1806 - Ulrich Jasper Seetzen
Die Räuberetikette der Beduinen
Westufer des Toten Meeres
In der ungestörtesten Ruhe hatten wir ungefähr das Ende der einsamen kleinen Ebene erreicht, als ich auf einmal meine Leute, von panischer Furcht ergriffen, aufs schnellste die Flucht rückwärts ergreifen sah. Bodrus winkte und rief, daß ich ihnen folgen möchte. Obgleich ich durchaus keinen Grund für dieses auffallende Betragen sah, so vermutete ich doch gleich, daß wir in eine gefährliche Schlinge geraten seien. Ich lenkte daher ohne weitere Untersuchung mein Maultier um und trieb es mit allen Kräften an. Allein alle Stöße und Schläge halfen sehr wenig; dies verwünschte stoische Tier wollte durchaus nicht einsehen, daß es nötig sei, den Rückweg schneller zu machen, als es den Herweg gemacht hatte. Nach Verlauf von einigen Minuten hörte ich in der Ferne ein wildes Geschrei hinter mir, das immer näher kam, und nun erst wurde meine Ahnung zur Gewißheit, daß wir unter Räuber gefallen seien.
Da ich schneller laufen zu können glaubte als mein eigensinniges Tier, welchem es gleichgültig sein mochte, ob es uns oder unsern Räubern zugehöre, blieb es doch immer ein Sklave, so verließ ich eilends seinen Rücken und suchte meine Leute einzuholen. Allein mein Wettlauf war sehr übel berechnet. Denn unglücklicherweise hatte ich meine Taschen so sehr mit Steinen und Pflanzen beladen und wurde überdies durch meinen Pelz und meine tuchenen Schariwaryhosen so sehr im Laufen behindert, daß ich bald einsah, meine Bemühungen würden fruchtlos sein, zumal die Stimme meines Verfolgers, der mir immer zu stehen zurief, mir schon sehr nahe war, und ich bedachte, daß er wohl gar seinem Befehle durch eine Flintenkugel mehr Gewicht geben könnte.
Ich entschloß mich daher, stillezustehen und mein Geschick zu erwarten. Fast in dem nämlichen Augenblick fühlte ich mich von der Hand eines Menschen ergriffen, welchen ich beim Rückblick für einen Halbneger erkannte. Er war mit einer Flinte und einem tüchtigen Stock bewaffnet und befahl mir, wilden Blicks und atemlos keuchend, abzulegen oder, mit anderen Worten, mich auszuziehen. Da ich ihm zu langsam zu machen schien, so half er mir sehr schnell, indem er mir meine Jacke mehr abriß als auszog. Noch damit beschäftigt, kamen mehrere, teils Neger, teils gelbbraune Menschen, herzugerannt, wovon einige sich mit aufgehobenen Keulen und Stöcken mit drohender Miene um mich stellten, währenddem andere meine Taschen visitierten, worin sie vergebens nach Geld suchten, welches ich in Bethlehem zurückgelassen hatte, mir die Uhr nahmen, den Turban abrissen usw. Die meisten setzten aber meinen Gefährten nach, welche in den Bergen einen Schlupfwinkel zu finden hofften. Sobald ich erst überzeugt war, daß sie weiter nichts wollten als meine Habe, so setzte ich mich ganz ruhig zwischen ihnen nieder und sah ihrem Verfahren zu. Man legte mein Tagebuch und sonstige Papiere nebst meinem kleinen Vorrat von Steinen und Pflanzen sorgfältig auf einen Haufen beisammen, und einer sagte zum andern: "Diese lasset ihm!"
Während diese mit mir beschäftigt waren, wobei sie sich durchaus keine Mißhandlung erlaubten, weil ich mich nicht widersetzte, erscholl auf einmal ein Geschrei: "Haltet ein! Haltet ein! Es ist unter ihnen ein Bekannter und Freund von uns." Die nachsetzenden Räuber hatten in kurzem meine Leute eingeholt, und nun fand es sich, daß Hamdan, der Rscheide, mehrere von ihnen erkannte, und diese Bekanntschaft machte uns alle sogleich zu ihren Schützlingen und Freunden. Alle versammelten sich nun in einem Haufen, zweiundsiebzig Mann stark, um mich, und ich wurde gefragt, was mir von meinen Sachen fehle. Obgleich die geraubten Stücke in mehrere Hände gekommen waren, obgleich ich keinen davon anzugeben wußte und obgleich jeder von ihnen wünschte, das Geraubte zu behalten, so kam nichtsdestoweniger einer nach dem andern und stellte mir das geraubte Stück, sowie ich es nannte, mit lächelnder Miene wiederum zu. Bei jeder genannten Sache wurde von ihrem Anführer mit lauter Stimme ausgerufen: " 0 Burschen, o Freunde! Denkt an den Propheten, und wer dies oder das" (er nannte es) "hat, gebe es ihm wieder zurück!" Auf diese Art kam ich wieder zu allem meinem Gut, daß mir auch nicht die geringste Kleinigkeit fehlte.
Wir setzten uns nun einige Augenblicke zusammen und scherzten und lachten über unser Abenteuer. Es ist eine sonderbare Sache mit diesen Leuten. Man versicherte uns offenherzig, wären keine Bekannten von ihnen unter uns gewesen, so würden wir sicher alle geplündert sein. Unsere Räuber waren Beduinen vom Stamme Htem, welcher sich ost- und nordwärts von dem berühmten griechischen Kloster Mar Szaba und in EI Gor um Jericho aufhält, und mit ihnen hatten sich etliche Beduinen von der Ostseite des Jordans vereint. Sie waren vor wenigen Tagen in Masse aufgestanden, um sich an einem südwärts von Ain Dschiddy auf den Bergen wohnenden kleinen Stamme von etwa sieben Zelten, Beni Kreische, wenn mir recht ist, genannt, zu rächen, welchen sie in Verdacht hatten, daß er ihnen mehrere Rinder geraubt. Schon bei einer anderen Gelegenheit hatten sie etliche von diesem feindlichen Stamme ermordet.
Sie versehen sich bei solchen Expeditionen mit etwas Mehl, woraus sie Fladenbrote backen, welche alsdann ihre einzige Nahrung ausmachen. Sie waren alle nur mit einem Hemde von grobem weißem Baumwollenzeug und darüber mit einem alten, oft zerrissenen Abbaje bekleidet, welchen sie mit einem ledernen Gurt um den Leib befestigt hatten, worin sie ihre Handschar, Pulverbüchse usw. trugen. Hosen tragen sie nicht. Die Beine und Füße waren bei den meisten nackt, und nur etliche wenige trugen Fußsohlen. Die Hälfte von ihnen war mit Luntenflinten versehen.
Ihr Anführer hieß Achmed Ihn Nszer. Er war ein rüstiger und beredter Mann von mittleren Jahren, der sich durch seine besseren Manieren auszeichnete. Er war bloß mit einer kurzen Keule bewaffnet, womit er aber in beträchtlicher Ferne einen Gegenstand genau zu treffen wußte. Er trug über seinem Abbaje noch ein Schaffell. Unter seinen Leuten waren mehrere Neger, woraus fast die Hälfte des Stammes der Htem besteht. Da ich mich während der ersten Szene meiner Gefangennehmung von lauter Negern umgeben sah, so glaubte ich eine Gruppe von Wilden des inneren Afrikas um mich zu sehen. Ich bemerkte sehr wenige muskulöse Leute unter ihnen, sie waren meistenteils mager und dem Ansehen nach von weniger körperlicher Stärke, obgleich auch dazu ihr angestrengter Marsch mit beigetragen haben mochte. Ihre Brotportionen fallen bei solchen Expeditionen gewöhnlich sehr klein aus, weswegen sie immer hungrig sind. Beim Abschied mußten wir ihnen einen Teil von unserm Mehl und von unserrn Tabak, den sie, so wie die meisten Beduinen, leidenschaftlich lieben, abgeben, da sie uns alsdann eine glückliche Reise wünschten und weiter südwärts zogen.
Bei Gelegenheit dieses Abenteuers sei es mir erlaubt, eine Reflexion über hiesige und europäische Räuber mitzuteilen, welche zum Beweise dient, daß auch das Vollkommenste seine Unvollkommenheit habe. Die außerordentliche Sorgfalt, welche die europäische Polizei auf die öffentliche Sicherheit verwendet, und die schwere und unvermeidliche Strafe, welche Räuber bedroht, falls sie ergriffen werden, macht diese Leute bei uns weit gefährlicher als hier. Unser Räuber sieht sich häufig genötigt, zu Mißhandlungen, ja selbst zum Mord zu schreiten, um sich für die Gefahr, verraten zu werden, sicherzustellen, gesetzt auch, daß der Beraubte unbewaffnet ist und sich durchaus nicht verteidigt.
Der hiesige Räuber dagegen, und dies sind alle Beduinen fast ohne Ausnahme, hat nie nötig, zu solchen grausamen Mitteln zu schreiten, indem er keine Strafe fürchtet und ihn bei seinen Bekannten keine Schande, sondern vielmehr Ehre für einen Raub erwartet. Bloß in dem Fall, wenn der Beraubte sich heftig widersetzt und das Leben des Angreifenden selbst in Gefahr kommt, kann er in der Hitze zu einem solchen Schritt bewogen werden, sonst wohl nie. Bodrus erhielt in dieser Hinsicht eine kleine Lehre. Er hatte sich bei seiner Gefangennehmung anfangs widersetzen wollen und zu dem Ende seinen Handschar gezogen, wofür er aber von einem jungen Neger einen derben Schlag über Schulter und Ellenbogen erhielt, den er mehrere Tage schmerzlich fühlte.
Diese überall unter Beduinen gemachte Erfahrung kann einem Reisenden die Lehre geben, daß er sich nie im Falle eines Angriffs widersetze, weil der Verlust, den er erleidet, nie mit dem Verlust des Lebens in Vergleich zu stellen ist. Soviel nur immer möglich ist, führe er, wo er Angriffe von Arabern befürchten kann, nie Sachen mit sich, deren Verlust ihm unersetzlich ist oder ihn in der Folge drückt. Der Beduine ist wirklich ein humaner Räuber; widersetzt man sich ihm nicht, so kann man immer sicher sein, daß er einem immer so viel von Kleidungsstücken läßt, als zur Bedeckung und Erwärmung notwendig ist. Außerdem ist der Umstand für einen wissenschaftlichen Reisenden von großer Wichtigkeit, daß man ihm immer sein Tagebuch und sonstige Bücher und Papiere unbeschädigt überläßt. Ganz anders hingegen beträgt sich der Araber gegen seine Feinde. Hier zeigt er sich oft wirklich grausam, indem bei solchen Überfällen bisweilen weder Kind noch Weib geschont werden.
Dies Abenteuer mochte uns etwa anderthalb Stunden aufgehalten haben.
Seetzen, Ulrich Jasper
Reisen durch Syrien, Palästina, Phönicien, die Tansjordan-Länder, Arabia petraea und Unter-Aegypten
Band 2, Weimar 1854; Nachdruck 2004