Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1846 - Austen Henry Layard
Der Fund der geflügelten Löwen
Nimrud bei Mosul, Irak

Ich ritt nach dem Lager des Sheikh Abd-er-Rahman und wollte eben nach dem Hügel zurückkehren, da sah ich zwei Araber seines Stammes, ihre Pferde zur äußersten Schnelligkeit antreibend, heransprengen. Als sie sich mir näherten, hielten sie an. „Eile, o Bey,“ rief einer von ihnen aus – „eile zu den Grabenden hin, denn sie haben Nimrod selbst gefunden! Wallah! Das ist ein Wunder, aber es ist wahr! Wir haben ihn mit unseren Augen gesehen! Es gibt nur einen Gott!“ Und als beide in diesen frommen Ausruf eingestimmt hatten, galoppierten sie, ohne ein Wort weiter zu sagen, in der Richtung nach ihren Zelten fort.
   Als ich die Ruinen erreicht hatte, stieg ich in den neuen Einschnittsgraben und fand die Arbeiter, die mich hatten kommen sehen, in der Nähe eines Haufens von Körben und Mänteln. Während Awad [der Vorarbeiter] auf mich zukam und ein Geschenk zur Feier des Tages verlangte, machten sie Araber die Verkleidung, die sie eiligst errichtet hatten, ab und brachten so einen ungeheuren menschlichen Kopf zu Tage, der aus einem Stück aus dem im Lande anzutreffenden Alabaster gehauen war. Nur den oberen Teil einer Figur, deren Rest noch in der Erde begraben lag, hatten sie bloßgelegt. Ich sah sogleich, daß dieser Kopf einem geflügelten Löwen oder Stier angehören müsse, der den zu Khorsabad oder Persepolis gefundenen ähnlich sei. Er war bewunderungswürdig gut erhalten. Der Ausdruck war ruhig, aber majestätisch, und der Umriß der Gesichtszüge zeigte eine Freiheit und Kenntnis der Kunst, die man an Werken einer so frühen Periode wohl schwerlich erwartet haben dürfte. Die Kopfbedeckung hatte drei Hörner und war unähnlich den bisher in Assyrien gefundenen menschenähnlichen Stieren oben abgerundet und ohne Verzierung.
   Ich erstaunte gar nicht darüber, daß die Araber durch diese Erscheinung in Furcht und Schrecken gesetzt waren. Es gehörte eben keine ausgedehnte Einbildungskraft dazu, um die seltsamsten Phantasien heraufzubeschwören. Dieser gigantische Kopf, vom Alter gebleicht, so aus den Eingeweiden der Erde heraufsteigend, konnte wohl einem der entsetzlichen Wesen angehören, welche in den Traditionen des Landes als langsam aus den unterirdischen Regionen heraufkommend und den Sterblichen erscheinend angegeben werden. Als einer der Arbeiter den ersten Blick auf das Ungeheuer getan, hatte er seinen Korb von sich geworfen und war so schnell, wie ihn seine Beine fortzubringen vermochten, geraden Wegs nach Mosul gelaufen. Diese Nachricht war mir höchst unangenehm, da ich die Folgen davon voraussah.
   Während ich die Entfernung der noch an dem Bilde befindlichen Erde selbst beaufsichtigte und Befehl gab, die Ausgrabung fortzusetzen, hörte ich den Lärm ankommender Reiter, und augenblicklich erschien Abd-er-Rahman mit der Hälfte seines Stammes am Rande des Laufgrabens. Sobald nämlich die zwei Araber die Zelte erreicht hatten und die Wunder, die sie gesehen, bekannt gemacht hatten, bestieg Jedermann seine Stute und ritt nach dem Hügel, um sich selbst über diese unbegreifliche Nachricht Gewißheit zu verschaffen. So wie sie den Kopf sahen, riefen sie alle zu gleicher Zeit aus: „Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Prophet!“ Es verging einige Zeit, bevor ich den Sheikh dazu zu bringen vermochte, in die Grube herabzusteigen und sich zu überzeugen, daß das Bild, welches er sehe, von Stein sei. „Das ist kein Werk von Menschenhänden,“ rief er aus, „sondern von den ungläubigen Riesen, von welchen der Prophet, Friede sei mit ihm! sagt, daß sie größer waren als die höchsten Dattelbäume, dies ist eines der Götzenbilder, welche Noah, Friede sei mit ihm! vor der Sündflut verfluchte!“ In diese Meinung, die der Erfolg einer sorgfältigen Untersuchung war, stimmten alle Umstehenden mit ihm überein.
   Ich ließ nun genau südlich vom Kopfe graben in der Erwartung, eine entsprechende Figur zu finden, und bevor die Nacht eintrat, erreichte ich in einer Entfernung von etwa 12 Fuß den Gegenstand meiner Nachsuchung. Nachdem ich zwei bis drei Männer angenommen hatte, bei den Skulpturen zu schlafen, kehrte ich nach den Dort zurück und feierte die Entdeckungen des Tages durch ein Schafschlachtfest, an dem alle in der Nähe wohnenden Araber Teil nahmen. Da sich einige wandernde Musikanten zufällig in Selamijah befanden, schickte ich nach ihnen und es wurde darauf während des größten Teils der Nacht getanzt. Am folgenden Tag stellten sich zahlreiche Gesellschaften von Arabern von der anderen Seite des Tigris und die Bewohner der umliegenden Dörfer bei dem Ruinenhügel ein. Sogar die Frauenzimmer konnten ihre Neugier nicht unterdrücken und guckten, in großer Anzahl mit Kindern kommend, aus der Entfernung danach. In den Laufgraben aber hatte ich meinen Kawass des Tages über stationiert, weil ich die Menge unmöglich da hinein lassen konnte.
   Die von dem erschrockenen Araber nach Mosul gebrachte Nachricht von dem gigantischen Kopfe hatte, wie ich erwartet hatte, einige Aufregung in der Stadt bewirkt. Atemlos in die Bazars hineinrennend, hatte er jedem, der ihm begegnete, erzählt, daß Nimrod erschienen sei. Die Neuigkeit gelangte bald zu den Ohren des Kadis, welcher, begierig nach einer neuen Gelegenheit, mich zu belästigen, den Mufti und die Ulema zusammenrief, um über diesen unerwarteten Vorfall zu beraten. Ihre Deliberationen endeten mit einer Prozession zum Gouverneur und mit einer Protestation von Seiten der Muselmänner der Stadt gegen Unternehmungen, die so geradezu gegen die Gesetze des Korans verstießen. Der Kadi hatte keinen deutlichen Begriff davon, ob die Gebeine des gewaltigen Jägers oder nur sein Bild zu Tage gefördert sei; auch Ismael Pascha [der Gouverneur] konnte sich nicht deutlich entsinnen, ob Nimrod ein echtgläubiger Prophet oder ein Ungläubiger gewesen. Ich erhielt daher eine etwas unverständliche Botschaft von Sr. Exzellenz, welche bewirken sollte, daß die Überreste ehrfurchtsvoll behandelt und nicht mehr gestört werden sollten; daß er ferner wünsche, ich solle mit den Ausgrabungen sogleich anhalten und mich mit ihm darüber besprechen.
   Ich machte ihm daher meine Aufwartung und hatte einige Schwierigkeit, ihm die Natur meiner Entdeckung begreiflich zu machen. Da er mich bat, mit den Ausgrabungen auszusetzen, bis sich die Aufregung in der Stadt wieder etwas gegeben habe, so kehrte ich nach Nimrud zurück, entließ meine Arbeiter und behielt nur zwei Mann, welche mit Muße längs der Mauer hingraben sollten, ohne Ursache zu weiterem Einschreiten zu geben. Zu Ende März hatte ich schon die Gewißheit des Vorhandenseins zweier geflügelter und mit Menschenköpfen versehener Löwen, die sich von den früher entdeckten in der Gestalt unterschieden, insofern die menschliche Gestalt bis zur Taille herabging und sie auch mit Armen versehen waren. In der einen Hand hielt jede Figur einen Bock oder Hirsch und in der anderen, die an der Seite herabhing, ein Zweig mit drei Blumen. Sie bildeten einen Eingang in des Zimmer, zu dem die früher beschriebenen Löwen das westliche Portal gebildet hatten. Ich legte das Zimmer ganz frei und fand, daß die Löwen ganz waren. Sie waren ungefähr 12 Fuß hoch und ebenso lang. Der Körper und die Glieder waren bewunderungswürdig portraitiert, die Muskeln und Knochen, obgleich stark entwickelt, um die Stärke des Tieres darzustellen, zeugten doch zugleich von einer genauen und richtigen Kenntnis ihrer Anatomie und Form. Ausgebreitete Flügel sprangen aus der Schulter heraus und erstreckten sich über den Rücken hinaus. Ein Gürtel, der mit einem Knoten geschlossen, in Quasten endigte, umgab die Lenden. Diese Sculpturen, die einen Eingang bildeten, waren zum Teil frei, zum Teil in Relief. Der Kopf und das Vorderteil, welche dem Zimmer gegenüberstanden, standen frei; aber nur die eine Seite des Restes der Platte war behauen, der Rücken war an die Wand von an der Sonne getrockneten Ziegeln gelehnt. Damit der Beschauer eine vollkommene Front- und Seitenansicht der Figuren haben möchte, waren sie mit fünf Beinen versehen; zwei waren am Ende der Platte dem Zimmer gegenüber ausgehauen, und drei an der Seite. Der Leib und drei Gliedmaßen waren im Hautrelief und kühn und an allen Teilen, die die das Bild nicht einnahm, war die Platte mit Keilbuchstaben bedeckt. Diese Prachtexemplare assyrischer Baukunst waren vollkommen gut erhalten; die zartesten Linien in den Details der Flügel und in den Ornamenten hatten ihre ursprüngliche Frische erhalten; den Inschriften fehlte aber auch nicht ein Buchstabe.
   Stundenlang betrachtete ich diese mysteriösen Embleme und dachte über ihre Bedeutung und Geschichte nach. Welche edleren Formen hätte wohl das Volk in den Tempel seiner Götter einführen können? Welche erhabeneren Bilder hätten der Natur entlehnt werden können von Leuten, welche, ohne Hilfe der geoffenbarten Religion, ihre Begriffe von Weisheit, Macht und Allgegenwart eines höchsten Wesens zu verkörpern suchten? Für Verstand und Kenntnis konnten sie kein besseres Musterbild finden als den Kopf des Menschen, für Kraft den Körper des Löwen, für die Allgegenwart die Schwingen des Vogels. Diese geflügelten menschenköpfigen Löwen waren keine bedeutungslosen Schöpfungen, nicht nur das Erzeugnis der Phantasie; was sie bedeuten sollten, war darauf geschrieben. Sie hatten Geschlechter mit Ehrfurcht erfüllt und belehrt, welche vor 3.000 Jahren blühten Durch die Portale, welche sie bewachten, hatten Könige, Priester und Krieger Opfer zu den Altären getragen, lange bevor die Weisheit des Morgenlandes bis nach Griechenland vorgedrungen war und dieses seine Mythologie mit lange von den assyrischen Geweihten gekannten Symbolen versehen hatte. Sie mögen vor der Gründung der ewigen Stadt begraben worden und ihr Dasein unbekannt gewesen sein. Seit 25 Jahrhunderten waren sie dem Auge des Menschen verborgen und nun erstanden sie noch einmal wieder in ihrer antiken Majestät.

Layard, Austin Henry
Niniveh und seine Überreste
Leipzig 1854

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