1883 - Ernst Haffter
Zwischenaufenthalt in Aden
Jemen
Den 20. Juni morgens duchfuhren wir das klippenreiche Südende de Roten Meeres, das sich dort rasch zur Straße Bab el-Mandeb verengt. Herren dieser Straße sind natürlich – wie in Gibraltar – die Engländer. 1858 versetzten sie sich durch Handstreich in den Besitz der Insel Perim, die inmitten der Straße liegt und ein hübsches neues Fort sowie einen Leuchtturm trägt. Die Gefährlichkeit dieser Passage bei Nebel demonstrieren zwei unweit voneinander gestrandete Dampfer; der eine streckt traurig die kahlen Masten, einen verrosteten Kamin und das Hinterdeck über den Meeresspiegel empor; der andere liegt als Wrack fast ganz auf dem Trockenen. Unser Schiff änderte den Kurs und fuhr direkt nach Osten, um abends um halb sechs Uhr auf der Reede von Aden anzulangen. Es waren wieder die Engländer, die früher als alle anderen Mächte die Bedeutung des Punktes Aden für die Schiffahrt nach Indien erkannten und sich schon 1839 in den Besitz dieses Terrains setzten, um dort ein Kohlendepot zu haben. Eine weitere große Bedeutung gewinnt der Platz dadurch, daß aller Kaffee des benachbarten Mokka hier in den Handel und zu Schiff kommt.
Die Bucht von Aden ist rings von mächtig hohen, grauschwarzen Felsen eingerahmt, die allen und jeden Grüns entbehren. Die Verwitterungsprodukte dieser Felsen und der angeschwemmte Meersand haben ein Terrain geschaffen, das die halb arabische, halb europäische Hafenstadt trägt. Sie präsentiert sich, vom Meer eher gesehen, gar nicht übel; denn die englischen Kasernen, Verwaltungsbaulichkeiten und Spitäler sowie einige Hotels sind große, blendend weiße Bauten mit mächtigen Kolonnaden, die sich von dem grauschwarzen Hintergrund hübsch abheben. Aber das Auge vermißt eben schmerzlich das wohltätige Grün. Feuerrohre größten Kalibers schauen drohend nach allen Richtungen der Windrose; starke Festungsmauern erklimmen im Zickzack die höchsten Felsen und schließen das englische Besitztum gegen Arabien ab. Da, wo eine zwischen die Felsen gesprengte Straße ins Innere des Landes und vorerst in die zirka eine Stunde vom Meer entfernte arabische Stadt Aden führt, ist ein stolzes Fort in die Mauern eingeschaltet und jeder Passant hat im Hofraum der Festung zwischen den Augen englischer Wachtposten Spießruten zu laufen. So ist eine Gefährdung des englischen Hafenplatzes von seiten der Araber eine absolute Unmöglichkeit.
Kaum lag unser Schiff still, so kam auf ausgehöhlten Baumstämmen eine Menge nackter braunroter Jungen hergefahren, die ihr primitives Fahrzeug vermittelst eines kleinen, abwechselnd von der einen Hand in die andere wandernden Ruders mit erstaunlicher Schnelligkeit vorwärts trieben. Die Wellen schlugen über den kleinen Meerfahrern zusammen, aber im Nu war das eingedrungene Wasser mit den Händen wieder ausgeschöpft. Die munteren, lebhaft gestikulierenden und immerfort schreienden kleinen Teufel befanden sich offenbar in ihrem gewohnten Element und tauchten mit fabelhafter Sicherheit nach Geldstücken, die ins Meer geworfen wurden. Oft schossen sechs bis acht gleichzeitig nach demselben dunklen Punkt in die blaue Flut und man konnte deutlich mit den Augen verfolgen, wie sich die braunen Leiber in einer Tiefe von fünf bis zehn Fuß herumbalgten, um dann endlich pustend und schnaubend wieder zum Vorschein zu kommen, der eine als Sieger das Geldstück im Mund zeigend. Am meisten Bewunderung erregte ein zirka sechsjähriger Junge, der sein linkes Bein in der Höhe der Hüfte durch einen Haifisch verloren hatte, aber mit seinem einzigen Bein gewandter zu tauchen und zu schwimmen verstand als alle anderen. In rhythmischem Zusammenklang riefen sie unermüdlich im Chor "A la mer! Oho! A la mer!" und so weiter, bis ein heruntergeworfenes Geldstück dem Gekreisch plötzlich ein Ende machte, gleichwie ein fallender Stein dem ohrenzerreißenden Gequake einer Legion von Fröschen.
An Land bestiegen wir einen der sich uns aufdrängenden Wagen, ein lotteriges, gebrechliches Vehikel, gezogen von einer Schindmähre, deren einzige und höchste Leistung bergauf und bergab ein äußerst gutmütiger Galopp war, und geführt von einem Araber, der hinter grinsendem Lachen eine rechtes Spitzbubengesicht verbarg.
Wir fuhren bei eintretender Dämmerung nach Arabisch-Aden. Die staubige Straße führt zuerst an gewaltigen Steinkohlendepots vorbei, dann in großen Windungen hinauf zur Höhe des Forts, passiert die Tore, die von einem englischen Soldaten geöffnet werden, und ist dann zirka 80 m tief in die Felsen gesprengt, so daß sie eine gewaltige, glühend heiße Hohlschlucht bildet. Die senkrecht emporsteigenden Wände sind oben durch eine nur von der Festung aus zugängliche Brücke verbunden. Nachher fällt die Straße rasch abwärts und senkt sich zu dem Tal, in dem Arabisch-Aden steht. Nirgends ein Gräslein, nirgends ein Tropfen Wasser, keine Spur von Vegetation auf der ganzen Route. Es begegnen uns beladene Kamele, Araber, zu Fuß oder auf kleinem Esel trabend, verhüllte Weiber, zudringliche Straußenfedernverkäufer, türkische Soldaten, Beduinen, Neger mit wassergefüllten Ziegenfellschläuchen beladen, und so weiter.
Bei Nacht kamen wir in der arabischen Stadt an (zirka 25.000 Einwohner) und hielten auf dem Marktplatz, wo eine zahllose Menge von schreienden Käufern und Verkäufern, Faulenzern und Buben durcheinander wogte. Bald waren wir umringt von einer Schar jener Blutsauger, die uns dann auch überall hin nachfolgten, sich gegenseitig in Betrügereien und Überforderungen unterstützten und am Ende aller Enden, wenn sie nicht ausrichteten, Stück für Stück schreiend und schimpfend zurückblieben. Immerhin war es noch ein nettes Häufchen, das uns beim Eintritt in ein arabisches Café begleitete und uns erst mit zudringlichen Liebenswürdigkeiten und – als nichts klingenderes dabei herauskam – mit der Kehrseite traktierte. Der brave Kutscher, mit dem ich ein Fahrgeld von zwei Dollars abgemacht hatte, benutzte die Gelegenheit, zu erklären, daß wir drei Dollars zahlen müßten. Belehrt durch früher in Algier gemachte Erfahrungen sagte ich ohne weiteres zu, um Skandal zu vermeiden und um ja zur Zeit wieder in Aden-Hafen zu sein; den eine halbe Stunde Verzögerung könnte uns in die fatale Lage versetzen, die Nacht hier zubringen zu müssen, da die Festungspassage von 9 Uhr abends an unerbittlich geschlossen bleibt. Nach der Ankunft an unserem Bestimmungsort bezahlte ich dann die kontraktgemäßen zwei Dollars, wechselte dabei mit dem wackeren Rosselenker einige Artigkeiten und lud den Schimpfenden ein, mit auf die Polizei zukommen, was er aber unterließ. Übrigens war die Rückfahrt wunderschön; der Mond war unterdessen am Himmel aufgegangen und stand, als wir die Festung passiert hatten, gerade in der Lichtung des felsigen Hohlweges und beleuchtete die zu unseren Füßen liegende Bucht von Aden, die weiße Brandung des Meeres, die geisterhaften Formen der dunklen Felsen, die das ganze Bild einrahmten.
In der Nähe von Arabisch-Aden befinden sich, in Felsen eingehauen, die sogenannten Tanks, kolossale, schon von den Römern erstellte, von den Engländern restaurierte und zementierte Wasserreservoirs, die terrassenförmig übereinander angebracht sind. Regen fällt in Aden nur alle vier bis sechs Jahre einmal, dann aber in so kolossaler Menge, daß die Wasserbehälter sehr bald gefüllt sind und nun jahrelang für Tausende von Menschen und Vieh das zum Leben so wichtige Naß liefern können. Von morgens früh bis zum Untergang der Sonne erschienen am Ausfluß dieser Tanks Karawanen von arabischen Lastträgern, die das Wasser in Ziegenschläuche füllten und nach Hause trugen. Es ist ein großartiger Triumph menschlicher Kraft, daß auf einem Boden mit lauter lebensfeindlichen Verhältnissen eine jetzt sogar in starkem Wachstum begriffene Stadt sich entwickeln konnte.
Die Getränke werden in Aden von Europäern alle mit Eis genossen, das in gewaltigen Eismaschinen hergestellt wird und sehr billig ist.
Im British Indian Hotel war ein großartiges Konzert angekündigt; in Wahrheit spielte ein mehr als mittelmäßiges, aus österreichisch-böhmischen Musikern beider Geschlechter bestehendes Orchester in einem schwülen und unreinlich gehaltenen Saal ein miserables Programm herunter, wofür per Person drei Franken bezahlt werden mußten. Im langsamsten Adagio erklang aus dem Mund einer in Schweiß gebadeten Sängerin das Gumbertsche "O bitt Euch, liebe Vögelein". Dazu wurde geseufzt, gegähnt, geschwitzt, schlechtes Bier für 2 1/2 Franken die Flasche probiert, dann Sodawasser, und endlich auf unserem wenigstens straßenstaubfreien Schiffsverdeck Schutz vor Hitze und Moskitos und anderen Musikanten gesucht, aber nicht gefunden. Wir waren herzlich froh, als sich des anderen Morgens um 8 Uhr unser Dampfer wieder in Bewegung setzte, und schieden ohne alles Bedauern von Aden, dieser Stadt in der Wüste, und hatten erfahren, daß der Mensch mit seiner Kunst und mit seiner Kraft allein wenig Schönes zustande bringt, wenn nicht die herrliche Baumeisterin Natur mithilft und ihre grünen Farben aufträgt.
Haffter, Ernst
Briefe aus dem Fernen Osten
5. Auflage, Frauenfeld 1898
Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Arabien, 25 v. Chr. bis 2000 n. Chr.
Wien 2002