1888 - Eduard Glaser
In Marib
Am späten Abend erreichten wir das Wadi Malah, die Grenze des Gebietes von Marib. Da sich hier ebenso wie bis Marib keine Ortschaft befindet, sondern sich allerlei Beduinenvolk herumtreibt, über das der Emir keine Macht hat, so war auch im Wadi Malah unseres Bleibens nicht. Wir durchschritten in förmlichem Eilmarsche die große, zum System des Wadi Malah gehörende Ebene Mengora, auf deren nördlicher Seite die Ruine Hasa oder Hasi liegt, das auf dem Dschebel Hailan entspringende Wadi el-Haifa, das gleichfalls vom Hailan kommende und sehr weit unten sich mit dem Wadi el-Haffa vereinigende Wadi Himar, dann die brunnenreiche Gegend Es-Suwaben (ein kleines, direkt ins Denne einströmendes Wadi), hierauf die sandige Ebene El-Hajjal; und gelangten eine halbe Stunde nach Mitternacht an eine Atf el-Hamra genannte Stelle, wo wir todmüde, aber in leidlicher Sicherheit übernachteten, ohne auch nur das geringste gegessen zu haben. Wir waren nicht weniger als siebzehn Stunden zu Pferde, also noch mehr als auf der ersten Etappe. Obzwar wir keine Zelte mit hatten, sondern ganz nach Beduinenart unter freiem Himmel lagerten, schliefen wir dennoch köstlicher als Fürsten in ihren Palästen.
Der eintretende Morgen gestattete mir, das großartige Panorama zu betrachten, das sich meinen Augen darbot. Ich befand mich mitten in einer zwar wilden, aber historisch bedeutenden Landschaft, und der Gedanke, glücklich bis in die Nähe Maribs, meines vieljährigen Forschungszieles, gelangt zu sein, ließ mich in einem Entzücken schwelgen, das nur derjenige mitzuempfinden vermag, welcher selbst ähnlich opfervollen und mühsamen, aber auch genußreichen Bestrebungen gehuldigt hat. Ich hätte in jenem Augenblick mit keinem König getauscht. Der Anblick der beiden Dschebel Balak, die vor mir lagen, die großartige Ebene, die, nach Westen und Osten sich erstreckend und im Norden und Süden von malerischen Bergen umrahmt, vielleicht das Wasserbecken des berühmten Dammes der alten Sabäer bildete, der Ausblick nach Ostnordost gegen die Enge zwischen dem Balak el-Kibli und dem Balak el-Ausat, wo ich nun bald das große Werk der Sabäer mit meinen Augen sehen sollte, alles dies versetzte mich in eine erwartungsvolle, aber darum doch befriedigende und freudige Erregung.
Um 6 Uhr morgens - es war Mittwoch, der 21. März - begrüßte mich der Emir voll Stolz in seiner Eigenschaft als Landesherr und erklärte mir, daß wir fortan von niemandem mehr etwas zu befürchten hätten. Ich meinerseits beglückwünschte den Emir und seinen Bruder zu ihrer Mannhaftigkeit und Umsicht, die sie während des ganzen Weges durch gefährliche, von keinem Europäer vor mir betretene Gebiete bewiesen; und in fröhlichster Stimmung ritten wir teils durch, teils längs eines förmlichen Tamariskenurwaldes (El-Hudrig genannt), welcher sich zu beiden Seiten des Wadi erstreckt und die ganze Gegend mit Brenn- und Bauholz versieht. Die beiden Balakberge nähern sich immer mehr und mehr. An ihren Flanken bemerken wir hie und da einen im ganzen Längsprofil bloßgelegten alten Brunnen und schon ganz nahe der Enge auf dem nördlichen Berge die Überreste eines Kunstweges, den Nakil el-Mudarrag, der zur alten Zeit, als der Damm noch bestand, einen Teil der großen Straße bildete, die heute ihren Verlauf in der Talsohle selbst nimmt.
Wir durchschritten nun die Enge, welche durch einen nach Süden vorspringenden Ausläufer des Balak el-Kibli und den mittleren Balak gebildet wird, und gelangten um 7.30 Uhr zu den Überresten des Dammes, von denen wir uns sofort zu den nördlichen Schleusenbauten bei dem Husn el-Gifeine [Husn = steinernes Gebäude] begaben. Hier kopierte ich vor allem drei großartige, bisher unbekannte, aber nur einen Text bildende Inschriften, jede von mehr als 30 Zeilen, welche über den Damm und andere Dinge ausführlichen Aufschluß geben. Die Inschriften befinden sich auf einem kolossalen Steinprisma, dessen Dimensionen, Länge, Breite und Tiefe, 2,25, 0,63 und 0,37 m sind. Gleich daneben ein anderes Steinprisma von noch größeren Dimensionen. Beide sind auf allen vier Seiten beschrieben. Ich kopierte bei dieser ersten Gelegenheit nur die drei zugänglichen Seiten des einen in zwei Stücke zerbrochenen Steines, da wir nicht genügend Leute hatten, den schweren Stein umzuwenden. Den zweiten Block ließ ich mit Rücksicht auf die brennende Sonne und den Wunsch des Emirs, vor allen Dingen nach Marib zu gelangen, an jenem Tage unberührt. Nachdem ich noch in aller Eile einige kleine Inschriften der Schleusenbauten kopiert hatte, machten wir uns um 10.30 Uhr auf, und die zerklüftete, aus klaftertiefem Schlamm bestehende und mit zahllosen Manasish, das heißt alten Wasserverteilungskiosken, bedeckte Ebene von Saba durchreitend, gelangten wir um 12.05 Uhr zu den westlichen Überresten der alten Stadtmauer und nach weiteren 10 Minuten, während deren wir die zahllosen Ruinenhügel und Säulen der alten Stadt bewunderten, zum Mesgid Suleiman ben Daud knapp westlich unterhalb des auf einem großen antiken Düngerhügel malerisch erbauten Dorfes Marib, dessen Einwohner fast vollzählig vor dem Dorfe versammelt waren, um ihren Emir zu begrüßen und die sonderbare Reisegesellschaft anzustaunen.
Eine Anzahl brauner, man möchte sagen schwarzer Gesellen, Sklaven, stürzte auf den Wink des Emirs zum Brunnen und schöpfte mit ohrenzerreißendem rhythmischem Geschrei: »Hib, hib hib, hib, hi« aus einer Tiefe von 47,5 m das erquickende Naß. Wir überließen die Tiere den Sklaven und begaben uns zunächst, dem landesüblichen Brauch entsprechend, ins Gotteshaus, um zu beten. Sodann stiegen wir die wenigen Schritte zum Dorfe hinan und nahmen hier die Begrüßung der Einwohner entgegen. Jeder drückte uns die Hand und küßte seine eigene. Es waren durchwegs verwegen ausschauende Hungergestalten, so daß der erste Wunsch des frommen Sejjid Mohammad für den Herrscher war, daß ihn Gott vor diesen Beduinen allezeit beschützen möge, ein Wunsch, dem ich mich aus vollem Herzen anschloß. Man brachte uns nun in das Haus des Emirs Husein, einen einfachen dreistöckigen, sich nach oben verjüngenden Lehmbau, der unten einige Steinlagen aufweist. In einem kleinen Zimmer des zweiten Stockwerkes machten wir es uns so bequem als möglich.
Nun kamen der Reihe nach auch noch die übrigen Untertanen Seiner Hoheit, welche von ihren Angehörigen im Hinblick auf das große Ereignis von den nahen Ackergründen geholt wurden, und das Begrüßen nahm bis in die späte Nacht kein Ende. Die Aufwartung wurde den guten Leuten wesentlich erleichtert und angenehm gestaltet durch meine Wasserpfeife, deren Rohr von Mund zu Munde ging, und durch vortrefflichen schwarzen Kaffee, den wir den Gästen reichen ließen, zwei Genüsse, die man in Marib, selbst in den höchstgestellten Kreisen, seit Jahren nicht mehr kannte.
Es dürfte nun dem Leser willkommen sein, wenn ich ihn zunächst ein wenig über die Ortschaft und Gegend von Marib und die Bewohner dieses Landes, mit denen wir nun einen vollen Monat in Kontakt blieben, orientiere. Eine genaue eingehende Darstellung aller Verhältnisse muß natürlich einem wissenschaftlichen Spezialwerk vorbehalten bleiben.
Marib, die Metropole der alten Sabäer und die Regia omnium Marjaba des Plinius, liegt ziemlich genau östlich von Sanaa beiläufig in der geographischen Breite von 15°26' N und ist 45 Längengrade und 16 Minuten von Greenwich entfernt. Sie liegt also in ziemlich gleichem Abstände (zirka zehn Tagesreisen) vom Roten Meere und vom Golf von Aden und war daher in alter Zeit der geeignetste Mittelpunkt des sabäischen Reiches, dessen Hauptgebiet der Südwestwinkel von Arabien, bisweilen auch mit Einschluß des Gebirgslandes von Hadramaut und Mahra, bildete. In der Tat konnte man keine günstigere Position für die Hauptstadt eines Reiches wählen, dessen Seehandel an den Küsten des Golfes von Aden bis nach Mahra hin seine Stapelplätze hatte und dessen Handelsverkehr zu Lande geradezu nur auf eine einzige gangbare, das heißt nicht über Berg und Tal führende Straße nach Nordnordwest, nämlich auf die Straße durch die Flachländer gegen Negrana hin, angewiesen war, an welcher eben Marib lag und für welche die Gegend von Marib naturgemäß nicht nur Proviant-, sondern auch Handelszentrum sein mußte.
Die Gegend von Marib ist nämlich, vorausgesetzt, daß genügend Wasser vorhanden ist, eine der gesegnetsten, ja ich sage, die gesegnetste von ganz Arabien; denn die nach Osten unabsehbare, im Norden und Süden oder richtiger Südosten von niedrigen, von der Stadt zirka zwei Wegstunden entfernten Höhenzügen und im Westen von den Balakbergen begrenzte Ebene von Marib, welche nach meinen Messungen ziemlich genau 1.160 m über dem Meeresniveau liegt, besteht besonders in ihrem westlichen Teile aus ungemein fruchtbarem, von den Bergen Jemens herabgeschwemmtem Erdreich, dessen Mächtigkeit mit der Entfernung vom Damm nach Nordosten zuzunehmen scheint. Oberhalb der Eindämmungsstelle trifft man schon bei weniger als 1 m auf Steinschichten, die das Wasser nicht durchsickern lassen, und weiter oben, also nach Südwest, im Wadi Denne und auch im Wadi Haba, besonders im letzteren in Hazm al-Dammag, haben die Brunnen kaum 11 m Tiefe. Hingegen variiert der Wasserspiegel sämtlicher Brunnen bei Marib, das nur 1 1/2 Stunden vom Damm flußabwärts liegt, schon zwischen den bedeutenden Tiefen von 45 und 49 m. Nördlich von Marib, im Wadi es-Silla, also gegen die nördlichen Grenzhügel der Ebene, fand ich einen alten sabäischen Brunnen, dessen Wasser nur zirka 15 m unter der Erdoberfläche war. Es scheint also, daß die Ebene von Marib ein großes Steinbecken darstellt, welches im Laufe der Jahrtausende durch den Dennestrom mit Schlamm ausgefüllt wurde. Da es infolge der großen Tiefe nur äußerst wenige Brunnen gibt - sie stammen alle mit vielleicht einer einzigen Ausnahme aus sabäischer Zeit -, so wäre die regenarme Gegend trotz ihres ausgezeichneten Erdreiches zu ewiger Unfruchtbarkeit verurteilt, wenn nicht der Dennefluß besonders während der Gebirgsregen, also im Frühling und im Spätsommer, seine Wassermassen über die Ebene ergösse. In alter Zeit, da die Grundwasserverhältnisse, wie aus den Brunnenmauern hervorgeht, genau dieselben waren wie heutzutage, sah man indessen die Unzulänglichkeit der natürlichen Bewässerung durch den Dennestrom ein und erkannte nur zu gut, daß das kostbare Naß, der unterirdischen Steinschicht folgend, nutzlos in schier unermeßliche Tiefen sickert, und baute deshalb an der geeignetsten Stelle den seither berühmt gebliebenen Damm, von welchem aus man die ganze Ebene durch wohlzementierte Leitungsgräben künstlich bewässerte.
Dieser Damm ist kaum ein Jahrhundert vor dem Islam, etwa vor der Mitte des 6. Jahrhunderts nach Christus, zum letzten Male von den Fluten durchbrochen worden. Allein so lange er bestand, konnte es in Arabien und wohl auch in anderen Ländern kein fruchtbareres Gebiet geben als die Ebene von Marib, und ich finde es vollkommen begreiflich, daß eine Stadt von mindestens hunderttausend Einwohnern hier blühen und gedeihen konnte. Nichts ist deshalb zutreffender als die kurze Beschreibung, welche der Prophet in der 34. Sure des Korans von Saba (Marib) gibt: »Wahrlich, die Sabäer hatten in ihren Wohnsitzen ein (himmlisches) Zeichen, zwei Gärten, von rechts und links (vom Dennefluß). (Gott sagte zu ihnen:) Esset von der Gabe eures Herrn und danket ihm; es (Marib und Umgegend) ist ein beldatum tajjibatun und verzeihend (ist) der Herr.« Man übersetze nun beldatum tajjibatun als »ein gutes (gesegnetes) Städtchen« oder »ein gutes Ländchen«, in beiden Fällen stimmt es mit der Wirklichkeit überein; denn auch heute noch lebt der ackerbauende Teil der Bevölkerung von Marib, ohne zu pflügen, zu eggen oder zu düngen. Bei meiner Ankunft in Marib sah ich die Leute, wie sie einfach in das ins Feld geleitete Wasser die winzig kleinen Tahafkörnchen [Getreide] warfen und sich um weiter nichts kümmerten. Das Wasser sickerte nach und nach in den Boden, die tiefen Brunnen trübend, und die Tahafsaat sproß in herzerquickender Üppigkeit hervor. Vierzig Tage nach der Aussaat findet bereits die Ernte statt, und welche Ernte! Das 30- bis 40fache des ausgestreuten Samens gilt als schlechtes Ergebnis; denn bei günstiger Bewässerung liefert das Grundstück hundertfachen Ertrag. So ist es heutzutage, wo es allerdings, da die alten Leitungen fehlen, nur wenige Grundstücke gibt. Wie aber muß es in alten Tagen ausgesehen haben, als den Feldern das Wasser das ganze Jahr hindurch nach Bedarf und zum richtigen Zeitpunkt zugeführt werden konnte! Da muß das Land wirklich, wie es im Koran heißt, ein Garten, ein Paradies gewesen sein. Zudem muß bemerkt werden, daß das Mariber Brunnenwasser eines der angenehmsten und besten ist, das ich auf meinen Reisen im Jemen traf, und daß auch das Klima ganz im Gegensatz zu den Bergen und zur Tihama vortrefflich zu sein scheint. Während meines genau einmonatigen Aufenthaltes in Marib befanden wir, ich und meine gesamte Begleitung, uns ununterbrochen wohl, und im ganzen Dorfe gab es keinen Kranken. So ausgehungert manche Einwohner auch waren, so konnte man doch keinen Augenblick verkennen, daß man es mit einem kerngesunden Völklein zu tun hatte. Auf meine Frage nach endemischen oder epidemischen Krankheiten, wie besonders Fieber, erklärte man mir einstimmig, daß seit etwa 20 Jahren nichts dergleichen vorgekommen sei. Obwohl Marib am Rande der Wüste liegt, ist seine Atmosphäre bei weitem nicht so trocken wie die von Sanaa; hingegen ist die Temperatur eine weit höhere als auf dem Gebirge. Wenn man die Temperatur des Wassers in einem 47,5 m tiefen Brunnen noch annähernd als die mittlere Jahrestemperatur des Ortes betrachten darf, dann hat Marib eine Durchschnittswärme von + 26,1° C.
Das heutige Herrschaftsgebiet von Marib umfaßt das Dorf gleichen Namens und Ragwan oder Rugwan, einen kaum eine Tagesreise gegen Gauf hin gelegenen Weiler.
Marib, auf einem antiken Düngerhügel erbaut, ist von einer Mauer umgeben oder richtiger, die Randhäuser sind aneinander gebaut oder durch Zwischenmauern verbunden. Das Dorf hat nur zwei größere Tore, das eine gegen Westen, das andere nach Süden, und eine Anzahl kleiner Türen. Keines der durchwegs aus Holz gezimmerten Tore ist aber so fest wie etwa in einem europäischen Dorf eine alte Stalltür. Das Dorf ist im Inneren sehr reinlich, die Häuser, zumeist mehrere Stockwerke hoch, sind von rechteckigem Grundriß, nach oben sich wenig verjüngend. Fast alle Häuser haben nur unten einige Steinlagen; alles übrige besteht aus Lehm. Sehr bequem sind die Terrassen der Häuser, entsetzlich hingegen die Treppen. Emir Husein bewohnt mit seinem Bruder zwei solche Häuser, welche mit einem einstöckigen, aber ganz aus Quadersteinen gebauten Husn eine Art gut ummauerter Festung bilden.
Außer Marib und Ragwan gehört nach den Angaben des Emirs zu seinem Lande alles, übrigens weder bewohnte noch bebaute, sondern von beliebigen Beduinen unsicher gemachte Gebiete rings um Marib herum, besonders von Nordwest über West bis nach Süden beinahe überall hin eine Tagesreise.
Der Sonntag (25. März) galt der Durchforschung des sogenannten Haram Bilqis, eines großen elliptischen Tempelbaues, 5 Minuten Weges südöstlich vom heutigen Dorfe, und zwar zwischen dem Wadi Denne und dem Wadi el-Feleg (Wadi el-Mesil) gelegen, gegen Medinat en-Nahas hin, welche ganz verschüttete Ruine aber schon jenseits des Wadi el-Mesil fegt.
In Begleitung der beiden Fürstenbrüder Husein und Mohammad, des Kadi Tabit, dem ich Unterricht in der Wissenschaft der sabäischen Buchstaben - er ist jetzt der einzige Einwohner der sabäischen Hauptstadt, der nun wieder sabäisch liest - erteilt hatte, des Sejjid Mohammad, einiger anderer Sherife, meines Dieners Salih el-Gofi und zweier Sklaven Seiner Hoheit brach ich zeitig morgens auf.
Nach Überschreitung des Wadi Denne erreichten wir nach etwa dreiviertel Stunden das Haram, ein großes ellipsenförmiges Gebäude, dessen Längsachse sich entgegen den Angaben Arnauds nicht von Osten nach Westen, sondern genau von Nordwest nach Südost erstreckt, also ziemlich senkrecht zur Richtung des Wadi Denne. Die Längsachse im inneren Raume beträgt 110 meiner Schritte oder annähernd 80 m. Da die Dicke der Mauer 3,3 m mißt, so haben wir für die Länge der großen Achse der äußeren Umfassungsellipse 80 + 6,6 = 86,6 m anzusetzen. Die kleine Achse, von Nordost nach Südwest verlaufend, hat die beiden Dimensionen (innere Ellipse und äußere Ellipse) von 93 Schritt = 70 m und 76,6 m. Es ist also auch in dieser Beziehung die Angabe Arnauds, der die kleine Achse weniger als den dritten Teil der großen betragen läßt, unrichtig. Hingegen ist seine Angabe über den Umfang des Gebäudes (300 Schritt) ziemlich genau. Arnaud ist ferner im Unrecht, wenn er behauptet, daß an den Endpunkten der kleinen Achse, selbst der irrigen Arnauds, zwei Tore angebracht waren. Es gab in der Tat zwei Tore, jedoch bloß eines befand sich am Nordostende der kleinen Achse, und zwar war das das Haupttor, während das zweite, kleinere, an der Nordwestseite des Gebäudes den Endpunkt der großen Achse bildete. Ich hatte jedoch den Eindruck, als wäre dieses kleine Tor genau nach der alten Stadt Marib gerichtet, also ein wenig gegen Nordnordwest.
Vom Mittelpunkte des Gebäudes genau nach Nordosten stehen vier Säulen (Monolithe) in der Mauerellipse selbst. Es waren aber hier noch mehr Säulen vorhanden, so daß das Haupttor eine Art Säuleneingang bildete. Genau nordöstlich von dem Haupttore, 32 Schritte von demselben entfernt, sieht man andere acht Säulen, die gleichfalls in einer von Südost nach Nordwest verlaufenden Linie aufgestellt sind. Diese Säulen sind prismatisch vierkantig, glatt, 4 bis 5 m hoch und haben kein Kapitell. Sie sind oben aber auch nicht eben abgeschnitten, sondern in der Mitte der obersten Fläche jeder Säule zeigt sich eine kleine würfelförmige Fortsetzung des Monolithen von kaum 10 cm Seitenlänge. Das beweist, daß auf den Säulen entweder freie Kapitelle oder irgendeine andere Konstruktion, vielleicht ähnlich den Triumphpforten ein einfaches Steindachs, aufgesetzt war.
Genau im Nordosten vom Haram, zirka 3 km (oder mehr) entfernt, also in der Verlängerung der kleinen Achse des Haram, befindet sich das sogenannte Mikrab, heute nichts weiter als ein Hügel mit Ruinen. Mikrab bedeutet im Gauf noch heute Tempel, so besonders bei Ma'in, wo die Hauptruine El-Mikrab heißt. Diese Anordnung beider Gebäude genau in der Richtung nach Nordosten läßt uns auf irgendeinen Zusammenhang ihrer Bestimmung schließen. Auffallend ist auch die Richtung der kleinen Achse, welche parallel mit dem segenspendenden Dennefluß verläuft. Sollte bei beiden Bauten, beim Haram und beim Mikrab, die Richtung des Denneflusses von Einfluß gewesen sein? Das Haram scheint überhaupt nach irgendeinem Tempel innerhalb der alten Stadt einerseits (kleines Tor) und nach dem Mikrab oder mit diesem nach dem Flußlaufe orientiert gewesen zu sein; denn an der Südseite der alten Stadtmauer sieht man noch heute den Rest einer Brücke, welche ziemlich genau in der Richtung des Haram gebaut war und nach der Tradition der Einwohner von Marib bis zum Haram gereicht haben soll. Dieses letztere ist nun sicher übertrieben, aber die Annahme, daß die Alten über den Dennefluß eine Brücke geschlagen hätten, scheint mir durchaus nicht gezwungen; denn bei starkem Regenfalle in den Bergen war der Damm sicher niemals imstande, die herabströmenden Fluten zurückzuhalten, und ein Teil derselben ergoß sich demgemäß in das Flußbett. Die Fortsetzung der Brücke bis zu dem von den alten Sabäern zu staatlich-gottesdienstlichen Zwecken häufig besuchten Haram mochte mit Rücksicht auf die oft künstlich unter Wasser gesetzten Saatfelder immerhin durch einen Erddamm gebildet gewesen sein, von dem aber keine Spur mehr vorhanden ist.
Auf der Südsüdostseite des Haram, knapp außerhalb der Mauer, stehen vier kleine Säulen (Monolithe), im Grundrisse ihrer Aufstellung an kleines Quadrat bildend, dessen Seiten von West nach Ost und von Süd nach Nord gerichtet sind. Bei dieser Säulengruppe hat die Mauer des Haram keine Öffnung. Gleichwohl scheint die Gruppe nicht ohne Rücksicht auf das kleine Tor des Haram, dem sie fast genau gegenüberliegt, hierher gestellt worden zu sein. Die Säulen sind leider nur Fragmente, und keine Inschrift gibt über ihre Bedeutung Auskunft.
Die Mauer des Haram, die, wie bereits bemerkt, 3,3 m breit ist, besteht durchwegs aus schönen, regelmäßig zugesägten Quadersteinen, welche an der am meisten freiliegenden Ostseite vom Fußboden bis zum Fries 31 aufeinanderfolgende Reihen bilden, die um das ganze Gebäude vollkommen horizontal herumlaufen. 5,5 solcher Steinreihen entsprechen meiner Körperlänge (1,69 m), die Höhe der Mauer beträgt daher ziemlich genau 9,5 m. Das Fries ist an manchen Stellen, besonders an der Ostseite, vollkommen intakt und läßt sehr deutlich erkennen, daß das Gebäude keinerlei Bedachung hatte, was auch schon aus dem Fehlen von Fensteröffnungen in der Mauer erschlossen werden könnte. Der innere Raum des Gebäudes scheint niemals vollständig geebnet gewesen zu sein; denn ziemlich in der Mitte ragt ein natürlicher Felsen hervor. Leider liegen im Innern die Mauern fast nirgends frei; doch auch da, wo es keinen Sand gab, konnte ich nichts finden, was uns irgendeine spezielle Aufklärung zu bieten vermochte. Auch Mauerklammern, die ich vermutete, konnte ich nicht entdecken. Hingegen liefern uns die großartigen Inskriptionen an der Außenseite der Mauer sowohl über die Erbauer als auch über den Zweck des Haram Bilqis, eines Tempels des Gottes Almakah, vollen Aufschluß. Arnaud hat nur drei der Inschriften kopieren können, und auch diese hat er nicht alle vollständig kopiert. Zwei andere sah er wohl; allein der sie bedeckende Sand verhinderte ihn, Kopien zu nehmen. Seit Arnaud hat der Sand weitere Fortschritte gemacht.
Wenn ich auch alle Bücher in Sanaa zurückgelassen hatte, so war ich doch keinen Augenblick im Zweifel, wo die Inschriften zu suchen seien, da sie symmetrisch, und zwar in den vier Hauptweltrichtungen, angebracht sind. Zunächst ließ ich Fürst und Volk des heutigen Saba die große Inschrift vollständig bloßlegen, was nicht geringe Arbeit gab. Während ich diese zweizeilige Inschrift, welche an der Nordseite der Tempelmauer angebracht ist und westlich vom Tore beginnt, kopierte, legten meine Begleiter die Inschrift auf der Westseite, deren Emplacement ich ihnen angegeben hatte, und die untere Inschrift auf der Ostseite frei, und es gereicht mir zum Vergnügen, zu konstatieren, daß alle, Fürst, Richter, Edle und Sklaven, in der heißen Sonnenglut wacker ihre Schuldigkeit taten. Ich kopierte dann der Reihe nach weitere Inschriften.
Auf dem Rückwege nach Marib kopierte ich in der Nähe des Haram auf den zahlreichen kleinen Ruinen einige mit Rücksicht auf ihren Standort interessante Inschriften und kehrte erst in mein Absteigequartier zurück, nachdem ich auch im Dorfe selbst noch einige Texte gewonnen hatte. Es war überhaupt meine Regel, in freien Augenblicken im Dorfe selbst Nachforschungen anzustellen, da es hier an den Mauern, ja selbst im Innern der Häuser, Höfe, Stallungen und Magazine zahlreiche Inschriften gab. Ich glaube, daß ich sie alle ausgeschnüffelt habe.
Müller, D. H. von; Rhodokanakis, N. (Hg.)
Eduard Glasers nach Marib
Wien 1913
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Arabien, 25 v. Chr. bis 2000 n. Chr.
Wien 2002