1879 - Adolf Erik van Nordenskiöld
In Hongkong und Kanton
...so daß wir, nachdem wir am 27. Oktober vormittags den Hafen von Nagasaki verlassen hatten, schon am 2. November nachmittags im Hafen von Hongkong ankerten.
Aussicht, während einiger Tage in einer unzählige Male von Naturforschem untersuchten Gegend etwas der Wissenschaft Nützliches ausrichten zu können, hatte ich natürlicherweise nicht, doch lief ich diesen Hafen an, um dem von einem Mitglied der Expedition geäußerten Wunsch, Asien nicht zu verlassen, ohne auf der Reise der Vega etwas von dem vielbesprochenen und allen anderen Ländern so unähnlichen Himmlischen Reiche gesehen zu haben, entgegenzukommen.
Zu diesem Zweck ist Hongkong jedoch ein sehr wenig geeigneter Platz. Diese reiche und blühende Handelsstadt, welche durch Englands chinesische Politik und Opiumhandel geschaffen wurde, ist eine britische Kolonie mit europäischem Gepräge und hat wenig von dem ursprünglichen chinesischen Volksleben aufzuweisen, wenngleich seine Bevölkerung hauptsächlich aus Chinesen besteht. Aber in wenigen Stunden mit dem Dampfboot von Hongkong erreichbar liegt die alte, große Handelsstadt Kanton, welche, obwohl sie auch so lange den Europäern geöffnet gewesen, mit ihrer ameisenhaufenähnlichen Bauart, ihrer zahllosen Bevölkerung, ihren Tempeln, Gefängnissen, Blumen-Dschunken, Mandarinen, mit langen Zöpfen versehenen Straßenjungen usw. noch rein chinesisch ist. Die meisten von den Mitgliedern der Expedition unternahmen einen Ausflug dorthin, für welchen sie reichlich belohnt wurden, indem sie unzählige, nicht zu beschreibende Eindrücke von dem chinesischen Stadtleben erhielten. Überall wurden wir von den Eingeborenen freundlich behandelt, und so kurz auch immerhin unser Besuch war, so reichte derselbe dennoch aus, um das Zerrbild zu verwischen, welches viele europäische Schriftsteller von der volkreichsten Nation der Erde zu entwerfen belieben. Man wird bald gewahr, daß man es hier mit einem ernsten und strebsamen Volk zu tun hat, das zwar vieles, Tugend und Laster, Sorge und Genuß, auf ganz andere Weise auffaßt als wir, gegen welches wir deswegen aber durchaus nicht berechtigt sind, die überlegenen, höhnischen Mienen zur Schau zu tragen, die der Europäer zu gern den farbigen Rassen gegenüber annimmt.
Der größte Teil der kurzen Zeit, welche ich mich in Kanton aufhielt, wurde dazu verwendet, mich im Tragstuhle - Pferde können in der Stadt selbst nicht benutzt werden - auf den engen, von offenen Verkaufsläden umsäumten und teilweise überdeckten Straßen, sicher das Merkwürdigste des vielen Merkwürdigen, was man hier sieht, umhertragen zu lassen. Die Erinnerung an diese Stunden bildet, wie so oft zu geschehen pflegt, wenn man zuviel Neues auf einmal sieht, ein buntes Gewirr, in welchem ich nur mit Schwierigkeiten das eine oder das andere zusammenhängende Bild zu unterscheiden vermag. Aber wenn auch diese Erinnerungen deutlicher und klarer wären, so würde es dennoch nicht zu rechtfertigen sein, hier den Raum für eine Darstellung meiner eigenen oberflächlichen Eindrücke in Anspruch zu nehmen. Wer die Sitten und Gebräuche Chinas genauer kennenzulernen wünscht, leidet keinen Mangel an Beschreibungen dieses Landes; doch können seine Studien durch die unermeßliche Anzahl und den oft bloß der Unterhaltung dienenden Inhalt dieser Schriften erschwert werden. Nur einen Gegenstand will ich hier berühren, weil derselbe mich als Mineralogen besonders interessierte, nämlich die Steinschleifereien in Kanton.
Es ist natürlich, dass in einem so reichen und stark bevölkerten Land wie China, in welchem die Familie und das Familienleben eine so große Rolle spielen, viel Geld auf Schmuckgegenstände verwendet wird. Man sollte deshalb erwarten, daß hierselbst geschliffene edle Steine in großer Menge verbraucht werden, aber nach dem zu urteilen, was ich in Kanton sah, dürften die Chinesen auf dieselben viel weniger Wert legen als der Europäer und Hindu. Es hat übrigens den Anschein, als ob man in China noch immer größeren Wert auf Steine mit „orientalischem Schnitt“, das heißt, mit polierten, runden Oberflächen, als auf Steine legte, welche nach der jetzt in Europa gebräuchlichen Schleifmethode mit planen Facetten versehen sind. Statt dessen lieben die Chinesen auch eigentümliche, oft sehr gut ausgeführte Schnitzereien in den verschiedenartigsten Steinen, von denen sie den Nephrit [Jade] oder, wie sie ihn selbst nennen, „Jii“, besonders bevorzugen. Derselbe wird zu Ringen, Armbändern und allerlei Schmuckgegenständen wie Vasen, kleineren Tischgeräten und dergleichen mehr verarbeitet. Kanton hat zahlreiche Steinschleifer und Handelsleute, welche sich mit der Verfertigung und dem Verkauf von Schmuckgegenständen aus dieser Steinart beschäftigen, welche oft höher als Edelsteine geschätzt werden. Der Nephrit war lange Zeit hindurch ein so wichtiger Exportartikel, daß der Ort, wo er gefunden wird, das Ziel besonderer Karawanen war, welche nach China durch die Jii-Pforte gelangten. Ebenso scheint der Bernstein in hohem Ansehen zu stehen, besonders solche Stücke, die Insekten enthalten. Bernstein wird in China nicht gefunden, aber aus Europa eingeführt; derselbe ist oft verfälscht und enthält große chinesische Käfer mit den Spuren der Nadeln, an welchen diese aufgespießt waren. Andere, weniger edle einheimische oder von fremden Ländern eingeführte Steinarten werden ebenfalls verwendet, unter anderem häufige Varietäten von Talk- oder Seifenstein sowie von Pyrophyllit. Der Preis der Arbeiten aus diesen Steinsorten ist aber nicht mit dem der Gegenstände aus Nephrit zu vergleichen. In demselben Kaufladen, in dem man nur Nephritstücke verkaufte, welche sorgfältig in besondere Schachteln gelegt waren, sah ich auf dem Boden einer mit Staub gefüllten Schublade zwischen Quarzstücken und allerlei altem Plunder große und zum Teil außerordentlich wohlgebildete Kristalle von klaren und durchsichtigem Topas. Dieser wurde wie der Quarz um ein Geringes verkauft. Ferner kaufte ich mir einige skulptierte Stücke Topas, von denen das eine ein großer, ganz hübscher natürlicher Kristall war, auf dessen Endfläche sich eine chinesische Inschrift befand, welche in Übersetzung lautet: „Bücherstudien verleihen Ehre und Ansehen und machen den Mann für den Hof geeignet.“ Das andere war ein etwas bläulicher, zolllanger Topaskristall, an dessen einer Seite eine menschliche Figur, vielleicht ein Buddha-Heiliger, ausgeschnitzt war. Die Steinschleiferei wird als Hausarbeit und vorzugsweise in einer besonderen Gegend der Stadt betrieben. Die Werkstatt ist gewöhnlich zu ebener Erde an der Seite eines kleinen Ladentisches in einem nach der Straße zu offenen Zimmer gelegen. Das Zerschneiden der Steine und das Schleifen derselben wird, wie bei uns, mittels Metallscheiben, Schmirgels und zerstoßenem Korunds, welcher in großen Mengen in der Nachbarschaft von Kanton gefunden werden soll, bewerkstelligt.
Jetzt fährt man zwischen Hongkong und Kanton in großen, bequem und gut eingerichteten, aber von Aussehen sehr unförmigen Flußdampfem amerikanischen Musters. Dieselben werden von Europäern geführt. Die Küche an Bord ist europäisch und sehr gut. Europäer und Chinesen halten sich in besonderen Salons auf. Überall auf dem Hinterdeck und im Salon hängen Waffen, um zur Hand zu sein, falls das Schiff von Seeräubern angegriffen wird oder, was vor einigen Jahren der Fall war, eine größere Anzahl derselben sich zwischen die chinesischen Passagiere geschmuggelt haben sollte, mit der Absicht, das Boot zu plündern.
Hongkong wurde im Jahre 1842 infolge des Krieges an England abgetreten. Dieses damals unansehnliche Fischerdorf ist gegenwärtig einer der bedeutendsten Handelsplätze der Welt. Der Hafen ist geräumig, hat guten Ankergrund und ist durch eine Menge größerer und kleinerer Granitinseln wohl geschützt. Auf der größten derselben ist die Stadt in Absätzen erbaut, welche vom Strand nach dem Innern der Insel sich erheben. Auf den am höchsten gelegenen Punkten derselben haben die reichen europäischen Residenten ihre von hübschen Gärten umgebenen Sommerwohnungen errichtet. Zur Winterzeit wohnen sie in der Stadt selbst. Wir wurden hier vom Gouverneur, Mr. Pope Hennesy, sowohl als auch von der übrigen Bevölkerung außerordentlich gut empfangen. Der erstere lud Kapitän Palander und mich ein, in der Gouverneursresidenz Wohnung zu nehmen, gab ein Essen, ordnete uns zu Ehren eine stattliche offizielle Festlichkeit an und schenkte der Expedition eine hübsche Sammlung getrockneter Pflanzen aus dem gut unterhaltenen botanischen Garten der Stadt, welcher unter der Aufsicht von Mr. Charles Ford steht; der letztere überreichte mir bei einer besonders zu diesem Zweck nach der Stadthalle zusammenberufenen feierlichen und von den ersten Männern der Stadt zahlreich besuchten Versammlung eine Glückwunschadresse … Die Adresse schloß mit einem herzlichen Glückwunsch an uns alle, nebst dem Versprechen, späterhin eine Erinnerungsgabe an den Besuch in Hongkong und als Zeichen der Würdigung der Vega-Expedition zu übersenden. Einige Zeit nach unserer Ankunft in der Heimat erhielt Palander wie auch ich eine prachtvolle Silbervase von der Bürgerschaft Hongkongs.
Ich ergriff mit großem Interesse die Gelegenheit, einen Einblick in die politischen Verhältnisse dieser ersichtlich sehr lebenskräftigen und zukunftsreichen Kolonie zu erhalten, welche mir die Berührung mit den hervorragenden Männern dieses Ortes verschaffte. Bei oberflächlicher Betrachtung erschienen dieselben keineswegs zufriedenstellend. Friede und Eintracht herrschten hier offenbar nicht; der Unzufriedenheit mit dem Gouverneur gaben nämlich viele in Hongkong wohnhafte Europäer lauten Ausdruck. Er begünstige, sagte man, auf eine äußerst einseitige Weise die Chinesen und mildere die Strafbestimmungen für dieselben in dem Grad, daß Hongkong bald der Zufluchtsort aller Räuber und Diebe Kantons sein werde. Gerade während unserer Anwesenheit entstand in dem Legislative Council der Stadt eine lehrreiche Parlamentsdebatte im kleinen. Der Streit wurde mit einer gewissen Erbitterung, aber mit gebührender Beachtung des im Mutterlande hergebrachten parlamentarischen Taktes geführt. Der gewandte Redner der Opposition hatte offenbar, was bei ähnlichen Gelegenheiten gewöhnlich der Fall ist, die allgemeine Meinung unter den Europäern für sich. Diese schienen ziemlich einig darüber zu sein, daß das einzige Mittel, sich gegen die Frevler aus dem großen Himmlischen Reiche zu schützen, darin bestehe, daß man dieselben, wenn sie auf frischer Tat ergriffen werden, sofort auf unmenschliche Weise öffentlich abstrafe.
Für einen Unbeteiligten hatte es jedoch den Anschein, als ob der Gouverneur nicht allein das Menschlichkeitsgefühl und das Recht auf seiner Seite gehabt, sondern auch mit sicherem Zukunftsblick gehandelt habe. Bei seiner Ankunft in der Kolonie waren die Körperstrafen, zu denen die Chinesen verurteilt wurden, äußerst barbarisch, wenn auch milde im Vergleich zu den in China gebräuchlichen, welcher Umstand nun von der Opposition zur Verteidigung der strengeren Strafbestimmungen angeführt wurde. Die Gefangenen wurden zu wiederholten Malen mit der »Katze« gepeitscht, was für dieselben oft unheilbare Lungensucht zur Folge hatte; zur Bestrafung wurden sie durch eine Hungerkur mit Wasser und Reis vorbereitet und beim Verlassen des Gefängnisses gebrandmarkt usw. Von der Ansicht ausgehend, daß die größte Sicherheit für eine Kolonie wie Hongkong in der Liebe zu finden sei, mit welcher dieselbe von der zahlreichen eingeborenen Bevölkerung umfaßt wird, hatte der Gouverneur versucht, jene gegen ungerechte Angriffe der Europäer zu schützen. Einsehend, daß allzu barbarische Strafen infolge des Schutzes, den der Verbrecher in diesem Fall bei mitleidigen Menschen zu finden hoffen darf, die Verbrechen eher befördern als verhindern und daß milde Strafbestimmungen die erste Bedingung für eine gute Schutzpolizei seien, hatte der Gouverneur die Auspeitschungen vermindert, die öffentliche Bestrafung untersagt und Fälle, wo den Verbrechern Schläge »aus Versehen« oder mit Umgehung des Gesetzes erteilt worden waren, geahndet ...
Viele der in Hongkong wohnhaften Europäer schienen davon überzeugt zu sein, daß man noch während eines Jahrtausends mit Fug von China werde sagen können: „Du bist, was du warst, und wirst werden, was du bist.“ Andere hinwiederum behaupteten, daß die Berührung mit den Europäern in Shanghai, Hongkong und Singapur sowie die Erzählungen der zu Tausenden von Kalifornien und Australien nach China zurückkehrenden Auswanderer anfingen, die Weltanschauung im Himmlischen Reich nach und nach zu verändern und damit eine Umwälzung vorzubereiten, welche weniger überstürzt, aber ebenso durchgreifend sein werde wie diejenige, welche vor kurzem in Japan stattgefunden hat. Wenn dies geschieht, so wird China ein Staat, welcher bei dem Ordnen der Weltangelegenheiten mit in Rechnung gezogen werden muß und dessen Macht schwer in die Waagschale fallen wird, wenigstens da, wo es Asiens Schicksal gilt. In Hongkong und in Kanton wußte das Gerücht schon jetzt zu erzählen, daß Deutschlands weitsehender Reichskanzler [Bismarck] beim Entwurf seiner Zukunftspläne diesen Faktor mit in Berechnung gezogen hat.
Schon jetzt nehmen die Chinesen am europäischen Leben teil. Eine Menge chinesischer Namen befand sich unter der mir überreichten Adresse; bei den Festlichkeiten des Gouverneurs bemerkte man viele fette, lächelnde und mit Zöpfen versehene Köpfe; und sogar an den Versammlungen, welche die Reformvorschläge des Gouverneurs behandelten, hatten sich Chinesen beteiligt. Seit uralten Zeiten bestehen außerdem in China heimliche Gesellschaften, welche, wie man sagt, nur auf einen günstigen Augenblick warten, um das Geschick des Landes in neue Bahnen zu lenken ...
Begleitet von den Glückwünschen vieler neuerworbener Freunde, verließen wir den Hafen von Hongkong am Morgen des 9. November.
Nordenskiöld, Adolf Erik
Die Umsegelung Asiens auf der Vega
Band 2, Leipzig 1882
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