Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1907 - M. Aurel Stein
Die große Mauer und die Schätze der Tausend Höhlen
Dunhuang

An einem Punkte, der noch fünf starke Märsche vom Rande der Tun-huang-Oase entfernt lag, sah ich zum ersten Mal verfallene Wachttürme und fand bald Spuren einer sie verbindenden Mauer.
    Schon die erste oberflächliche Untersuchung des Bodens am Fuße eines Wachtturmes legte Überreste von offenbar hohem Alter bar, und verschiedene archäologische Anzeichen ließen vermuten, dass diese Ruinen zu einem alten Grenzwallsystem gehörten, das in seinem Charakter der noch bestehenden »Großen Mauer« an der Kansu-Grenze [Kansu] entsprach. Sobald sich nur Menschen und Tiere durch eine kurze Rast in Tun-huang von den vorhergehenden Strapazen erholt hatten, kehrte ich in die noch winterliche Wüste zurück, um diesen verfallenen Limes genau zu untersuchen. Dies erwies sich als eine überaus interessante und fruchtbringende, aber auch ungewöhnlich schwierige Aufgabe.
    Den gebildeten chinesischen Beamten in Tun-huang, die sich alle lebhaft für meine Arbeiten interessierten und mir sehr gerne geholfen hätten, war die Ausdehnung und Lage der Ruinen völlig unbekannt. So musste ich denn das Aufspüren der alten Mauer, die oft auf lange Strecken vom Boden verschwunden war und oft durch sehr trügerisches Terrain führte, selbst besorgen. Noch größer war die Schwierigkeit, genügende chinesische Arbeitsmannschaft für Grabungen in der Wüste zu beschaffen. Trotzdem gelang es uns, im Verlauf von zwei Monaten den alten Limes auf der Strecke von An-hsi bis zu seinem westlichsten Endpunkt, über 230 km lang, genau aufzunehmen und die Ruinen der sämtlichen Wachttürme, Sektionsstationen usw., die an ihm lagen, zu durchforschen.
    Die massiven Wachttürme, die sich in Zwischenräumen von 2-3 [3-5 km] Meilen erhoben, waren beim Aufspüren der Mauerreste meine besten Führer. Fast immer konnte ich neben ihnen die Ruinen der bescheidenen Quartiere auffinden, welche die der Mauer entlang verteilten Posten beherbergt hatten. Aus den chinesischen Schriftstücken, meistens auf Holz oder Bambus, welche die Ausgrabung fast jeder Ruine in großer Zahl lieferte, konnte ich bald feststellen, dass diese Grenzlinie bis auf das Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. zurückging, als die Expansion chinesischer Macht nach Zentralasien unter Kaiser Wu-ti begann. Genau datierte Dokumente vom Jahre 99 v. Chr. ab zeigten, dass die reguläre Bewachung des Grenzwalles durch das 1. Jahrhundert v. Chr. und wahrscheinlich für den größten Teil seiner Länge bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. währte. Der Hauptzweck des Limes war unzweifelhaft der Schutz des südlich vom Su-lai-ho [Fluss Shulehe] gelegenen Gebietes, das als Operationsbasis und Passage unentbehrlich war für die in das Tarimbecken gesandten chinesischen Truppen, politische Missionen usw. Die Feinde, deren Räubereinfälle von Norden her abgewehrt werden sollten, waren unzweifelhaft die Hsiong-nu, die Vorfahren jener Hunnen, die einige Jahrhunderte später ihre Pferde an der Donau und dem Po tränkten.
    Die Bodenbeschaffenheit und das Klima der Gegend, durch welche die befestigte Grenzlinie von An-hsi [Anxi] nach Westen lief, und die schon in alter Zeit zum allergrößten Teile Wüste war, waren der Erhaltung von Altertümern ausnehmend günstig. So war es ganz natürlich, dass die Hunderte von Schriftstücken auf Holz, Bambus und Seide, die Überreste von Kleidungsstücken, Möbeln, Geräten und all die verschiedenen Gegenstände archäologischen Interesses, welche die Besatzungen dieser abgelegenen Stationen als wertlos zurückgelassen hatten, durch zwei Jahrtausende so gut wie unbeschädigt geblieben. Manchmal genügte ein leichtes Aufscharren des kiesbedeckten Abhanges neben einer Wachtstation, um ganze Kehrichthaufen aufzudecken. Da lagen dann Stöße von schmalen Holztäfelchen, die aus der Kanzlei irgendeines Postenkommandanten vor Christi Geburt hinausgelegt worden waren, unter den vergänglichsten Sachen, wie Stroh, Kleiderfetzen usw., alle frisch und wohl erhalten. Die chinesischen Schriftstücke, von denen ich schließlich über 2.000 beisammen hatte, beziehen sich hauptsächlich auf militärische Dinge und geben häufig genaue Details über die Stärke und Bewegungen der längs der Grenze Wacht haltenden Truppenteile, ihre Verpflegung, Equipierung usw. Interessant sind an Offiziere gerichtete Privatbriefe voll kurioser Familiennachrichten usw. Das sorgfältige Studium dieser verschiedenartigen Schriftstücke, alle weit älter als irgendein bis jetzt in Zentralasien oder China gefundenes Originaldokument, im Verein mit den tatsächlichen Überresten von Quartieren, Einrichtungen, Waffen usw., wird genügen, um ein genaues Bild zu geben von dem Leben, das einst an dieser ödesten aller Grenzen geführt wurde.
    Die Konstruktion einer regelmäßigen Verteidigungslinie quer durch ein so ausgedehntes und von allen Hilfsmitteln entblößtes Wüstengebiet muss eine schwierige Aufgabe gewesen sein und es war sehr interessant, immer wieder Beweise des Geschickes zu finden, mit dem die alten chinesischen Ingenieure sie gelöst hatten. Geleitet durch ihren scharfen Blick für alle topographischen Dinge, hatten sie klug eine Kette von Salzsümpfen und Seen ausgenützt, um ihre Verteidigungslinie zu verstärken. Für die Mauer selbst nahmen sie Zuflucht zu Materialien, die den örtlichen Verhältnissen speziell angepasst waren und auch den Unbilden zweier Jahrtausende im Ganzen sehr gut standgehalten haben. Zwischen ca. 30 cm hohen Lagen von gestampftem Kies schoben sie sorgfältig versicherte und ungefähr ebenso dicke Faschinenreihen ein, die aus sauber abgeschnittenen und fest zusammengeschnürten Bündeln von Schilf bestanden; das letztere lieferten die Sümpfe.
    Der Salzgehalt des Wassers und Bodens verlieh dem so errichteten sonderbaren Mauerwerk bald eine überraschende Konsistenz. Auf solchem Boden konnten dem Wall Mensch und Natur gar wenig anhaben, nur die Macht der langsam schleifenden, aber nimmer rastenden Winderosion. Immer und immer wieder beobachtete ich im Laufe meiner Mappierung, wie gut die Mauer in den Teilen erhalten war, die parallel zur vorherrschenden Windrichtung lagen, während an jenen Stellen, die der Windrichtung entgegenstanden und dem Flugsand ein Hindernis boten, der Wall durch Winderosion arg in Bresche gelegt oder ganz hinwegrasiert war. Die mit großer Heftigkeit und Stetigkeit über diese Wüste hinfegenden Winde kommen hauptsächlich aus Osten und Nordosten.
    Die Mauer hat überall eine gleichmäßige Dicke von ca. 2 ½ m und erhebt sich stellenweise bis zu einer Höhe von ca. 3 m und mehr. Aber dass die Erbauer, wo nötig, auch größere Anstrengungen zu machen wussten, trotz aller lokalen Schwierigkeiten, das beweisen die Wachttürme, die gewöhnlich aus Luftziegeln von beträchtlicher Festigkeit erbaut sind und sich in einer soliden viereckigen Masse zu Höhen von 10 m oder mehr erheben. Ein kleines Fort, das wahrscheinlich die alte Position des in den chinesischen Annalen oft erwähnten Torlagers von Yü-men [Yumen] bezeichnet, zeigte hohe und massive Mauern von gestampftem Lehm, über 5 m dick. Imposanter noch ist ein gewaltiger Hallenbau, an 160 m lang. Er war mit seinen palastähnlichen Dimensionen und Aussehen ein Rätsel, bis Funde von datierten Schriftstücken aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. erwiesen, dass er als Magazin für die Truppen erbaut worden war, die an der Mauer in Besatzung lagen oder ihr entlang sich bewegten.
    Ich könnte stundenlang reden über die kuriosen Beobachtungen und Erfahrungen, die mich während jener harten, aber hoch interessanten Arbeitszeit fast vergessen ließen, wie viele Jahrhunderte dahingegangen. Einige Andeutungen mögen hier genügen.
    Niemals fühlte ich lebhafter, wie wenig 2000 Jahre besagen, wo die Tätigkeit des Menschen aufgehoben und selbst jene der Natur erstarrt ist, als wenn ich mich auf meinen langen Rekognoszierungsritten des Abends allein auf den Trümmern irgendeiner hoch gelegenen Wachtstation fand. Turm um Turm in weiter Ferne, bis zu 15 km und mehr, erglänzte im gelblichen Widerschein der untergehenden Sonne. Wie sie sich so abhoben, mit langen Wallstrecken dazwischen, manchmal wie gerade braune Linien über dem grauen Kies der Wüste, war es ein leichtes zu glauben, dass spähende Augen die trügerischen Plateaus und Niederungen gen Norden durchforschten. Die Pfeilspitzen aus Bronze, die ich in Menge in der Nähe der Mauer und der Türme auflas, waren klarer Beweis dafür, dass Überfälle und Alarme an dieser Grenzlinie gewohnte Zwischenfälle waren. Unwillkürlich richtete ich meine Augen auf das schilfbedeckte Gelände am Rande der Salzsümpfe, die Hunnenbanden so einladende Deckung geboten hätten vor dem Einbruch im Zwielicht. Aber die schrägen Strahlen der Sonne enthüllten auch weit realere Dinge. Dann bemerkte das Auge ganz deutlich eine merkwürdig gerade, furchenähnliche Einsenkung, die parallel zur Mauer lief, ungefähr 7 m auf ihrer Innenseite, wo immer die Mauer wohlerhalten war. Eine wiederholte Untersuchung ergab, dass es die unverkennbare Spur des Pfades war, den die dem Wall entlang marschierenden Patrouillen usw. im Laufe von Jahrhunderten ausgetreten.
    Wir litten gar viel unter den fast täglichen Stürmen und den Extremen des Wüstenklimas. Gegen die eisigen Winde, die bis in den April hinein wehten, waren unsere dicksten Pelze unzureichender Schutz. Noch am 1. April notierte ich ein Minimum von 22° C unter Null. Aber bevor noch der Monat zu Ende war, waren Hitze und greller Sonnenschein schon arg lästig geworden. So oft nur die Winde sich legten, kamen wahre Wolken von Moskitos und anderen Insekten aus den Salzsümpfen, in deren Nähe wir wegen des Wassers lagern mussten, und quälten Mensch und Tier. Wochenlang musste ich Tag und Nacht zum Schutz vor dieser Pest einen Schleier tragen. Sogar die wilden Kamele, die wir häufig zu Gesicht bekamen, fürchteten diese Blutsauger. Eine andere Beschwerde war der Salzgehalt des Wassers in den Quellen der Sümpfe. Als die Ausgrabungen um Mitte Mai zum Abschluss kamen, war es hohe Zeit, zur Oase zurückzukehren.
    Eine wichtige archäologische Aufgabe zog mich nach Tun-huang zurück. Schon im Jahre 1902 hatte mich mein Freund Professor L. v. Löczy, der ausgezeichnete Leiter der Ungarischen Geologischen Reichsanstalt und Präsident der Ungarischen Geographischen Gesellschaft, auf die buddhistischen Grottentempel, bekannt als die »Hallen der Tausend Buddhas«, südöstlich von Tun-huang, aufmerksam gemacht. Er hat sie schon im Jahre 1879 als Mitglied von Graf Szechenyis Expedition und somit als ein Pionier moderner geographischer Forschung in Kansu besucht. Die heiligen Grotten sind ausgehöhlt in steilen Konglomeratwänden am Ausgang eines öden Tales, etwa 20 km südwestlich von der Oase, und was ich in ihnen an Kunstdenkmälern bei Gelegenheit eines ersten flüchtigen Besuches im März 1907 gesehen, übertraf meine Erwartungen. Die großen und kleinen Tempelcellas, von denen die düsteren Felswände in unregelmäßigen Reihen durchlöchert sind, zählen nach Hunderten und an den verstuckten Wänden von fast allen fand ich schöne und mehr oder minder gut erhaltene alte Fresken. In Stil und Komposition zeigten sie die engste Verwandtschaft mit den Überresten der aus dem Nordwesten Indiens nach Turkestan verpflanzten buddhistischen Malerei.
    Auch alte Skulptur war reichlich vertreten. Aber viele der Statuen in bröckeligem Stuck hatten arg von Bilder stürmendem Fanatismus und dann wieder vom Eifer frommer Restauratoren gelitten. Reichliche archäologische Indizien machten es unzweifelhaft, dass ein großer Teil der Tempel und der Kunstreste der Zeit der Tang-Dynastie (7. bis 9. Jahrhundert n. Chr.) angehörten, als sich der Buddhismus in China einer großen Blüte erfreute. Die Wirren der nachfolgenden Perioden müssen den Glanz der Tempel und die Zahl der bei ihnen sich aufhaltenden Mönche und Nonnen gar sehr vermindert haben. Aber trotz aller Wandlungen und Verwüstungen hatte Tun-huang offenbar an seinen frommen buddhistischen Traditionen bis auf Marco Polos Zeiten und in gewissem Sinne bis auf heute festgehalten.
    Die guten Leute von Tun-huang sind tatsächlich bis heute mit besonderem Eifer jenen Kultformen treu geblieben, die im wunderlichen Gemisch chinesischen Volksglaubens das buddhistische Element repräsentieren, und es bedurfte kaum des großen Wallfahrtsfestes, das die Dorf- und Stadtbewohner der Oase gerade um die Zeit meiner Rückkunft zu Tausenden zu den »Tausend Buddhas« lockte, um mir klar zu machen, dass die Höhlentempel ungeachtet des augenscheinlichen Verfalls noch wirkliche Kultorte waren. Ich war mir deshalb wohl bewusst, dass meine archäologische Tätigkeit dort, soweit Fresken und Skulpturen in Frage kamen, nur einen quasi-platonischen Charakter haben durfte. Und doch, als ich um den 20. Mai mein Lager für einen längeren Aufenthalt an der heiligen Stätte bezog, waren es Hoffnungen anderer Art, die mein Herz höher schlagen ließen. Schon zwei Monate vorher hatte ich vage Gerüchte von einem großen verborgenen Schatz alter Handschriften gehört, die etwa zwei Jahre vorher von einem Daoistenmönch bei der Restauration eines Tempels zufällig entdeckt worden waren. Der Schatz sollte misstrauisch in der vermauerten Seitenkapelle bewacht sein, wo er ursprünglich entdeckt worden.
    Der Daoist-Priester, der den Fund gemacht und in seine Hut genommen hatte, erwies sich als ein sehr kurioser Mann, ebenso ignorant in Bezug auf das, was er behütete, als voll Furcht vor Göttern und Menschen. Im Anfang war er gar schwierig zu behandeln. Abgesehen von Chiang-ssü-yiehs [Steins chinesischen Sekretärs] taktvoller Diplomatie war unser schließlicher Erfolg hauptsächlich Umständen zu verdanken, die der Tao-shih [Priester] als Beweis davon ansah, dass der große Hsüan-tsang [Xuanzang], mein chinesischer Schutzpatron, speziell für mich eintrete. Schon meine allerseits bekannte Verehrung für das Andenken des heiligen Reisenden war mir eine große Hilfe gewesen; denn sonderbar genug, der Tao-shih, der im Übrigen für buddhistische Dinge wenig Verständnis und Interesse hatte, war in seiner Weise ein ebenso warmer Verehrer von Tang-sen, »dem großen Mönche der Tangperiode«, als ich es in einer anderen bin. Freilich sind die phantastischen Legenden, die Hsüan-tsang im Volksglauben zu einer Art von heiligem Münchhausen umgestaltet haben und für des Tao-shihs Verehrung verantwortlich waren, nicht in des großen Pilgers echten Memoiren zu finden. Aber was könnte dieser kleine Unterschied bedeuten? Als die ersten Proben, die der Bonze schließlich auf unser Drängen aus dem verborgenen Handschriftenschatze hervorholte und uns insgeheim zeigte, sich als schöne Papierrollen mit chinesischen Übersetzungen von buddhistischen Texten herausstellten, die nach Angabe der Kolophons [Angaben zur Entstehung der Texte in den Texten selbst] aus Indien gebracht und von Hsüan-tsang selbst übersetzt worden waren, da machte dieses Wunderzeichen auf den Priester und. auch auf meinen eifrigen Sekretär den tiefsten Eindruck. War es nicht Hsüan-tsang selbst – so erklärte Chiang –, der im rechten Augenblick das Versteck des Schatzes offenbart hatte, um mir, seinem Schüler aus dem fernen Indien, hier an der äußersten Westgrenze des eigentlichen China eine würdige Belohnung für meine Forschermühen zu bereiten?
    Unter dem Einfluss dieses quasi-göttlichen Winks nahm der Tao-shih seinen ganzen Mut zusammen und öffnete vor mir die primitive Tür, die den Eingang zu der in den Fels gehauenen Seitenkapelle schloss. Der Eingang war hinter einer mit Fresken bedeckten Wand verborgen gewesen, bevor zufällig eine Spalte zu seiner Entdeckung führte. Der Anblick des kleinen Raumes ließ mich die Augen weit öffnen; denn aufgeschichtet in Haufen, aber ordnungslos, zeigte sich da in dem trüben Schimmer von des Bonzen kleiner Öllampe eine kompakte Masse von Handschriftenbündeln, die zu einer Höhe von über 3 m aufstieg und, wie eine spätere Messung zeigte, einen Raum von ca. 15 m³ anfüllte. In diesem »schwarzen Loch« war keine Untersuchung möglich. Aber als der Bonze einige Bündel herausholte und mir erlaubte, in einem Seitengemach des Tempels eilig den Inhalt durchzusehen, da stieg meine Befriedigung noch mehr. Die dicken, ca. 30 cm hohen Papierrollen, die uns zuerst in die Hände kamen, enthielten chinesische Buddhistentexte in ausgezeichneter Erhaltung, unverkennbar von hohem Alter. Als ich auf der Rückseite einer chinesischen Rolle auf einen ausführlichen Text in kursiver indischer Brahminschrift stieß, da waren alle meine Zweifel gehoben. Hier war ein unumstößlicher Beweis, dass die aufgestapelten Handschriften noch auf jene frühe Zeit zurückreichten, als indische Schrift und einige Kenntnis des Sanskrit noch im zentralasiatischen Buddhismus fortlebten. Alle Handschriften waren offenbar in demselben Zustand erhalten wie zur Zeit ihrer Deponierung. Nirgends kam ich auf die leiseste Spur von Feuchtigkeit. Und in der Tat, wie könnte man sich einen sichereren Aufbewahrungsort denken als eine Felskammer, hermetisch abgeschlossen von jeder Feuchtigkeit, wenn die Atmosphäre in diesem Wüstental überhaupt eine solche enthielte?
    Wie dankbar war ich für diesen Schutz, als ich beim Öffnen eines Pakets es gefüllt fand mit schönen Malereien auf Seide und Leinwand, Votivgaben in verschiedenen Seiden- und Brokatstoffen samt einem bunten Haufen von Bildern auf Papier, Seidenbannern, Stickereien usw. Die Malereien auf Seide und Leinwand hatten als Tempelbanner gedient und waren meist säuberlich zusammengerollt. Aufgerollt zeigten sie prächtig gemalte Bilder von Buddhas und Bodhisattvas, die entweder ganz indisch im Stile waren oder sonst in sehr interessanter Weise die Anpassung indischer Vorbilder an chinesischem Geschmack illustrierten. Bald entdeckte Chiang-ssü-yieh Dedikationsaufschriften mit Daten aus dem 9. und 10. Jahrhundert n. Chr. Meine Hauptsorge war nun, wie viele von diesen feinen, graziösen Malereien ich aus ihrer traurigen Gefangenschaft und den Gefahren retten könnte, denen sie bei der Indolenz ihres gegenwärtigen Hüters ausgesetzt waren. Zu meiner großen Überraschung und Beruhigung legte er wenig Wert auf diese herrlichen Kunstreste aus der Tangzeit. So konnte ich rasch die besten dieser Bilder »für weitere Untersuchung« auf die Seite bringen.
    Ich kann hier unmöglich beschreiben, wie die Suche einen Tag um den andern ohne Unterlass fortgesetzt wurde, noch all die interessanten Funde angeben, welche diese eigenartige Grabung belohnten. Besonders die mit gemischten Texten, bemalten Stoffen und allerhand Papieren angefüllten Bündel lieferten wichtige Funde von buddhistischen Manuskripten in indischen und anderen nicht-chinesischen Sprachen. Eine der wichtigsten war ein großes und sehr gut erhaltenes Sanskrit-Manuskript auf Palmblättern, offenbar früher als irgendeines der bisher bekannten Sanskrit-Manuskripte geschrieben. Tibetanische Texte in der Form von Rollen und Pothis [Buchblättern zwischen Holzdeckeln] waren überaus zahlreich. Alte Turki-(Uighur-)Manuskripte kamen gleichfalls in Miszellen-Bündeln zum Vorschein. Auch Kök-turki und sogar die Abart syrischer Schrift, gewöhnlich für manichäische Schriften verwendet, waren vertreten.
    Weniger interessant auf den ersten Blick, aber in Wirklichkeit von besonderem antiquarischem Interesse waren die vermischten Schriftstücke in chinesischer Sprache, wie Briefe, Memoranda, Klosterrechnungen usw., welche jene Bündel von scheinbarem Makulaturpapier füllten. Die zahlreichen datierten Dokumente darunter setzten mich bald in den Stand zu bestimmen, dass die Vermauerung der Kammer ungefähr um das Jahr 1.000 n. Chr. stattgefunden haben muss. Es ist kaum zu bezweifeln, dass die Furcht vor einem verheerenden Einfall den Anlass dazu gab. Aber die wohl geschützte kleine Kapelle hatte aller Wahrscheinlichkeit nach schon eine lange Zeit vorher als Depot für weit ältere Gegenstände gedient. Bei der teilweisen Prüfung unserer chinesischen Sammlung, die ein Jahr später möglich wurde, fanden wir unter ihnen in der Tat eine ganze Reihe von Handschriften, die genaue, bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. zurückgehende Daten aufweisen.
    Ich kann hier nicht versuchen, alle die Schwierigkeiten zu schildern, die zu überwinden waren, bevor die »Auswahl fürs genauere Studium«, wie unsere diplomatische Phrase lautete, unversehrt in mein improvisiertes Magazin überführt werden konnte, ohne dass irgend jemand, selbst von meinen Leuten, die leiseste Ahnung davon hatte. Genug, dass schließlich der würdige Tao-shih fast geneigt war anzuerkennen, dass ich eine fromme Handlung vollbrachte, als ich für europäische Forschung alle jene Überreste alter buddhistischer Literatur und Kunst sicherte, die sonst doch bestimmt waren, früher oder später durch die Gleichgültigkeit der Einheimischen zugrunde zu gehen. Aber ein wirkliches Gefühl der Erleichterung kam erst über mich, als alle die 24 Kisten mit handschriftlichen Schätzen und die fünf mit Malereien und ähnlichen Kunsterzeugnissen unversehrt in London deponiert werden konnten.
    
Stein, Marc Aurel
Geographische und archäologische Forschungsreisen in Zentralasien 1906-1908
Wien 1909

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in China seit 630
Wien 2006

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