunkt hätte sich Großbritannien für seinen Welthandel und seine Weltpolitik nicht wählen können.
   Die Geschichte Hongkongs ist reich an interessanten Kapiteln, aber noch viel wichtigere werden ihr in nächster Zukunft angefügt werden. Seine handelswirtschaftliche und weltpolitische Bedeutung ist im letzten halben Jahrhundert zwar stark gewachsen, was aber hat dieses Wachstum zu besagen gegenüber dem, das noch in sicherer Aussicht steht? Die ganze Wichtigkeit Hongkongs wird sich erst zeigen bei der Eröffnung, bei der Industrialisierung Chinas, des Landes mit vierhundert Millionen Menschen, dann besonders bei dem unvermeidlichen Kampf um die Herrschaft im Stillen Weltmeer, um die asiatische Beute. Wenn diese Streitfrage entschieden ist, deren Bedeutung für die Weltherrschaft wie für die Weltpolitik schwerlich überschätzt werden kann, dann wird für Hongkong eine neue, eine noch prächtigere Zeit des Aufstieges beginnen.
   Wir wurden an der Südspitze der Halbinsel Kaulun gelandet. jenseits der einen knappen Kilometer breiten Wasserstraße liegt, treppenartig an die Anhöhen hingebaut, Viktoria, die Hauptstadt der britischen Besitzung Hongkong. Die Insel mag drei Stunden lang und anderthalb Stunden breit sein. Unter ihren 320000 Einwohnern sind bloß 20000 Nichtchinesen. Die Stadt zieht sich anderthalb Stunden am Wasser entlang. Ihre Häuser sind fast sämtlich aus Stein in indoenglischem Stil gebaut.
   Ein Motorboot brachte uns durch den mit Dampfern, Dschonken, Pinassen und fahrenden Händlern belebten Hafen hinüber nach Viktoria. Hier begegnet man allenthalben europäischer Zivilisation, hohen Steinbauten mit Bogengängen in allen Stockwerken, großen Schaufenstern, Straßenbahnen. Eine kurze Wanderung in westlicher Richtung bringt einen dem rein chinesischen Leben näher. Das Chinesenviertel ist hier nicht so scharf vom europäischen getrennt wie in Schanghai. Die Durchbrechung des Grundsatzes der strengen Abgrenzung zeitigt böse Folgen. Von der Pest und anderen Würgengeln ist die eingeborene Bevölkerung nie ganz frei. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln werden sie von Chinesen in die Niederlassungen der Weißen eingeschleppt. Als ich durch die Chinesenviertel Hongkongs ging, wurden gerade Wohnungen ausgeräumt, um von Pestkeimen gesäubert zu werden. Der überwachende Beamte, ein Engländer, berichtete, daß in den Häusern Cholerakranke gefunden worden seien. Dieses schreckliche Übel zu ersticken, ist nachgerade unmöglich. Die Chinesen kriechen in arg überfüllten und schmutzigen Klausen zusammen. Dadurch ist es allerdings gelungen, Hunderttausende auf sehr engem Raume unterzubringen -Viktoria ist die am dichtesten bevölkerte Stadt der Erde -, es ist aber auch die Gefahr der Verseuchung des europäischen Stadtteils vergrößert worden.
   Chinesische Kultur und Sitten lassen sich in den Hafenstädten nur in sehr beschränktem Maße studieren, da sie dort seit langem dem europäischen Einfluß ausgesetzt sind. Um sich ein halbwegs richtiges Urteil bilden zu können, muß man weiter landeinwärts wandern. Eins hatte mich der kurze Aufenthalt bestimmt gelehrt: Die von europäischen Federn verfertigten Beschreibungen stimmen nur wenig mit der chinesischen Wirklichkeit überein. Mit den bekannten Schlagworten ist im allgemeinen und besonders bei den Südchinesen wenig anzufangen. Je öfter ich mit Chinesen zusammenkam, desto mehr wurde ich inne, daß wir noch wenig über dieses Volk von vierhundert Millionen wissen. Was muß es für den Europäer des 20.Jahrhunderts nicht alles zu schauen, zu studieren, zu vergleichen geben bei diesem asiatischen Kulturvolk, das seit vielen Jahrhunderten wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich stillsteht! Wie interessant muß es für den sozialistischen Arbeiter sein, zu erfahren, wie die Millionen seiner Klassengenossen in China leben und weben, was sie denken und erstreben!
   Die gelbe Sphinx lockte mit aller Macht. Ihr zu folgen verbot der Mangel an Mitteln. Einen annehmbaren Arbeitsplatz im Innern des Landes zu finden, war aussichtslos. So mußte ich schon wieder scheiden, mußte ich die Befriedigung des Wissensdurstes einer günstigeren Gelegenheit überlassen.

Kummer, Fritz
Eines Arbeiters Weltreise
Erstausgabe Stuttgart 1913; Nachdruck Leipzig und Weimar 1986

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