1908 - Eduard von Hoffmeister
Bei Koldewey in Babylon
Nach verzweifeltem Kampfe mit Wasser und Morast erreichten wir den von Palmen gesäumten Euphrat. Drüben befand sich die stattliche Gebäudegruppe der Deutschen Orientgesellschaft.
Da der Euphrat sich für seine Hauptwasser einen andern Weg gewählt hatte, war er hier nur wenige 100 m breit, von geringer Tiefe und mit Sandbänken durchsetzt. Nackte braune Jungen badeten und tummelten sich im Fluß. Ermüdet lagerte ich mich in dem schattigen Palmenhaine am Ufer und wartete fast eine Stunde auf ein Fahrzeug zum Übersetzen. Inzwischen war ich von drüben schon bemerkt worden; denn noch ehe ich in einer endlich herbeigeschafften kleinen Goffa [rundes Boot aus Rohrgeflecht, mit Asphalt abgedichtet] mit meinen Habseligkeiten das jenseitige Ufer erreichte, donnerte mir ein Kanonenschuß entgegen, Leute kamen und trugen mich durchs Wasser ans Ufer, und am Eingang des Gehöftes empfing mich, von zornigen Kaudern umgeben, der Leiter der Ausgrabungen, Professor Koldewey, und hieß mich mit herzgewinnender Freundlichkeit willkommen im Deutschen Hause zu Babylon.
Es war 4 Uhr geworden und heiße Stunden lagen hinter mir. Dafür war es hier aber auch herrlich. Ein geräumiges sauberes Zimmer mit Ausblick auf Palmen, in deren Zweigen bunte Vögel zwitscherten und über denen sich ein tiefblauer Himmel wölbte, ein Bett und Wasser und Seife und - alles deutsch! Mir war unsagbar wohlig zu Mute. Bald kamen auch die beiden andern bei den Ausgrabungen beschäftigten Herren, Reuter und Wetzel, von der Außenarbeit herein und ein gemütlicher Abend beschloß den ereignisreichen Tag.
Ich bemühte mich gleich um mein demnächstiges Weiterkommen. Da jedoch wider Erwarten für übermorgen keine Tiere aufzutreiben waren, mußte ich anstatt eines Tages deren zwei in BabyIon bleiben, und diese bei meiner vorwärts drängenden Eile sonst unliebsam Störung erlitt ich nur allzu gerne, denn wirklich "hier war es gut sein, hier mochte man Hütten bauen".
Professor Koldewey, ein Braunschweiger aus Blankenburg a. H. und früher Assistent im Berliner Museum, lebt schon zehn Jahre in Babylon und fühlt sich in seiner Ausgrabungstätigkeit, die er in stiller opferfreudiger Arbeit als seinen Lebenszweck betrachtet, glücklich und zufrieden; er ist ein Herrscher in seinem Reiche. Die Bedeutung dieses vortrefflichen und humorvollen Mannes mit seinem Bergstock, weißen Käppchen und seinem Harem schwanzloser Katzen - ob so von Natur oder durch operativen Eingriff bewirkt, entzieht sich meiner Kenntnis - wird man erst später voll und ganz zu würdigen wissen; auf jeden Fall bleibt sein Name allezeit mit den Ausgrabungen in Babylon verbunden.
Wer nun diese besucht oder die von Assur und Ninive, darf nicht erwarten, Ruinen zu finden wie in Baalbek, Palmyra oder Ägypten, mit Steinbauten und Säulenhallen; denn es sind, wie auch in Merw, nur Reste von Mauern und Pflasterungen aus gebrannten und ungebrannten Ziegeln, die durch Beseitigung einer oft viele Meter tiefen Erdschicht freigelegt wurden und zuerst den laienhaften Beschauer enttäuschen müssen. Wenn man jedoch, das Buch Daniel in der Hand, unter solch sachkundiger, liebenswürdiger und geradezu begeisterter Führung wie derjenigen Koldeweys die weite Trümmerstätte durchwandert, so gewinnt sie in Sonderheit durch die biblische Überlieferung Leben und Gestalt und man kann sich eines tiefen Eindruckes längst vergangener Größe nicht erwehren.
Die bedeutenden Kosten der Ausschachtungen werden zum größeren Teile vom preußischen Kultusministerium, zum kleineren von der Deutschen Orientgesellschaft bestritten. So darf man sich auch als Deutscher freuen, daß deutsche Arbeit, gefördert durch die Opferwilligkeit des deutschen Volkes, hier Großes geleistet und ein gut Teil dazu beigetragen hat, den Schleier über längst vergangenen Zeiten zu lüften. Es liegt mir ferne und ist nicht meine Sache, auf die Frage Babel-Bibel einzugehen; durch die hier gefundenen Gesetzestafeln Hamurabis, des Amraphel der Bibel (1. Mos. 14, 1), ist aber unzweifelhaft festgestellt, daß Babylonien schon drei Jahrtausende v. Chr. ein Rechtsstaat war, dessen Gesetze teilweise und fast wörtlich mit den viel späteren des Moses übereinstimmen.
Gleich hinter dem deutschen Hause ist unter einem Hügel der Palast Nebuchodonosors, des Nebukadnezar der Bibel und Sohnes Nabopolassars, freigelegt. Der große König (604-561 v. Chr.) hat ihn sich während seiner vierzigjährigen Regierung, vielleicht unter Heranziehung der von ihm nach Babylon geführten Juden, zusammen und übereinander gebaut; in ihm ist auch Alexander der Große gestorben. Anscheinend bestand die Anlage nur aus einem 500 m langen und 300 m breiten Erdgeschoß mit Ziegelwänden, die mittelst Kalkes zusammengefügt waren, während man in noch früherer Zeit Asphalt als Bindemittel benutzte. Auch die Unterbauten des Palastes hat man ausgegraben; ein jeder der dort verwendeten, genau einen babylonischen Fuß = 33 cm im Quadrat messenden gebrannten Ziegel trägt den Stempel Nebuchodonosors. Leider ist deren ein großer Teil, und zwar meist unten, wo sie weniger fest haften, von den Arabern herausgebrochen und zu Bauten in Bagdad und Hille verschleppt worden. In der Nordostecke des Palastes sind die Ausschachtungen 15 m tief bis zum Grundwasser gefördert; dort befindet sich der seit hundert Jahren bekannte mächtige Basaltlöwe, vielleicht einer der mittlerweile versteinerten Löwen aus der Danielgrube, mit einem darunter liegenden Manne. Nahebei mündete ein Kanal; er führte vom Euphrat in das Schloß und teilte sich von hier ab in viele kleinere Röhrenleitungen, um dessen zweitausend Bewohner mit Wasser zu versehen.
Auf einer uralten, noch aus Ziegeln mit Asphalt- und Schilfmattenfüllung zusammengefügten Treppe gelangt man auf die gerade "Prozessionsstraße" des babylonischen Hauptgottes Merodach oder Merduk, des "Herrn der Bäche und Quellen". Von ihr aus hat vielleicht Nebuchodonosor den neben ihm gehenden Daniel auf die Größe und Pracht der umliegenden Stadt hingewiesen: "Gestehe, Jude, daß meine Götter die richtigen und daß sie mächtig sind". "Du irrst, großer König", mag dann der jüdische Mann, dessen Stammesgenossen derweilen "an den Wassern von Babylon saßen und weinten", erwidert haben. "Ohnmächtig sind deine Götter und vergänglich ist all die Herrlichkeit. Kein Stein wird auf dem andern bleiben und nur Schakale werden in den Ruinen hausen; denn es gibt nur einen Gott, Jahve, von Ewigkeit zu Ewigkeit".
Auf dieser Straße zog auch wohl 539 v. Chr. der größte aller asiatischen Herrscher, Cyrus, ohne Schwertstreich durch die verräterisch geöffneten Tore in Babylon ein. Als erste Regierungshandlung erteilte er den Juden nach siebzigjähriger Gefangenschaft die Erlaubnis zur Heimkehr und gab allen Völkern die ihnen geraubten und hier zusammengestapelten Götter zurück.
Und diesen wird wohl dabei gewesen sein; denn wie jegliches Gebilde auf Erden vom Menschen bis zum Steine nur in dem für sein Dasein und seine Entwicklung günstigen Boden werden und gedeihen kann, so und nicht anders ergeht es den Göttern. Auch sie vermögen nur bei ihrem Volke und in ihrer Heimat als Nationalgötter die ganze Kraft zu entfalten; werden sie verschleppt oder verpflanzt, so verkümmern sie und gehen ihrer Gewalt und ihres Ansehens verlustig.
Den Zugang zur inneren Stadt, die auch noch zum Schloß gehörte und in der man drei über- und nacheinander entstandene enge, aber sorgfältig gepflasterte Straßen freigelegt hat, bildet das mit sehr gut erhaltenen und künstlerisch vorzüglich ausgeführten Tierreliefs - Wildochsen (Remus), Löwen und Drachen - geschmückte Astaroth- oder Istartor. Der Tempel der Istar, der Göttin des Venussternes, war nicht wie der Palast aus gebrannten, sondern aus ungebrannten Ziegeln erbaut und hierfür vielleicht die Erwägung bestimmend, daß die Göttin selbst für die Unsterblichkeit ihres Heiligtums Sorge tragen würde.
Durch die alte Palastmauer führte mich Professor Koldewey über Hügel, d. h. Häuser, hinweg zu mehreren, bis 15 m tief ausgehobenen quadratischen Gruben, in denen man Deckelsärge mit Knochen und zahlreiche Gefäße gefunden hat, und dann zu dem sogenannten Menetekel-Saal. Die ehemals mit glasierten Ziegeln bekleideten Wände fehlen; die 50 m lange und 181 ½ m breite Grundfläche in Steinquadern ist aber genau erhalten und zeigt an, daß hier der größte und Hauptsaal des ganzen Schlosses gewesen ist. Inmitten der Südseite und genau dem Eingange gegenüber stand der Thron in einer noch im Unterbau vorhandenen Thronnische.
In diesem Festraume müssen die Empfänge der Könige und Gesandten, nachdem sie in dem weiten Hofe nebenan gewartet hatten, und die Prunkgelage stattgefunden haben, von deren einem uns das Buch Daniel Kap. 5 berichtet: "König Belsazar machte seinen tausend Gewaltigen ein herrliches Mal und soff sich voll mit ihnen. Und als er trunken war, ließ er die goldenen und silbernen Gefäße herbeibringen, die sein Vater Nebukadnezar aus dem Tempel zu Jerusalem weggenommen hatte, und trank daraus mit seinen Gewaltigen, seinen Weibern und Kebsweibern. Und eben zur selbigen Stunde gingen hervor Finger als von einer Menschenhand, die schrieben, gegenüber dem Leuchter, auf die getünchte Wand in dem königlichen Saale; und der König ward gewahr die Hand, die da schrieb". - Die Worte "Mene, tekel, u-pharsin" waren aramäisch, das die dort in der Verbannung lebenden Juden (wie auch später noch Jesus) sprachen, die Babylonier aber nicht verstanden. Da holte man den einstigen indischen Palastknaben Daniel herbei, der drei Jahre lang Wein und Fleisch erhalten sollte, um das Wohlgefallen des Königs Nebukadnezar zu erregen, sich aber mit seinen drei Schicksalsgenossen dessen standhaft geweigert hatte. Der kannte die Sprache und zog sich nun, wenn er auch nach neuerer Forschung das letzte Wort unrichtig übersetzte, mit anerkennenswerter Findigkeit aus der für ihn nicht unbedenklichen und mißlichen Affäre.
Daß übrigens Belsazar dort als König ein Gastmahl hielt, ist einer der vielen geschichtlichen Irrtümer des erst wenige Jahrhunderte v. Chr. niedergeschriebenen Sammelbuches Daniel; denn auf Nebuchodonosor folgten Neriklissa und - aus anderer Familie - Nabonit (555-539 v. Chr.). Erst dessen Sohn war Belsazar. Er wurde niemals König, sondern fiel als Thronfolger und Führer der Chaldäerheere im Kampfe gegen die Perser unter Cyrus. Ebenso ist auch die im Danielbuche geschilderte Wahnsinnsperiode des großen Chaldäerkönigs (Dan. 4, 30) nirgends beglaubigt.
"Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasset uns Ziegel streichen und brennen! Und sie nahmen Ziegel zu Stein und Erdharz zu Kalk, und sprachen: Wohlan, lasset uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen, denn wir werden sonst zerstreuet in alle Länder. Da fuhr der Herr hernieder, daß Er sähe Stadt und Turm, die die Menschenkinder baueten, und verwirrete ihre Sprache und zerstreuete sie" (1. Mos. 11, 3-5). Die Reste dieses sagenhaften Turmes von Babel, nach Strabo eines ungeheuren Tempels, ließ Alexander der Große durch täglich zwanzigtausend Arbeiter abtragen. Er wollte ihn neu errichten, starb jedoch darüber und so unterblieb die Ausführung. Man glaubt jetzt, die Grundmauern des Babylonischen Turmes, der Stufenpyramide Etemenanki, unter dem Hügel Imran Ibn Ali im Süden von Babylon gefunden zu haben, wo auch wahrscheinlich der größte und berühmteste Tempel Esagilah des Hauptgottes Merodach gestanden hat. Zur Zeit meiner Anwesenheit waren indessen dort die Ausgrabungen noch nicht in Angriff genommen; sie dürften auch außerordentliche Schwierigkeiten bieten, da der abzutragende Hügel eine Höhe von 24 m, also etwa die eines achtstöckigen Gebäudes hat.
Eine halbe Stunde nördlich des deutschen Hauses erhebt sich mitten im Ödland der Hügel Babil, unter dem man einen weiteren Palast des Nebuchodonosor mit den sogenannten hängenden Gärten der sagenumsponnenen Königin Semiramis gefunden haben will. Der Boden ist durchwühlt; es rührt dies jedoch nicht von Ausgrabungen her, sondern von Arabern, die auch hier viele der gebrannten und mit dem Stempel Nebuchodonosors versehenen Ziegel herausgebrochen und zu anderweitigen Bauten verwendet haben.
Gewiß war Babylon eine gewaltige Stadt, und doch mögen die Angaben Herodots über seine Größe ebenso wie über diejenige des später von mir besuchten Assur und Ninive in orientalischer, mit den Zahlen willkürlich umspringender Weise übertrieben sein. Man muß immer bedenken, daß in den ältesten Städten Macht und Reichtum ausschließlich in Tempel- und Palastbauten ihren Ausdruck fanden, während die besitzlose große Masse der Bevölkerung in Häusern wohnte, die zwar der Sicherheit wegen dicht zusammengedrängt, aber schon mit Rücksicht auf das verfügbare Material meist nur einstöckig waren.
Während meiner langen Streifzüge auf den Trümmerstätten in Begleitung des Professors oder eines seiner Gehilfen entwickelten die Sonnenstrahlen - Ende März! - schon eine unheimliche Gewalt. So kann ich mir lebhaft vorstellen, daß die dort häufig bereits im April einsetzende sommerliche Hitze ganz außerordentlich sein muß. Während des etwa fünfzig Tage wehenden Nordwindes, des Chamsin, soll es noch erträglich sein, obwohl das Thermometer wochenlang 55° C. im Schatten zeige; wenn der Südwind aber einsetze, sei es kaum mehr auszuhalten. Bei einer Temperatur von nur 35° C benehme dann die ohne Abkühlung gleichmäßig feuchtwarm Luft förmlich den Atem und lasse alle Gegenstände klebrig anfühlen.
Im Hinblick auf das Kommende wurden denn auch im Deutschen Hause bereits die Vorbereitungen getroffen, um die Betten nach der Plattform zu bringen, auf der die Herren den ganzen Sommer hindurch mächtigen, über sich nur das funkelnde Sternenzelt.
Und dieses ist unbeschreiblich schön. Nach Sonnenuntergang stieg ich hinauf auf den Söller. Noch war der Horizont westlich belichtet, als von Osten her schon die Nacht emporstieg und ihr Sternengezelt über der aufatmenden Landschaft ausspannte. Fahl lag ringsum der kühle Flimmerzauber des Vollmondes auf verlassenen Arbeitsstätten, Palmen und Euphrat; über mir schimmerten und glitzerten in blausammtenem Grunde goldene Sterne ohne Zahl. Je mehr man durch die klare Luft in die Himmelswölbung hineinsah, desto mehr schien diese sich förmlich herabzusenken und mir ihre von Schöpferhand in köstlichen Figuren geordneten Wunder näher zu bringen.
Darum wurde wohl gerade in Babylonien die Beobachtung des Sternenhimmels und seiner Wandlungen schon in den frühesten Zeiten zu einer Wissenschaft der Priesterkaste ausgebildet und die nahe gerückte Sternenwelt, die man ja nur für die flach und unbeweglich gedachte Erde geschaffen glaubte, in Verbindung mit den Menschen und ihren Schicksalen gebracht. Hieraus erklärt sich auch das Entstehen der Legende von dem Eingreifen eines Sternes bei Jesu Geburt, der Matth. 2, 2 ausdrücklich als "sein", des neugeborenen Königs der Juden, Stern bezeichnet wird, sowie von dem Auftreten der ihm folgenden Weisen oder, wie es im Urtexte heißt, der "Magier aus dem Morgenlande", d. h. nach der biblischen Auffassung aus Babylonien. Ebenso war die im frühestem Altertum und in der Bibel eine große Rolle spielende Traumdeutung - ich erinnere nur an Jakob, Joseph und das Buch Daniel – eine Wissenschaft, und wir dürfen uns die "Weisen", welche sich damit beschäftigten und nicht selten die Opfer ihres gefährlichen Berufes wurden, nicht schlechtweg als Betrüger, sondern eher als in der Menschenkenntnis erfahrene, nervenkundige, etwa unsern Psychiatern vergleichbare Männer vorstellen.
Nach zwei Rasttagen verließ ich unter den Glück- und Segenswünschen der Zurückbleibenden das gastliche deutsche Heim und zog fast wehmütig aus Babylons Palmen hinaus in die trostlose Landschaft gen Bagdad.
Hoffmeister, Eduard von
Kairo-Bagdad-Konstantinopel
Leipzig und Berlin 1910