1901 - Archibald Little
Durch die Schluchten des Yangtze / Changjiang
Wir hatten den Wunsch, den oberen Yangtze zur Zeit des Hochwassers kennen zu lernen und wagten die Reise von Ichang [Yichang] nach Kwei-fu [Yufu bei Fengjie] und weiter nach Wan-hien [Wanxian]. Wir durchfuhren die vier großen Schluchten und die größten Stromschnellen zu einer Jahreszeit, zu der sich nur wenige den Gefahren dieser Fahrt stellen.
Mitte Juni kommt der Handelsverkehr stromauf von Ichang nach Chungking [Chongqing] praktisch zum Erliegen und wird frühestens Mitte September wieder aufgenommen; das hängt von den Verhältnissen auf dem Fluss ab und davon, wie viel Regen in Westchina gefallen ist. Wer den oberen Yangtze – wie es üblich ist – nur im Winter hinaufgefahren ist, wenn der Dschunkenverkehr am stärksten ist, würde den Strom im Sommer nicht wieder erkennen. Dann ist die Flut gekommen und hat den Fluss völlig verändert: Aus einem klaren Gebirgsfluss, durchsetzt mit Stromschnellen oder Stufen und langen, ebenen Uferstrecken dazwischen, ist ein ungeheurer brauner Strom geworden, der sein Bett komplett ausfüllt und über die ganze Strecke an beiden Seiten von senkrechten Felswänden oder steilen Berghängen eingezwängt wird. Die Felsenklippen sind alle unter Wasser verschwunden und das Wasser ist überall tief.
Die zahllosen Stromschnellen des Winters sind entweder gar nicht mehr da oder in Stellen mit lediglich größerer Fließgeschwindigkeit verwandelt. Nur hin und wieder sieht man eine Dschunke in den Strudeln oder toten Wassern hinaufsegeln oder langsam um einen schwierigen Punkt herumkriechen, gezogen von einer doppelten Mannschaft von Treidlern. Im Allgemeinen erscheint der Fluss einsam und verlassen, das überschäumende Leben mit seinen Aktivitäten, das die Stromschnellen im Winter umgibt, ist ganz verschwunden. Die Schläfrigkeit der Sommerhitze scheint die wenigen Städte und Dörfer eingehüllt zu haben, und auf den Abschnitten dazwischen kann man sich tagelang wie in einem neuen und unbekannten Land vorkommen. Der Grund für die Unterbrechung des Verkehrs in Sommer ist nicht so sehr die Gefahr (obwohl die Wirbel wirklich ernst zu nehmen sind), denn die würde die chinesischen Schiffer nicht schrecken, aber die Kosten verdoppeln sich. Man braucht größere Besatzungen, und diese müssen doppelt bezahlt und verpflegt werden, manchmal für drei Monate statt einem. Entsprechend erhöhen sich die Frachtkosten, und das bringt die Schifffahrt zum Erliegen. Der Nordostmonsun, der von April bis November verlässlichen Wind stromauf garantiert, ist vorbei. Ohne diesen Wind sind Teile der Schluchten für große Dschunken, die nur über die Kraft ihrer Besatzungen verfügen, unpassierbar; sie müssen manchmal tagelang auf einen kräftigen Wind warten. Man kann also zusammenfassend sagen, dass der obere Yangtze mit dem Dampfer befahrbar ist, wenn es mit den herkömmlichen Fahrzeugen nicht möglich ist, und umgekehrt. Das haben die erfolgreichen Reisen des Dampfers Pioneer (aus dem das Kanonenboot Kinsha geworden ist) im Sommer 1900 positiv bestätigt; negativ bestätigt hat es der Verlust des deutschen Dampfers Sui-hsiang im Dezember des gleichen Jahres.
Unsere Reise die Schluchten hinauf begann am 14. Juni 1901 und dauerte ungefähr so viele Tage wie die Fahrt des Pioneer zur gleichen Zeit des Vorjahres Stunden. Wir erreichten die große Stromschnelle Yeh-tan etwa 100 km oberhalb von Ichang nach sechs Tagen, die Pioneer am 12. Juni 1900 nach 8 Stunden. Wir passierten am dritten Tag die Tungling Stromschnelle, etwa 60 km von Ichang entfernt, auf dessen Felsen die Sui-hsiang am Morgen ihrer Abfahrt von Ichang zum Wrack geworden war. Diese Stromschnelle »des durchlöcherten Felsens« ist entstanden durch den Abfluss aus der großen Mi-tan Schlucht, der durch eine Ansammlung von Felsen läuft und sich seinen Weg durch zahlreiche gewundene Kanäle sucht. Im Juni sind diese Felsen tief unter Wasser und nur durch das kochende Wasser der darüber fließenden, 13 km pro Stunde schnellen Strömung kenntlich. Wir brauchten wegen der Schwierigkeiten in der 25 km langen Yao-tsa-ho Passage, wie die Bootleute sie nennen und die Ichang und die Mi-tan Schluchten verbindet, lange, diesen Punkt zu erreichen. Dort weitet sich der Fluss, und während in den zwei Schluchten der Strom sich seinen Weg durch Kalksteingebirge gebahnt hat, mit senkrechten Wänden zwischen 300 und 600 m hoch, muss der Fluss in der Verbindungspassage mit Granitformationen fertig werden, die er aufgebrochen und in riesige Felsenhaufen verwandelt hat; sie sind über den Boden des hier weiten Tales verstreut und niemand außer den Yangtze-Treidlern, die von Kindheit an daran gewöhnt sind, würde sie überklettern.
Die von den Felsen geformten Landspitzen machen die Yao-tsa-ho-Passage zu einer langen Stromschnelle, die die Dschunken überwinden müssen, ohne dass die Treideltaue jemals gerade gezogen werden könnten. Daraus ergibt sich der unaufhörliche Kampf, den die unerschütterlichen Chinesen als Teil ihrer täglichen Arbeit einfach hinnehmen, der aber die ungeduldigen Ausländer sehr erbittert. Für den Geologen ist diese Passage höchst interessant als die einzige Stelle auf dem schiffbaren Yangtzse, an der vulkanisches Gestein quer zum Flusslauf ansteht und ein Band Porphyr vom Fluss durchschnitten ist.
Direkt oberhalb der Mitan-Schlucht weitet sich das Tal, ist aber immer noch umgeben von steilen Bergen, die 1.000 bis 1.200 Meter hoch aufragen. Auf beiden Seiten gibt es Uferstreifen; darauf stehen das geschäftige Dorf Hsin-tan (»Neue Stromschnelle«) und die malerischen Häuser wohlhabender Bauern und Dschunkenbesitzer – ein Anblick, der wohl kaum seinesgleichen in der Welt findet. In ihrer Beschreibung von Hsin-tan im Januar notiert Mrs Bishop [Isabella Bird-Bishop, Reiseschriftstellerin, 1896 in China unterwegs]: »Keine Beschreibung kann diesen Lärm und dieses Tosen vermitteln. Mir wurde es am ehesten dadurch klar, dass ich später für mehrere Tage schwerhörig war. Das fürchterliche Toben und Brausen des Wasserfalls, durch das man die Schreie und Rufe von Hunderten schuftender Treidler hört, zusammen mit dem unaufhörlichen Schlagen von Trommeln und Gongs, die zum einen als Signale dienen, zum anderen böse Geister vertreiben sollen, ergibt ein Pandämonium, das man nie vergisst.« Wenn diese unerschrockene Reisende den Hsin-tan so hätte sehen können wie wir – alle Felsen und Klippen unsichtbar, alle Hütten, die im Winter darauf stehen, verschwunden, die Treidler ins Landesinnere gezogen zur Arbeit auf den Feldern. Zu sehen ist nichts als ein ruhig dahin ziehender Fluss, 800 Meter und breiter, und kaum eine Dschunke. Die wohl gebauten Bauernhäuser und Wohngebäude dösen in ihren Bambus- und Obstbaumhainen; das weit verstreute Dorf auf dem Nordufer träumt auch im Juni-Sonnenschein vor sich hin, nicht einmal ein Hund ist wach, um zu bellen – sie hätte es kaum glauben können. So groß ist der Unterschied zwischen dem oberen Yangtze im Sommer, wenn er schon bis zu 20 Meter über dem Wasserstand vom Winter steht und noch einmal 20 Meter bis zum Herbst steigen kann. Eine Wasserstandserhöhung um 15 Meter am Shin-tan bedeutet eine von 7,5 Meter bei Ichang; nur dort werden genaue Messungen von den kaiserlichen Seezollbeamten vorgenommen, da das Wasser oberhalb der Engen in der Mi-tan-Schlucht gedämmt wird.
Unsere Dschunke, die nur geringen Tiefgang hatte, wurde den kurzen, glatten und steilen Fall von etwa 2,5 Meter problemlos hoch gezogen. Die zwei Seile wurden ausgebracht und um Poller gelegt, die weit oberhalb der Hochwassermarke in einer soliden Steinkonstruktion verankert sind. Die ganze Aktion dauerte mit dem Ausfahren der Trossen kaum zwei Stunden.
Ich möchte hier anmerken, dass unsere große Dschunke mit vier Räumen eine Kwatze war, wie man diese Hausboote am oberen Yangtze nennt, knapp 25 Meter lang und 3,5 Meter breit, mit einem Tiefgang von etwa 1,20 Meter (unbeladen 60 cm), leicht zu treideln und ein schneller Segler mit hohem Mast und großem Luggersegel aus Baumwolle. Insgesamt hatten wir 47 Mann angeheuert – 10 Leute waren immer an Bord, 24 Treidler am Ufer, acht Mann im Beiboot, das die Treidler zwischen Dschunke und Ufer oder von Ufer zu Ufer oder über Seitenflüsse und andere Hindernisse brachte, und zu guter Letzt 5 Mann in einem Rettungsboot, das für den Fall eines Unglücks dicht hinter uns fuhr. Oberhalb von Yeh-tan kamen wir nur mehr langsamer voran. Der Fluss war sehr schlimm, und die Wirbel zeitweise trügerisch, besonders an der Niu-ko oder Ochsenkopf-Schnelle. Dort war das Schiff Woodlark gegen die Felsen geschleudert und sein Vorderteil komplett eingedrückt worden; es wurde später an Ort und Stelle von ihrem tüchtigen Kapitän und der geschickten Besatzung – besonders dem Ingenieur – repariert. So konnte es entgegen allen Erwartungen die Reise nach Chungking fortsetzen.
Eine Nachricht von diesem denkwürdigen Ereignis, von der Mannschaft in großen Buchstaben auf den Felsen gepinselt, war bei unserer Vorbeifahrt unter Wasser. Dann ging es durch die 35 Kilometer lange große Schlucht von Wu-shan; wir brauchten für die Durchfahrt drei ganze Tage und kamen dann in das vergleichsweise ruhige Wasser, das diesen Schlund mit dem noch ärgeren der letzten der vier Schluchten, der Schlucht des Gebrülls, verbindet, die 5 Kilometer unterhalb des berühmten Kwei-fu liegt und an dessen linken oberen Ausgang die Reste der »Stadt des weißen Kaisers« liegen.
Vor Erreichen der unteren Einfahrt in die Schlucht des Gebrülls und gegenüber dem Hoang-tsan-pei, einer wirbelnden Stromschnelle, die durch die »Kegel der Niedergeschlagenheit« gebildet wird, die unauffällig wirkende kleine Seitenflüsse nach einstigen Wolkenbrüchen in den Hauptfluss ausgespuckt zu haben scheinen, bewundert der Reisende einen sehr eindrucksvollen Einschnitt im 1 Kilometer langen rechten Ufer. Dieser Einschnitt, dessen begrenzende Felswände etwa 800 Meter voneinander entfernt sind, trägt bei den Bewohnern der Gegend den treffenden Namen Tso-kia-Hsia oder Falsche Schlucht. Die Legende erzählt, dass, als Kaiser Yü die Schluchten durchschnitt, die Szechuan [Sichuan] von den anderen Teilen Chinas trennen, und so die große rote Senke austrocknete, er zuerst an der Falschen Schlucht begann. Als er keinen Erfolg hatte, richtete er seinen Angriff auf die höheren Berge, durch die jetzt die Schlucht des Gebrülls führt, und setzte den jetzigen Durchbruch an Ort und Stelle. In dieser engen Durchfahrt herrschte jetzt eine gewaltige Strömung als Abfluss aus der seengleichen Weite darüber.
Bis jetzt hatten wir nur immer wieder die üblichen kleinen Schwierigkeiten gehabt, die zu Reisen auf einer Dschunke gehören – gebrochene Treidelseile, Ausscheren (»ta chang«, wie wenn man auf See eine Bucht verfehlt), und ähnliches, aber nun hätte unsere Reise fast ein schnelles Ende genommen. Ein kräftiger Wind, der gegen Abend aufgekommen war, verleitete unseren Lotsen dazu, die Durchfahrt durch die 10 Kilometer lange Schlucht zu wagen. Unter dem Druck unserer Segel stemmten wir uns kräftig gegen die Strömung, aber der immer noch schnell steigende Wasserspiegel brachte so fürchterliche Wirbel hervor, dass unsere große, wohl gebaute Dschunke in deren Gewalt wie ein Korken auf dem Wasser tanzte.
Die Dschunke drehte sich und wäre fast gekentert. Zum Glück gelang es den Männern, das Segel – wenn auch unter großen Schwierigkeiten – einzuholen und das Boot hinter einer Landspitze unbeschadet an eine geschützte Stelle zu bringen. So gut erging es zwei anderen Dschunken, die uns voraus waren, aber nicht. Eine, gechartert vom Vizekönig von Szechuan und mit Kriegsmunition beladen und auf dem Weg von Shanghai nach Chengdu (seit zwei Jahren gab es einen dauernden Strom von Waffen, Maschinengewehre eingeschlossen, nach Westen) wurde auf das felsige Ufer zur Rechten geschleudert, eingedrückt und sank. Die Besatzung konnte sich retten, und das Oberteil der Dschunke war nur eben von Wasser bedeckt, so dass die Fracht vielleicht gerettet werden kann, wenn das Wasser wieder fällt.
Die andere Dschunke, ein 50-Tonnen-Frachtschiff beladen mit Baumwollgarn, segelte beeindruckend die Stromschnelle hinauf und verschwand im Zwielicht. Ich fragte unseren Lotsen, der unser Boot nun für die Nacht hatte anlegen lassen, warum er denn nicht den günstigen Wind, der immer noch zunahm, ausnutzen wolle, um durch diese schwierige Schlucht zu kommen. Es antwortete, dass er nicht sicher sei, dass wir vor Dunkelwerden durchkommen könnten. In diesem Moment, da gerade die plötzliche Dunkelheit dieser Breiten einsetzte, schrieen unsere Männer auf, und die große Dschunke trieb auf der Seite liegend vorbei. Sie war mitten im Strom gekentert. Man konnte sie kaum sehen, aber die Schreie »Chiu Ming! (Rettet Leben)« waren herzzerreißend, wenn auch kaum hörbar im Getöse der Stromschnelle. Es war nun stockdunkel, aber ich schlug vor, dass unser Rettungsboot hinterher fahren sollte. Der Steuermann aber – und ich glaube, er hatte Recht – sagte, er würde sich nicht in der Dunkelheit in die Stromschnellen trauen. Zwei Tage später in Kwei-fu hörten wir, dass etwa die Hälfte der Besatzung über Bord gegangen und verloren war und dass das Schiff selbst, falls es noch schwämme und nicht unterwegs wieder havarierte, erst in den ruhigen Gewässern bei Ichang geborgen werden könne.
Die Schlucht des Gebrülls ist im Durchschnitt etwa 100 Meter breit, aber an drei Stellen durch vorspringende Felsnasen auf die Hälfte verschmälert, und unterhalb dieser Stellen wüten schäumende Wirbel. Der Vorsprung, in dessen Schutz wir für die Nacht angelegt hatten, bestand aus sehr hartem Kalk und Feuerstein und sah aus wie Ofenschlacke. Neun bis 15 Meter über dem derzeitigen Wasserspiegel gelegen, ist es den Sommerregen ausgesetzt, und die ganze Oberfläche ist vom Wasser ausgelaugt. Aber der Stein ist zu hart, als dass sich große Löcher bilden könnten wie es an unzähligen ähnlichen Stellen flussauf und flussab der Fall ist.
An der engsten Stelle dieser Schlucht, nahe am oberen Ende, kann man bei Niedrigwasser immer noch die Stützen und Felslöcher sehen, von denen aus Ketten über den Yangtze gespannt wurden. Das war zur Zeit der streitenden Reiche, die den Fall der Han-Dynasty im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung einleiteten. Die ganze Gegend ist reich an Liedern und Geschichten. Unterhalb dieser Stelle sieht man immer noch – wie frisch geschlagen – die außergewöhnlichen Überreste von Mang-liangs Leiter: Eine Abfolge von quadratischen Löchern, in die harten Kalksteinklippen gehauen, die hier ungefähr 150 Meter senkrecht nach oben streben. Jedes Loch ist 35 cm breit und etwa 60 cm tief. Da hinein wurden hölzerne Balken gesteckt, über die Mang-liangs Soldaten entweder zum Angriff hinaufkletterten oder zum Wasserholen hinunter – Genaueres ist nicht mehr bekannt.
Der Letzte Han-Kaiser, Liu-peh [Liu Pei], war der Erbauer von Peh-tich'eng [Baidicheng] oder der Stadt des weißen Kaisers, benannt nach seinem himmlischen Gründer und Schutzherrn; ein wunderschöner Tempel zu seinen Ehren existiert noch heute. Seine hölzernen Terrassen bieten einen überwältigenden Blick stromab auf die Schlucht, über dem die höchsten Klippen bis über 1.000 Meter hoch aufragen, wie auch auf die malerische Stadt Kwei-fu, die auf dem linken Ufer des seengleichen Abschnitts fünf Kilometer weiter oben liegt.
Wir verbrachten eine unruhige Nacht, schlingernd im Schwall der Stromschnellen und wach gehalten vom Brausen der Wasserwirbel, die noch an Gewalt zunahmen, weil der Fluss infolge Regens immer noch stieg, in dieser Nacht um die drei Meter; deshalb musste das Boot immer wieder neu festgemacht werden. Bei Tagesanbruch am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Rettungsboot hinüber auf das linke Ufer und stiegen das steile Felsband zur neuen Straße hinauf. Diese Straße wurde von einem ehemaligen Vizekönig 1888 von Kwei-fu nach Westen zur Grenze von Hupeh über eine Entfernung von etwa 80 Kilometer gebaut. Die Straße führt in den Schluchten durch Galerien, die in den Kalkstein geschnitten sind und eine niedrige Steinbrüstung haben. Wäre die Straße weiter gebaut worden, noch 130 Kilometer bis nach Ichang, sie wäre von unschätzbarem Wert für den Verkehr von und nach Szechuan, der praktisch keine andere Wahl hat als den Yangtze. So wie sie ist, ist die Straße nutzlos. Sie endet als Sackgasse in der Mitte der Wu-shan Schlucht und verfällt schon wieder.
Siedler waren schnell dabei, die planierten Flächen als Felder zu benutzen und haben an manchen Stellen die Brüstung niedergerissen, um sie als Fundament für ihre Lehmhäuser zu benutzen. So ist es überall in China: Ein vereinzelter Ansatz zu Reform oder Fortschritt wird von einem der seltenen gemeinschaftlich denkenden Beamten oder reichen Privatiers gemacht, aber er bekommt keine Unterstützung, und seine Anstrengung wird zunichte gemacht durch Apathie und bösen Willen der Bevölkerung. Es erscheint mir hoffnungslos, auf praktische Reformen in China zu setzen, es sei denn, sie geschähen unter europäischer Leitung. Allein scheinen die Chinesen zu dem, was wir Fortschritt nennen, nicht in der Lage zu sein. Wenn diese Straße zu Ende gebaut und erweitert würde, wäre Kwei-fu innerhalb einer Woche von Ichang erreichbar, und Tausende Menschenleben, die jetzt jedes Jahr in den Stromschnellen der vier Schluchten verloren gehen, wären gerettet. Aber es ist zur Zeit unwahrscheinlich, dass sie jemals fertig wird. In ein paar Jahrzehnten wird dieser Abschnitt zusammengebrochen oder zerstört worden und völlig in Vergessenheit geraten sein.
Die Stadt des weißen Kaisers, der westlichste Punkt der neuen Straße, ist nur ein kleines Dorf. Ein Teil der alten Zementmauer steht noch, durchbrochen von einem alten Tor, durch das der Weg zur Stadt Kwei-fu führt, die hohe Mauern hat und 5 Kilometer weiter oben liegt. Hier hatte Liu-peh seinen letzen Kampf und starb, 221 nach Christus, und so unterwarf sich die berühmte Han-Dynastie der kurzlebigen Wei-Dynasty. Wenn man um diese Jahreszeit auf den ruhigen See 60 Meter weiter unten blickt, ist es schwer, sich vorzustellen, wie dort unten eine geschäftige Stadt bestehen kann, die jedes Jahr im Wasser untergeht und jedes Jahr wieder aufgebaut wird, wenn sich das Wasser zurückzieht. Und doch habe ich auf dieser Sandbank, jetzt mehrere Meter unter Wasser, den Rauch von zahllosen Salzsiedereien gesehen, und bin zwischen den Salzquellen umher gelaufen, um die sich Tausende von Arbeitern geschäftig scharen, um aus der kurzen winterlichen Arbeitszeit das meiste zu machen. Kohle ist ebenso billig, um die vier Shilling pro Tonne, wie reichlich vorhanden.
Ist man in Kwei-fu angekommen, sind die Gefahren der Reise so gut wie vorbei – zumindest zu dieser Jahreszeit. Von hier bis Wan-hien gibt es keine Spur von Stromschnellen; die Enge der Schlucht des Gebrülls staut das Wasser auf. Der Strom, nun volle 30 Meter über dem Winterwasserstand und einen halben bis einen Kilometer breit, floss sanft zwischen grünen Hängen dahin, und keine Spur einer Untiefe war zu sehen. Der Kontrast zwischen dem leuchtenden tiefen Grün des Maises, der jetzt die unteren Hänge bedeckt, und dem schokoladenfarbigen Wasser an ihrem Fuß war sehr beeindruckend, ebenso das totale Nichtvorhandensein von Lebenszeichen an der Stelle der neuen großen Stromschnelle, die der Erdrutsch von 1896 geformt hat. Es gab keine Spur der Stadt, die Häuser waren umgesiedelt und das Gelände unter Wasser. Aber hoch oben ist ein ansehnliches und weitläufiges Gebäude, ein neuer buddhistischer Tempel, Wand Se geweiht, dem Schutzpatron der Schiffer. Er wurde von den Dschunkenbesatzungen finanziert, denen diese Stromschnelle im Winter ein immerwährender Schrecken ist, weil es an ein paar Tonnen Dynamit, an den richtigen Stellen eingesetzt, fehlt.
Eines hat uns unsere Sommerreise auf dem oberen Yangtze eindringlich deutlich gemacht, und das ist, dass ein ununterbrochener und gewinnbringender Dampferdienst einfach nur eine Frage des Kapitals ist, mit dessen Hilfe geeignete Fahrzeuge bereitgestellt werden können. Soll die Befahrung des Flusses von den Briten aufgenommen werden, die es als Erste versucht haben, oder sollen die Briten das anderen überlassen? Wie dem auch sei, nach vierzehn Tagen erreichten wir Wan-hien mit der festen Überzeugung, das dies unsere letzte Fahrt stromauf in einer chinesischen Dschunke war.
Little, Archibald
Gleanings form Fifty Years in China
London 1910
Übersetzung: U. Keller
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in China seit 630
Wien 2006